22. April 2011



Unversehens. Unversehens, aber kein Versehen. Das Trennen. Das Wechseln der Richtung. Die veränderten Neigungen, Neigungswinkel. Zuneigungswinkel. Unversehens.

[ Unversehens, adverb. welches vermittelst des adverbischen s von dem vorigen zu einem Nebenworte gebildet worden und statt des Adverbii unversehen gebraucht wird,unvermuthet,ohne daß man es gesehen oder vorher gesehen hätte]

Als ich meinen letzten Eintrag las, meine Ausgangsperspektive verließ, die ihn schreiben ließ, bemerkte ich, wie projezierbar das darin verhandelte metaphorische Szenario auf andere Dinge in meinem Leben ist. Ich meinte etwas Bestimmtes und sah, es passt ebensogut auf parallele Ereignisse. Mehrere. Es ist ein großes Thema, ein Muster, das in den Vordergrund drängt. Das Auseinanderdividieren von Bedürfnissen und Zugeständnissen. Das gegen-das-Licht-Halten von Kompromissen. Ich habe gründlich aufgeräumt. Wäre ich stärker in Klischees gefangen, wie man mit Verbindungen zu anderen Menschen zu verfahren hat, das gemeinhin Übliche, Traditionelle zugrundelegt, käme ich ins Grübeln. Mehr als ohnehin. Ein Mönch hat kein Rechtfertigungsproblem. Nicht der Welt gegenüber. Nur seinem Gewissen und seinem Orden. In einem geschützten Raum kann er unbehelligt seinen selektiven Spinnereien nachgehen.

Und noch mehr ein Eremit. Niemand wagt es, sich der komischen Hütte im Wald ungebührlich zu nähern. Eigenbrötler haben auch ein bißchen etwas Unheimliches, manche sogar Gefährliches. Was geht da vor, in diesem exotischen Kopf. Wie kann sich einer so absondern, die Gemeinschaft vermeiden. Welche kranken Regungen wohnen in so einem Menschen. Oder die Hexe im Hexenhäuschen, die sich nicht darum schert, dass die Kinder vor ihr davonrennen. Die sich nicht um Liebreiz bemüht. Na gut, das ist ein böses mittelalterliches Klischee. Ganz so gleichgültig bin ich nicht, was die Resonanz der Mitmenschen angeht. Allerdings beschränkt sich das Interesse an einem friedlichen Konsens auf unverbindliche gesellschaftliche Begegnungen, die sich nicht vermeiden lassen. Gelderwerb. Gesichtspflege. Einkaufen gehen. Ich bin glaube ich, die netteste Kundin der Welt. Zu mir war noch nie eine Verkäuferin zickig, im Gegenteil. Ich betrachte diese Menschen auf Augenhöhe, mit großem Respekt vor ihrer mir dienenden Arbeit. Aber ich möchte mich nicht zum Kaffeetrinken verabreden. Nur manchmal gibt es eine Ausnahme. Manchmal im Leben. Dann verabrede ich mich richtig oft und trinke richtig viel Kaffee. Gedanken zum Karfreitag. Unversehens. Hat rein gar nichts mit dem Sinn und Unsinn des Tages zu tun, der mir auch schon wieder entfallen ist. Nageln Sie mich bitte nicht fest.

Gestern hinter mir zwei Studenten, offenkundig auf dem Weg zu ihrem Campus. Ich vermute, sie fragte ihn, welche Vorlesungen er in diesem Semester belegt hätte und hörte nur einen Fetzen seiner Antwort. "...und dann mach ich noch Existenzialismus und Renaissance und Marketing und Naturwissenschaften..." Ich dachte, was für eine interessante Mischung und assoziierte ein ziemlich eigenwilliges Erscheinungsbild mit dieser Aussage. Ich überlegte, ob ich es wagen könnte, mich mal kurz umzudrehen, weil ich so neugierig war. Es ergab sich, dass ich kurz vor dem Gebäude, in das ich wollte, eine Drehung einbauen konnte, die nicht allzu unnatürlich wirken würde. Die beiden merkten nichts, und ich erfasste ihn aus dem Augenwinkel. Er sah völlig unspektakulär aus, brav eigentlich. Vielseitig interessiert, aber kein bißchen existenzialistisch oder renaissance-affin.

Ich merkte, dass ich ein bestimmtes anderes Bild mitgenommen hatte. Ein paar Minuten vorher war mir ein junger Mann, ungefähr Mitte Zwanzig, in der S-Bahn sehr aufgefallen. Sicher auch deshalb, weil ich seinen wiederkehrenden Blick auf meinem Profil spürte, während er las. Ich stand mit Blick zur Tür, er saß. Er hatte eine bizarre, avantgardistische Rasur. Koteletten, schwarz und ausgezirkelt bis auf die Wangenknochen. Raspelkurze schwarze Haare. Ein Blick wie Adriano Celentano, angesagte Klamotten. So hätte der Student aussehen müssen. So und nicht anders.

Und dann dachte ich noch, wie großartig diese jungen Menschen sich heute entfalten können. Ein bißchen Existentialismus, ein bißchen Renaissance, ein bißchen Marketing, ein bißchen Naturwissenschaften. Ich beharre ja weiterhin darauf, dass wir in der besten aller Zeiten leben. Von schwachsinnigen EU-Normen (o.k., es gibt auch ein paar gute, Kennzeichnungspflicht für glutenhaltige Lebensmittel zum Beispiel), degenerierter Landwirtschaft, Fukushima und noch ein paar anderen Verirrungen abgesehen. Aber das sind alles nur Zeitfenster, wie ein lieber Freund mir vor einiger Zeit einmal schrieb. Und dass sich die Chinesen an den Fluß setzen und warten bis - aber das ist eine andere Geschichte.

21. April 2011



Wie mag sich das alles noch relativieren. Alles. Nicht nur die Dinge der großen Welt. Der kleinen auch. Man kann mit Sicherheit sagen, nichts bleibt wie es ist. Auch nicht die Perspektive auf die eigene Welt, die eigene Zeit, die eigene Vergangenheit, Gegenwart, die noch unwägbare Zukunft. Ich sehe etwas an, das ich früher angesehen habe. Aber ich sehe etwas anderes. Wahrscheinlich kennt das jeder: man hört von einem Menschen eine Begebenheit aus seinem Leben, zum ersten mal. Man lacht über die überraschende Wendung, die lustige Beschreibung. Die Schärfe der Analyse. Fühlt sich gut unterhalten. Witzige Details. Später, man kennt sich schon ein Weilchen, ist man eingeladen. Es ergibt sich, dass die Anekdote gerade passt, die anderen kennen sie ja noch nicht. Man lacht auch noch beim zweiten Mal. Noch später, irgendeine völlig andere Situation, man ist zu zweit. Der andere erzählt ein Detail der kleinen Geschichte, die man schon kennt. Die kleine Geschichte ist wohl ein Höhepunkt im Leben gewesen. Man ist ein bißchen irritiert, dass der andere nicht zu erinnern scheint, dass er die Geschichte schon zweimal in Gegenwart von einem erzählte. Man macht eine kleine Bemerkung, "Hm, ja - das hast du schon mal erzählt." Man lächelt milde, dabei wollte man nie milde lächeln. Menschen, die gerne und viel erzählen, vergessen eben schon mal, wem sie was erzählt haben. Wieder eine freundliche Runde. Die Geschichte erlebt die nächste Renaissance. Man weiß schon, wie sie geht. An der Stelle gleich, wird eine ganz bestimmte Formulierung kommen, über die die anderen herzlich lachen werden. Man freut sich für den anderen über den Unterhaltungswert, hört aber selber kaum noch hin. Irgendwann fängt man an, durch's Fenster in den Garten zu gucken. Mal ein bißchen frische Luft. An die frische Luft. Man versäumt ja nichts. Man kennt die Geschichte schon. In- und auswendig. Sie ist nicht schlecht, aber man wird nichts Neues erfahren, wenn man noch einmal zuhört.

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Lydia G. Wow. Also...
19.05.24, 00:51
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Für Mansarden gibt...
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Da blutet mir ja das...
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