Schon wieder ein Jahr her. Genau heute vor einem Jahr war ich in der Wiener Secession. Unvergesslich. Nicht nur das eingemeißelte Credo "Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit."
Es ist sehr bewölkt heute in Berlin. Der Wetterbericht gestern meinte nur "leicht", aber eine Wettervorhersage ist nur eine Wahrscheinlichkeits-Prognose. Manchmal wird ja auch Düsteres vorhergesagt und auf einmal kommt die Sonne doch. Es gibt Überraschungen in beide Richtungen. Ich wollte ursprünglich, wäre es nur leicht bewölkt gewesen, einen Ausflug zur Liebermann-Villa am Wannsee machen. Aber man muss im Leben manchmal auf geänderte Gegebenheiten reagieren. Will man stur einen Plan abarbeiten, läuft man Gefahr, mit weiteren Unannehmlichkeiten konfrontiert zu werden, weil man stur an der Umsetzung einer Sache festhält, deren Zeitpunkt nicht ideal ist. Also ich bleibe hier drin und hoffe auf die Sonne morgen. So konnte ich in Ruhe ein bißchen hier und da gucken und lesen, zum Beispiel auch bei Arboretum, die vor sechs Jahren die Villa und den Garten besucht hat und man unterhält sich ein bißchen am Computer. Dann überlege ich auch, ein bißchen die drei externen Festplatten aufzuräumen, ein paar Dateiordner zu verschieben, anders zu ordnen. Fotografien doppelt, für wen oder was auch immer. Dann fällt mir ein, dass ich noch einen einzigen Beitrag in meinem Blog hier auf "offline" habe, also einen Entwurf - normalerweise habe ich keine Textentwürfe - ich habe manchmal ein paar wenige Tage schon ein paar Fotos für einen Eintrag mit dem Einbettungscode in einem Beitrag offline, aber am Ende, der Text, wird nicht über Tage entworfen und dann erst gepostet. Ich schreibe direkt ins Blogeintragsfenster und gucke nach Rechtschreibfehlern quer, das wars und ab die Post. Aber dieser eine Eintrag, der tatsächlich Text enthält, bereitet mir tatsächlich Entscheidungsschwierigkeiten, ob ich den Quatsch (denn das ist er, geträumter) allen Ernstes noch verarbeiten soll oder einfach löschen. Ich finde den Inhalt ein bißchen peinlich, weil er den Eindruck vermitteln könnte, meine Traum-Denkweise ließe einen Rückschluss auf mein tatsächliches Denken zu. Das möchte ich möglichst ausschließen. Schwierig! Andererseits finde ich den Inhalt sehr plastisch und Widersprüchlichkeiten zwischen Traum- und Wachpsyche sind auch irgendwie interessant. Es war ungefähr am siebten April, schon über einen Monat her, dass ich am Tag nach dem Traum nur ganz kurze Stichworte vermerken wollte, weil ich sehr stark dazu neige, Träume sofort komplett zu vergessen, auch wenn ich eine Stunde nach dem Aufwachen noch eine plastische Erinnerung hatte. Ich war mir so unschlüssig, ob es sich lohnt, das aufzuschreiben, dass ich einfach nur stichpunktartig - für alle Fälle - die folgende Notiz machte:
meesetraum
Stoffsammlung: Traum Jonathan Meese kleines, dunkles Zimmer - bei ihm, er malt, kritzelt, wirft auf den Boden, ich möchte Signatur, weil ich dann ausgesorgt hätte, und machen könnte, was ich will, (wir trinken Bordeaux, Lafite Rothschild, aus einer Holzkiste*) er reagiert überhaupt nicht, ich finde ihn ignorant und geizig, er kritzelt auf Art Flip Chart, verdeckt, gibt mir Blatt Papier mit Skizze, strahlt mich an, die Skizze zeigt, dass ich sein erotisches Idol bin, es handelt sich um eine Art Liebeserklärung, ich denke darüber nach, ob es nicht schlau wäre, ein Kind von ihm zu kriegen, das hätte dann auch ausgesorgt. Finde ihn aber nicht so erotisch wie er mich. Er bietet Sekt an, ich fürchte, mir nicht trocken genug, lasse ihn erklären, was für einen genau, er zeigt sich fachmännisch, spricht von Flaschengärung. Hätte ich gar nicht gedacht, dass er sich da auskennt.. Dann Flucht, ich mit jemandem anderen auf den Gängen des Gebäudes. Creezykommt auch vor, ich frage sie, ob sie noch die Frau B. K. kennt, erinnert, ja natürlich - wieso? weiß nicht mehr... die könnte irgendetwas bestimmtes - - - was war das noch? Singen?
Also gut, nun habe ich es doch gepostet, aber ohne Ausschmückung und weitere Verarbeitung und Erörterung. Hätte ich einen Blogeintrag daraus gemacht, mit vollständigen Sätzen und weiteren Erläuterungen, hätte ich wohl auch einleitend erwähnt, dass er bei mir um die Ecke wohnt, also in einer sehr kleinen Parallelstraße zu meiner, und mir deswegen schon hin und wieder über den Weg gelaufen ist, wo er auch immer sehr nett guckt, also ich kann nichts Schlechtes berichten. Aber diese Sache mit dem "dann hätte ich ausgesorgt" und dann auch noch der Gedanke, eventuell ein Kind mit ihm zu kriegen - also das geht ja gar nicht. Zu allem Überfluss stand er ungefähr zwei Tage später auf demselben S-Bahnsteig wie ich und wartete ebenfalls auf eine sehr verspätete S-Bahn. Es war eine Zeit, wo ich normalerweise nicht unterwegs bin, so kurz vor elf Uhr vormittags glaube ich, und da waren wenige andere Leute die warteten, man musste fast schon zwangsläufig registrieren, wer da alles so wartet und dann fiel mir der peinliche Traum wieder ein und ich dachte - um Gottes Willen - bloß löschen, nicht posten - viel zu peinlich! Und dann konnte ich den Quatsch doch nicht löschen, warum auch immer. Wahrscheinlich meine Wahrheitsliebe. Vielleicht ist ja doch was dran. Tatsächlich amüsiert es mich schon auch, oder beschäftigt mich, dass ein sehr erfolgreicher bildender Künstler alleine mit einem beliebigen Gekritzel auf eine Serviette mit seiner Signatur ein geldwertes Objekt als solches definieren kann. Die reinste Zauberei. Aber da muss man erstmal hinkommen. Für meine Begriffe hat er im Bereich der Malerei (ich betone: der Malerei) jeden Erfolg verdient. Ich bin da (fast gar) nicht neidisch. Aber dass ich im Traum auf die Idee komme, ich könnte davon profitieren, indem ich mich ihm hingebe - was ich ja übrigens - muss ich zu meiner Ehrenrettung hinzufügen - nicht gemacht habe! Ich habe selbst im Traum damit gehadert, das weiß ich noch. Und mich ja letzten Endes aus Gewissensgründen dagegen entschieden, denn es gab ja keine entsprechende Konsequenz. Also bei der Erklärung zur Flaschengärung brach die Szene dann ja ab und ich irrte mit jemand anderem durch diese hotelartigen Räumlichkeiten bis zum völlig anders gearteten Szenario. Wie auch immer - ein Einblick in einen nächtlichen Abgrund. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jonathan Meese Blogs liest. Komisch, ich kann mir das allgemein bei bekannten Leuten immer nicht vorstellen - warum eigentlich? Also wenn er sich irgendwann selber googelt, kommt das hier als Suchergebnis bestimmt so dermaßen weit hinten, dass ihm längst die Lust vergangen ist, dahin zu blättern. Also eigentlich keine Gefahr. Kann ich es ja posten. Und wenn doch - ähm. Muss er mich halt bei der nächsten Zufalls-Begegnung darauf ansprechen.
Anfang letzer Woche, als auch die berühmte re:publica wieder vor der Tür stand, kriegte ich zufällig mit, dass man sich - mit dem Zusatz "TO WHOM IT MAY CONCERN" unter dem Motto "Steinzeitbloggertreffen" in einem Lokal treffen wollte. Ich wurde zwar nicht namentlich zum Kommen aufgefordert, aber als ich sah, dass auch Blogger damit angesprochen wurden, die nach mir damit angefangen hatten, und ich einige auch schon einmal in den letzten zehn Jahren getroffen hatte, und Bov dann auch noch twitterte, dass "auch Bronze- und Eiszeitpeople willkommen sind", hatte ich die Zuversicht, dass es sich um eine für Interessierte offen gehaltene Veranstaltung handeln könnte, wo man nicht das Gefühl haben müsste, sich einer Gruppe von Bloggern aufzudrängen, die lieber unter sich bleiben will. Das hat mir gut gepasst, weil ich gerne Zusammenkünfte mag, wo nicht von vorneherein zementiert ist, wer dabei ist. Ich hatte die Hoffnung, dass vielleicht jemand dabei wäre, den ich lese und noch nie getroffen habe. Auch Neugier auf alte Bekannte spielte eine Rolle, denn es waren schon wieder einige Jahre ins Land gegangen, wo ich den einen oder die andere persönlich getroffen habe. Als ich dann los bin, wusste ich nur sehr grob, dass sicher auf jeden Fall Bov und Ronsens da wären und elfengleich, die ich nicht kannte, nur vom Blognamen, weil die drei sich darum gekümmert hatten, die Einladung zu twittern und auf facebook zu verteilen. Ich habe ja keinen twitter account, aber gerade in der Zeit der re:publica, wo ich auch gedanklich immer mal damit spiele, hier oder da hinzugehen, zu vereinzelten Events vielleicht, wird ja in dem Ausmaß über twitter kommuniziert, wie es früher in den Blogs der Fall war. Meines Wissens gab es kein einziges Blog, in dem von dem Treffen die Rede war, sicher nicht aus Geheimniskrämerei, sondern weil es allen in Fleisch und Blut übergegangen ist, so etwas zu twittern oder über facebook zu verteilen. Ich wollte das auch nicht schreiben, weil ich mir zum einen nicht anmaßen wollte, mich als Nicht-Initiatorin in vielleicht unerwünschte Einladungsgesten zu versteigen, und zum anderen hatte ich den Eindruck, dass diejenigen, für die das relevant war und die außerdem in Berlin waren, ohnehin noch mehr Kontakte und Informationsflow als ich in dieser Hinsicht hatten. Es fand in einem mexikanischen Lokal in der Raumerstraße statt, im Girasol. Da war ich auch noch nie. Ich kam ungefähr um halbneun an, wo im hinteren Raum an einem längeren Tisch schon einige bekannte Gesichter waren. Man ist dann doch froh, wenn zwei, drei Leute da sind, die einen nach Jahren noch erinnern. Bei Wortschnittchen war das einigermaßen sicher gestellt, weil wir uns letztes Jahr bei der re:publica gesehen hatten. Dann konnte ich gegenüber noch Melle erkennen, ich weiß aber nicht, ob er mich erkannt hat. Und Bov erinnerte sich zum Glück noch, was mich beruhigt hat. Wir sind mal 2007 bei einem Bloggertreffen in einem Lokal namens Walden gewesen, an den Namen der Kneipe konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, aber Bov wusste es noch genau, und dass ich fotografiert hatte. Dafür erinnerte ich mich an ein sehr heikles Gesprächsthema von damals. Direkt mir gegenüber saß ein - darf man sagen - älterer Mann? Bei dem ich mir eine ganze Weile unsicher war, ob es sich um Don Dahlmann handeln könnte, den ich früher weiß Gott öfter getroffen habe, d. h. ich erinnere mich an seine Mimik und die Stimme usw. Der Mann mir gegenüber hatte schlohweißes Haar und auch so einen Bart wie Don, also wirklich einige Ähnlichkeit, aber als er dann zu sprechen anfing, beschloss ich, dass es jemand anders sein muss. Ich war auch ein bißchen beruhigt, weil er schon sehr viel älter aussah, als was dem ungefähren Alter von Don entsprechen müsste. Rechts von Bov saß ein anderer bärtiger Mann und nach einer ganzen Weile fiel mir ein, dass es sich um Praschl handeln müsste. Er sah für meine Begriffe auch nahezu unverändert aus, ich hatte ihn aber auch damals nie getroffen, kannte ihn nur von wenigen Fotos. Ah, der Praschl! Er hat mir auch bestätigt, dass er es ist, also keine Verwechslung. Links von dem vermeintlichen Don war elfengleich, die die Idee hatte und neben ihr Melle und dann ein Blogger, den ich überhaupt nicht kannte, ein ganz hübscher Blonder und neben ihm - was mich unheimlich gefreut hat - Mequito. Mek! Total unverändert. Und immer noch dieser wunderbare Südtiroler Akzent, nur ganz leicht. Ich war gleich wieder verliebt. Er hatte ein Ringelshirt und ein schwarzes Sakko darüber an und immer noch so schöne lange Wimpern. Weil er so hübsch anzusehen ist, habe ich mich noch viel weniger getraut, ihn zu fotografieren als die anderen. Ich war richtig gehemmt. Ich bin ohnehin schon gehemmt, eine private Gesellschaft mit dem Fotoapparat zu belästigen, denn so könnte man es bei dem weltweiten 24-Stunden overflow von instagram-Geknipse vom Aufstehen bis zum Schlafengehen schon empfinden. Ihm gegenüber saß Casino, Frau Casino, mit der ich vor sechs Jahren und gemeinsam mit Mek einmal einen schönen Abend verbracht habe. Als erstes ist mir eingefallen, dass wir beide derselbe Jahrgang sind und dieses Jahr Fünfzig werden. Mir war, als hätten wir uns erst letzte Woche getroffen, das war auch sehr schön. Manche hatten Essen bestellt, das kam aber alles so nach und nach, Wortschnittchen war noch dabei, ihren Teller leer zu essen, ich habe inzwischen ein Jever bestellt und ein Rumpsteak mit Ofenkartoffeln und Gemüse. Ziemlich gleichzeitig mit meinem Essen kam zu meiner Freude eine weitere Bloggerin, die ich von früher kannte und auch immer noch fleißig lese, Modeste. Sie hatte ein wahnsinnig elegantes graues Kleid an, mit so Viertelärmeln, ja eine Art Etuikleid mit kurzen Ärmeln aus einem ganz edlen Stoff. Sie war schon immer eine der elegantesten Bloggerinnen, da gibt es nichts zu diskutieren. Ihre ebenfalls sehr elegante Handtasche, so eine Art Kelly Bag - oder war es womöglich sogar eine - stellte sie auf einen der Stühle und da fiel mir ein, dass sie eigentlich doch eine Super-Zielgruppe für so einen Handtaschenhalter wäre, wie ich ihn neulich aus reiner Kauflust gekauft habe. Die Königin von England hat auch so ein Ding. Man klemmt den Haken an die Tischplatte, wenn man Essen geht und hängt die Tasche dran. Jetzt muss ich nur noch öfter essen gehen, damit sich das Ding amortisiert. Ich fürchte, ich habe nur so lange ich mein Steak mit dem Berg Kartoffeln verputzt habe, den Mund gehalten. Ein Bier nach dem anderen habe ich mir bestellt, es hat mir wirklich geschmeckt und dann war ich irgendwann so angetrunken, dass ich ohne Punkt und Komma Zeug erzählt habe, ich hoffe, die anderen waren nicht zu genervt, vor allem Wortschnittchen und Modeste mussten eventuell darunter leiden. Es ging von Klatsch und Tratsch über andere Blogger und re:publica-Hype, über Botox, Judy Winter & Peter Zadek, bis Treffen früherer Liebhaber (u. deren Lebensgefährtinnen), Versöhnung, Erbrecht und Testament.
Durch die Trunkenheit ermutigt, habe ich dann doch einmal die Kamera angemacht und irgendwie herumgeknipst, aber doch sehr verhalten. Inzwischen war noch Jens Scholz gekommen, der kam direkt von der re:publica und hatte auch einiges zu erzählen. Er wird auch nicht älter! Überhaupt kann man sagen: Bloggen scheint jung zu halten. Ronsens saß mal hier und mal da und zweimal war er vor meinem Objektiv. Ich habe wirklich gehofft, dass die wenigen Bilder irgendwie historisch interessant sein könnten. Aber man kann sich irren, besonders wenn man im fortgeschrittenen Zustand der Trunkenheit die Fähigkeit überschätzt, die Kamera richtig einzustellen und ruhig zu halten. Nach und nach mussten dann einige wieder aufbrechen, es war ja auch schon nach Mitternacht und der harte Kern wurde auch vom Service-Personal freundlich gebeten, langsam zum Ende zu kommen. Ich habe den Rest bezahlt, was noch offen war, es war mir auch schon wurscht und unter der Laterne vor der Tür haben sich die letzten Mohikaner, Bov und Ronsens und Casino und ich verabschiedet. Frau Casino und ich sind dann noch zu ihr um die Ecke, um den Hund für ein Gassi abzuholen und sie hat mich Richtung Taxi-Stand begleitet und ich habe bestimmt noch mehr unsinniges Zeug geplappert, aber mir ist es lustig vorgekommen. Ich hoffe, ihr auch ein bißchen.
Daheim habe ich dann noch die Bilder von der Kamera geladen und war völlig perplex, dass ich so einen Schrott fotografiert habe. Das sind so ungefähr die schlechtesten, unbrauchbarsten Bilder, die ich in den letzten zehn Jahren fabriziert habe. Ein paar von dem Schrott habe ich aber zum steten Gedenken aufgehoben und in die Strecke genommen, als Mahnmal. Und ein bißchen auch als quasi künstlerisch interpretierbares Dokument materialisierter Trunkenheit. Während ich das schreibe, fällt mir ein, dass es mit Sicherheit der einzige Erlebnisbericht von diesem Bloggertreffen ist. Früher hätten alle ein, zwei Tage danach feinsäuberlich berichtet, dass man sich getroffen hat, und alle Namen schön verlinkt. Aber heute sind die Zeiten nun einmal anders. Nur Ronsens hat einen kleinen Tweet dazu geschrieben: "Steinzeitbloggers are nice bloggers (um nicht zu sagen the nicest)". Es waren auch noch ein oder zwei andere Blogger/innen da, die ich leider namentlich nicht parat habe, das tut mir leid. Jedenfalls war es wieder einmal schön und interessant, nach längerer Zeit aufeinanderzutreffen. Viele haben wir auch vermisst, aber die hatten auch mitgeteilt, dass sie verhindert waren, es war ja auch eine superkurzfristige Idee, nur zwei Tage vor dem Treffen geboren. Felix zum Beispiel wollte ursprünglich mit seiner Frau Katia kommen, aber er hatte dann wohl Torschlusspanik, weil er seine re:publica-Rede noch überhaupt nicht vorbereitet hatte und deswegen Schularbeiten machen musste. Da hat man natürlich Verständnis. Obwohl er so ein begnadeter Vortragskünstler ist, dass er wahrscheinlich auch bei kompletter Improvisation - aber das ist ein anderes Thema. Wortschnittchen hat etwas dazu geschrieben, warum sie nicht zur re:publica in diesem Jahr gegangen ist. Manches davon kann ich sehr gut verstehen, einiges. Das habe ich ja auch in dem Kommentar darunter geschrieben. Jedenfalls wollte ich meine lieben Leserinnen und Leser irgendwie daran teilhaben lassen, dass wieder einmal so eine Art Mini-Blogmich war und ich auch dabeisein durfte. Es war nicht die Sensationsparty des Jahres, wie man ja auch einfach mal so, dreist, in Blogger-Übertreibungs-Tradition, behaupten könnte, weil ja die Daheimgebliebenen es nicht widerlegen können. Aber mir gehen solche Übertreibungen gegen den Strich, man braucht auch noch ein bißchen Luft nach oben, sonst gehen einem die Superlative aus, wenn sie dann einmal angemessen sind. Aber ein sehr angenehmer Abend mit sehr geistreichen Bloggern war es. Und als solchen wollte ich ihn hiermit einfach festgehalten haben.
Vierter März 2015, Mittwoch. Peter Lindbergh bei CO. Ich bin hin, weil ich etwas verifizieren wollte. Ob wir auf einer Wellenlänge sind. Das mit dem Signieren war nur ein Vorwand, der mir ganz recht war. Ich hatte nichts zum Signieren, so kaufte ich eines der Bücher, den soeben erschienenen neuen Bildband Images of Women II, 2005 - 2014. Nicht, weil ich ihn unbedingt besitzen wollte, sondern um nicht mit leeren Händen dazustehen, ein einfaches Blatt Papier oder eine Serviette wäre mir zu schäbig gewesen. Und jedes gekaufte Buch ist ja ein unwiderlegbares Kompliment. Er hätte ein bißchen zu tun und währenddessen macht man ein bißchen Konversation. Viele Menschen waren da. Sehr viele. Um nicht zu sagen: sehr, sehr viele. Und das bedeutete: sehr viel Warten. Ich hatte das Buch noch nicht und überlegte, ob mir die kurze Begegnung die Warterei wert wäre, schaute ein bißchen durch die übrigen Bildbände und ließ meinen Blick über das Publikum schweifen. Viele attraktive, eher jüngere Menschen zwischen zwanzig und Mitte dreißig, die oft mehr als ein Buch zum Signieren mitgebracht hatten. Nun war ich schon einmal da und etwas Besseres hatte ich auch nicht vor. Ich kaufte mir das neue Buch und suchte das Ende der Schlange, die sich wie eine Schnecke bis in die Büchernische wand, wo das große Panoramafenster ist, von dem aus man direkt auf den Bahnhof Zoo schauen kann. In derselben Ecke wo ich nun war, stand zufällig Jim Rakete rum und unterhielt sich mit einem älteren Herrn, der etwas Lustiges an sich hatte. Den Mann hatte ich noch nie gesehen, mir fiel seine elegante Kleidung auf und dass er nicht den Eindruck machte, anzustehen. Genauso wenig wie Jim Rakete.
Das wäre ja auch zu lustig gewesen. Ich wurde neugierig und fand, dass ich für die Warterei zumindest eine interessante Ecke erwischt hatte. Der lustige Mann richtete nun die Frage an mich, ob ich wüsste, was der Unterschied zwischen der Bibel und Aldi sei? "Nein", pariere ich artig, "nämlich?" Antwort: "In der Bibel steht die Schlange am Anfang." "Hm. ja." Ich lächelte milde. In der Hand hatte er einen ganz kleinen Bildband von Jim Rakete, wo irgendwas vom Wiener Burgtheater draufstand. Ich weiß leider nicht mehr, was er als nächstes zu mir gesagt hat, jedenfalls merkte man, dass er sich gerne selber reden hört und in keiner Hinsicht ein Blatt vor den Mund nimmt. Wegen des Büchleins ging es auf einmal um Wien und ich war noch ganz im Wien-Erinnerungsrausch, weil ich gerade die Bilder verarbeitet hatte und sagte in etwa - "Burgtheater? Da hat er also auch fotografiert?" (Seitenblick zu Rakete) und "Hach ja, ich liebe Wien! Darauf er mit schulmeisternd gedehntem, bedrohlichem Unterton: "Hitler hat Wien auch geliebt!" Ich: "Hm na ja." Was soll man dazu sagen. Der kauzige Herr merkt, dass ich nicht ganz so leicht zu amüsieren bin, wie er das sonst scheinbar gewohnt ist und guckt ein wenig irritiert. In dem Moment registriere ich, dass der Direktor von CO auch in die Nische kommt und den Mann und Rakete mit viel Hallo und Handschlag begrüßt, aber ich habe nicht belauscht, was sonst noch geplänkelt wurde. Eine ältere Dame gesellte sich dazu, die sehr starkes Make up trug, was ihr etwas Fellinihaftes verlieh, mir gefiel es. Ein expressionistischer Typ mit dunklen Haaren, lockig, halblang und sehr viel Eyeliner und sehr rotem Lippenstift. Und elegantem Kostüm. Gut und gerne von Chanel. Sie gehörte zu dem Mann, und ab und zu stand sie auch ein bißchen rum und beteiligte sich am Small talk. Also nicht mit mir, aber sie lächelte mich sehr sympathisierend an. Nun kam auch noch Gero von Boehm, den man ja auch schon mal im Fernsehen gesehen hat und von seinen Interviews kennt und es wurde sich abermals mit großem Hallo äußerst familiär begrüßt.
Da war ich ja in einer hochinteressanten Ecke gelandet. Mal gingen sie wieder weg, dann kamen sie wieder, ein Glas Wein in der Hand. Wenn Rakete schon so direkt neben mir stand, konnte ich ihn auch gleich mal fotografieren, dachte ich mir. Man sieht ihn ja öfter mal in Berlin bei derlei Gelegenheiten. Aber er steht nicht immer so schön still. Also habe ich ihm eröffnet, dass ich ihn nun paparazzen würde, nicht dass er sich dann beklagt, ich hätte es nicht angekündigt. So schön mit Riefenstahlscher Untersicht, wie Vivian Maier! Darauf erwähnte er die schöne Rolleiflex von ihr, ich weiß nicht mehr im Detail, was er dazu angemerkt hat, aber ich meinte daraufhin, dass das ja nun auch digital funktioniert, nicht wahr. Ich hatte den Eindruck, dass er noch darüber nachdachte, worauf ich hinauswill, da hatte ich ihn schon fotografiert und ich bin mir nicht sicher, ob er es in dem Moment realisiert hat. In einer Dokumentation vor einigen Jahren über ihn, als es schon üblich war, digital zu arbeiten, pflegte er noch ausdrücklich und ausschließlich analoge Fotografie. Aber ich gehe davon aus, dass das heute anders ist, wenigstens nicht mehr ausschließlich. Ich merkte noch an, dass es schon geschehen sei. Er hat so eine gewisse Art in sich hineinzuschmunzeln, die ihn ziemlich sympathisch wirken lässt. In Zeitlupe ging es vorwärts und ich knipste ein bißchen rundherum, unter anderem den sehr putzigen Hund mit der kranken, mit CO-Klebeband eingewickelten Pfote.
Leute kamen und gingen. Einmal stand Florian Langenscheidt schwer irritiert in der Meute und konnte wohl nicht fassen, dass sich diese von ihm vielleicht erhoffte, vermeintliche Insider-Veranstaltung als Massenattraktion gestaltet. Er schien ein wenig hin- und herzuüberlegen, in seinem wohlfrisierten Lockenkopf, und beschloss dann wohl, dass so eine Warterei nicht seine Sache ist. Ich hörte noch, dass der ältere lustige Mann mit Rakete darüber sprach, wo man anschließend hier noch hingehen könnte, demzufolge kein Einheimischer. Aha. Rakete antwortete, was ich ihm auch als für ihn passend auf den Kopf zugesagt hätte, am besten in die Paris Bar, die ist auch nah, da kann man nichts verkehrt machen. Inzwischen hatte ich mir gedanklich zurechtgelegt, dass es wahrscheinlich irgendeinen gemeinsamen Umtrunk mit Lindbergh und seiner Truppe geben wird, wo die Herren, die sich wahrscheinlich seit Gott-weiß-wann kennen, den Abend ausklingen lassen und ihre alten Anekdoten austauschen.
Ungefähr zwei Stunden später war ich dann endlich innerhalb der Schlange beim Café, wo Lindbergh ganz hinten saß und signierte. Mittlerweile gab es eine Ansage, dass bitte nicht mehr als zwei Sachen zum Signieren vorgelegt werden sollen, sonst werden wir heute nicht mehr fertig! Ich hatte ja nur das eine Buch und dachte aber, als zweites wäre die weiße CO-Tüte auch noch sehr hübsch, mit so einer Lindbergh-Signatur, wenn schon, denn schon. Um es kurz zu machen: ich stellte mich schon psychologisch darauf ein, dass ich ein freundliches Lächeln, Guten Tag und Auf Wiedersehen empfangen werde, und fertig ist die Laube. Die interessant geschminkte Lady ging immer mal wieder an mir mit ihrem Mann an der Schlange vorbei, meistens mit einem frischen Glas Weißwein in der Hand, und erkundigte sich bei mir besorgt, ob ich immer noch nicht dran wäre, was ich sehr warmherzig fand, denn die anderen fragte sie nicht. Bei dem Hin und Her war ich nun schon langsam wirklich neugierig geworden, warum die beiden so einfach mir nichts, dir nichts, an den Ordnern vorbei, hin und herlaufen können und warum sie sich überhaupt so ausdauernd dort aufhalten. So konnte ich mir nicht verkneifen, ihm zu sagen "Ich möchte ja mal zu gerne wissen, was man für einen Namen haben muss, um hier einfach so durchgehen zu können!" Er: "Phh - ich will ja kein Buch signieren lassen, wie die alle." Das war mir nun schon klar, mittlerweile. Auf einmal sehe ich, wie er zehn Meter von mir entfernt von einem Reporter mit Fernsehkamera interviewt wird und ich ärgere mich langsam fast schon, dass ich keine noch so kleine Ahnung habe, wer der komische Kauz mit der kostspielig aussehenden Retro-Brille und dem Einstecktuch ist.
Vielleicht ein Kunstkritiker, den ich nicht kenne? Irgendwer vom Feuilleton? Da weiß man ja auch nicht, wie die aussehen. Auf jeden Fall scheint man sich für seine Meinung zu interessieren. Na toll. Hm. Immerhin sehe ich Lindbergh schon, er sitzt, ganz hinten auf der Bank, es geht nun plötzlich zügig voran. Mir wird mein Buch von einem Assistenten aus der Tüte genommen und mein Name wird ihm mitgeteilt. Die Audienz kann beginnen. Ich hatte ja diesen Kuhfellmantel an, der aber kein echtes Kuhfell ist, sondern so ein Webpelz aus einem Baumwolle- und Viskose-Gemisch. Peter Lindbergh begrüßt mich mit einem Blick, als wäre er gerade aufgewacht und einem sehr freundlichen "Hallo!" und "Na - was haben wir denn hier? Das ist ja mal ein Mantel, ist das eine Kuh?"
Ich kläre ihn auf, worauf er meint, da hätte ich aber noch mal Glück gehabt. Und dass er mir jetzt etwas in das Buch schreiben würde, wo ich was zum Nachdenken hätte. Aber ich dürfte es erst zuhause durchlesen. Und dann würde ich mir wahrscheinlich denken: "Der blöde Hund!" Er grinst mich über seine Brillenränder an, auf eine Art, dass man keinen Zweifel haben kann, dass er es faustdick hinter den Ohren hat. Er scheint sich sehr über sich und auch mich zu amüsieren und ermahnt mich noch ein weiteres mal, es erst zuhause zu lesen. Das finde ich blöd und sage "Na toll, möchte ja mal wissen, was da jetzt nun drin steht! Zur Strafe wird jetzt aber noch die Tüte signiert, hier, los! Auf gehts!" Er signiert die CO-Tüte und ich gucke ihn extra böse dabei an. Er muss lachen und ich sage "Danke" und "Tschüs" und drehe mich um. Und als ich schon fast zur Tür raus bin, ruft er mir laut hinterher: "hey - - - ! Ganz toll - ganz toller Mantel, ganz, ganz toll, WIRK-LICH!!!"
Und zwinkert mir ein letztes Mal zu. Das war natürlich keine weltbewegende Konversation, aber im Vergleich zu denen vor mir, war das doch für seine Verhältnisse ein beträchtlicher Palaver und ich hatte Gewissheit, dass es bestimmt sehr lustig und kommunikativ wäre, mit ihm zu arbeiten. So wie ich es mir eigentlich gedacht habe. Nun bin ich ja nicht in der Verlegenheit mit ihm zu arbeiten, aber ich habe verifiziert, dass er in etwa so tickt, wie ich es mir immer schon dachte. Ganz unkompliziert.
Bevor ich die Klinke in die Hand nahm, mit meiner signierten Tüte mit dem Buch, kam ich noch ein letztes mal an dem lustigen Mann vorbei und ich hatte nach den vielen Begegnungen inzwischen das Bedürfnis, mich von ihm zu verabschieden, obwohl ich immer noch nicht wusste, wer er ist. Ich sagte zu ihm. "Sie halten es aber auch ganz schön lange hier aus, obwohl Sie doch gar nichts signiert haben wollen, wie kommt das?" Er: "ich bin der Herausgeber. Ich habe noch nie irgendwo einen derartigen Andrang für ein Buch gesehen. Das schlägt alles, was ich bis jetzt gesehen habe. Aber ist natürlich erfreulich. Schönen Abend noch! Auf Wiedersehen!" "Verstehe. Danke, Ihnen auch. "Herausgeber" ist er also, mal daheim in Ruhe nachschauen, steht ja vielleicht im Buch drin.
Zuhause habe ich dann überhaupt das Buch erst einmal in Ruhe angeschaut - aber vorher schon in der S-Bahn die Widmung gelesen. Er hat mich ein bißchen auf den Arm genommen, der gute Peter Lindbergh, denn es steht nichts drin, was mir Anlass geben würde, ihn als blöden Hund in Erinnerung zu behalten. Im Impressum vom Buch stand dann aber nicht Herausgeber mit Vor- und Nachname, nur der Grafiker, der das Layout gemacht hat und wer die Texte geschrieben hat, u. a. Wim Wenders und Peter Handke. Im Schirmer-Mosel-Verlag erschienen. Ein nicht unbekannter Verlag, von dem wohl so ziemlich jeder den einen oder anderen Bildband im Regal haben dürfte. Ja, wer ist aber denn der Herausgeber? Wenn man also Schirmer und Mosel und Herausgeber googelt, kommen immer nur so Suchergebnisse, wo es um den Verlagsinhaber geht, der Lothar Schirmer heißt. Hm. Grübel, grübel. Mal Bildersuche machen, wie der ausschaut. Manchmal stehe ich ein bißchen auf der Leitung. War jedenfalls trotz der Warterei ein amüsanter Abend. Nichtzuletzt auch wegen Herrn Schirmer, dem lustigen Mann mit der Retrobrille und dem Einstecktuch, und seiner nett mitfühlenden Frau mit dem Lidstrich.