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19. Juni Zweitausendzehn. Ein Samstag. Ein Sonnabend. Komisch, Sonnabend kenne ich erst im lebhaften Sprachgebrauch, seit ich in Berlin lebe. In Bayern sagt kein Mensch Sonnabend. Am Tag, also tagsüber hing ich drei frischgewaschene Charlie-Shirts in den Wind. Wie sie da wehten, hoch über der Auguststraße. Schön sah das aus.
Ich war fleißig, weil ich unsere Foto-
Schießerei am Montag vorbereitete. Vielleicht würde ich die T-Shirts brauchen können. Ja, brauchte ich. Brauchten wir. Jetzt hab ich nur noch eins hier. Das Größte, in das ich zweimal reinpasse. Vielleicht packe ich die Nähmaschine aus und näh es enger, dann hab ich ein Minikleid mit Charlie drauf. Dazu ein paar kecke Stiefelchen, das kommt bestimmt nicht schlecht. Ein Bowler dazu wäre auch sehr cool. Aber die sind teuer. Melonen sind verdammt teuer. Aber man muss sich auch mal was Schönes gönnen. An Pan Tau fand ich die Melone ja nicht so attraktiv, aber die Serie hab ich als Kind geliebt.
Und später kamst du. Mein Gott das klingt wie eine Zeile aus einem Siebziger Jahre-Schlager. Ist das nicht von Daliah Lavi? "Dann kamst du..." Die fand ich ja auch immer toll als Kind. Ach nein, das war
"Wann kommst du?".
"Dann kamst du" ist von Vicky Leandros, wie ich mich gerade bei youtube schlau gemacht habe. Das war ja sogar ein Grand Prix-Hit.
"Après toi..." Mais oui...! Je me souviens. Langsam kommt die Erinnerung. Na ja, ist ja nun auch sehr lange her. Ich weiß auch nicht, warum ich in letzter Zeit immer zwischen der zweiten und dritten Person wechsle. Vielleicht weil du jetzt so weit weg bist und ich die stummen Buchstaben zu ein bißchen mehr Leben erwecken will, damit sie noch einmal anfangen zu atmen. Den Herzschlag der erlebten Stunden wieder spüren. Ich sollte Schlagertexte schreiben. Für Michelle. Manchmal ist einem das eigene Pathos zuwider, peinlich. Und doch muss es sein. Muss es irgendwie rein.
Wir waren verabredet - nein, richtiger - ich durfte dich begleiten zu einem Fest, einem jährlich wiederkehrenden Gartenfest in Kleinmachnow. Vorher wickelte ich am Küchentisch noch den Dépardieu-Artikel um den Wein. Du hattest ein weißes Hemd an. Es gibt ein einziges
Foto von diesem Abend. Du in meiner Küche. Später fotografierte ich nicht. Es hätte einfach nicht gepasst. Peinlich wäre es gewesen. Wie ein Paparazzo, eine Paparazza wäre ich mir vorgekommen. Obwohl kein Bunte-Leser auch nur ein Produzenten-Gesicht gekannt hätte. Es hätte einfach nicht gepasst. Aber ich war auch nicht traurig, keine inneren Haderstunden "Ach, hätte man das doch jetzt für die Ewigkeit eingefangen!" Nein, alles ganz friedlich.
Wir laufen zur S-Bahn, über den Hackeschen Markt. Bis Zehlendorf müssen wir und von da fährt ein Bus. An der Bushaltestelle müssen wir so lange warten, dass wir anfangen, die Umgebung der Haltestelle zu erkunden. In einem Hinterhof so schöne alte Autos. Nein, Automobile muss man sagen. Ein dort ansässiger Oldtimer-Club hat ein Treffen. Was für herrliche Automobile. Ich kann mir plötzlich vorstellen, einen cremeweißen Cadillac mit offenem Verdeck zu haben, so ein Modell aus den Zwanziger Jahren, mit Wurzelholz-Amaturenbrett und cognacfarbenen Velourslederbezügen. Vor meinem inneren Auge fahre ich bereits wie Kim Novak als Lylah Clare durch Robert Aldrichs "Große Lüge Lylah Clare". Und herrlich, wie das Ersatzrad vorne in eine Vertiefung in der Kühlerhaube eingebaut ist. Ich bin entzückt. Und du erkennst sofort, dass man dann natürlich unbedingt so eine Lederkappe und perforierte Handschuhe aus feinstem Straußenleder braucht. So wie früher. Der Bus kommt.
Alte Alleen, alte Bäume, man ahnt noch den Wald, aus dem dieses putzige Kleinmachnow erwuchs. Zu deinem alten Schulfreund Christian. In eurer Jugend einer der Widerspenstigsten, Rebellischsten von allen, wie du sagst. Aber er hat noch was davon. Etwas attraktiv Störrisches in den Augen. Aggressiv, auf eine produktive Art. Fernsehserien produziert er. Sehr erfolgreich. Alphatier, durchdringender Blick. Ihr beiden seid zweifellos die attraktivsten Männer in diesem Fernsehgarten. Das Haus perfekte Kulisse eines eleganten ZDF-Fernsehspiels. Blondierte Frauen in weißen Sommer-Anzügen. Ungewöhnlich hanseatisch für Berliner Verhältnisse. Pfingstrosen schwimmen in rhythmisch platzierten Glaschalen auf verwirrend elegant eingedeckten Bierzelt-Tischen. Dezente Hintergrundmusik im windgeschützen weißen Gartenzelt, nicht zu laut, nicht zu aufdringlich. Bekannte Melodien, ein bißchen Swing, ein bißchen Jazz, ein bißchen Lounge. Gegrilltes, große Meerestiere. Die King Prawns so riesig, dass ich den Kampf mit der Schale fürchte und vorzugsweise die unkomplizierter einzuverleibenden Grillwürstchen nehme, auf die ich sowieso den größeren Appetit habe. Es gibt scharfe Soße. Sehr gut. Der Rotwein angenehm, obgleich aus Italien. Es scheint sich um eine hochklassige Empfehlung zu handeln. Der Bruder des Gastgebers ist Weinhändler und auf Italiener der Oberliga spezialisiert. Leider abwesend. (Weinhändler sind mir prinzipiell sympathisch).
Die meisten Gäste waren von Beruf irgendwas mit Film- und Fernsehproduktion oder Drehbuchautoren. Die Menschen hinter den Kulissen der Branche. Viel Serie, viel Tatort. Gar keine Schauspieler dabei. Es wurde über schwindende Fördergelder gefachsimpelt und auch ein bißchen gelästert und ich lernte ein schlimmes neues Wort beim Zuhören. Produzent X zu Produzent Y
"und dann hat dieser Schauspieler, der Soundso, na du weißt schon - Entschuldigung, sagte ich Schauspieler? Ich meinte natürlich Darsteller - äh - Gesichtsvermieter -" Na ja. Gelästert wird überall.
Wir brachten dem Gastgeber den Dépardieu-Wein mit, das hab ich doch schon irgendwo erwähnt
(ah ja, hier). Und seine Tochter... er hat zwei Töchter, ungefähr acht und zehn und - hab ich das nicht auch schon geschrieben? Ich hab gerade ein déjà vu bei meinem eigenen Geschreibsel - jedenfalls haben wir den Mädchen supercoole Deutschland-Wimpern mitgebracht und tolle Deutschlandpappkronen und Deutschland-Herzchen-Tattoos, weil man war ja noch voll der Hoffnung und im WM-Fieber und die kleinere der beiden, die Sängerin werden will (und später irgendwann dieses Zeug redete, von wegen wir sähen uns ähnlich), sang mir ihr Lieblingslied vor, das Papa nicht mehr hören kann, auf dem Rasen, neben dem Feuer und weil sie so klein ist und ich so groß, kniete ich mich hin. Und sie sang
"Orchester in mir". Ein Lied, eigentlich von Christina Stürmer, das irgendeine Kinderkanal-gecastete Mädchen-Band ("Saphir") erfolgreich gecovert hat. Und sie sang es mit so viel Herz die Kleine. Ich war den Tränen nah. Und kniete vor ihr im Rasen und die Erwachsenen auf der Terrasse, außer Hörweite wunderten sich über das seltsame Schauspiel. Sie konnte den Text nicht ganz auswendig und guckte dabei in das Booklet der CD und verhaspelte sich, es war auch sehr schummrig und schwer zu lesen. Aber sie sang es mit so viel Herz. Ein Lied von einem Mädchen, das ihren Märchenprinzen auf einer Party trifft, aber er ist schon vergeben, doch wenn sie ihn sieht, dann spielt jedesmal "ein Orchester in ihr" bzw. "in mir". Dieses Lieben und Verliebtsein, das ist in jedem angelegt, es ist, als ob man es von Anfang an in sich trägt. Man muss es nicht erst durchlebt haben. Sonst könnte die kleine Anna, das gar nicht so tief nachempfinden. Das war der schönste Moment auf der Gartenparty.
Und ich erinnere gerne die lebensfrohe Tante von Christian mit dem hellgrünen Lidschatten, die war auch sehr toll. Und ihr sinnenfroher Mann, der Ex-Banker, glücklicher Ruheständler. Die mochte ich gleich, beide, in ihrer Lebensfreude. Du auch. Hellgrüner Lidschatten, tausend Lachfalten, knallroter Mund. Großartig. Und ja, natürlich erinnere ich den etwas frustrierten Produktionsregisseur oder wie sich sein Job nennt, den ost-sozialisierten, eloquenten, politisierbereiten in der schwarzen Lederjacke. In unserer Raucherecke da. Und dass man eine gewisse subversive Bereitschaft spürte, deren praktische Umsetzung, Manifestation im Unwägbaren versuppte. Wie meistens. Und später hörte ich von dir, dass eines eurer Terrassengesprächsthemen, als ich mich ganz und gar dem singenden Kind hingab, sexuelle Treue und deren Wertigkeit bzw. in Frage zu stellende, innerhalb von sehr lange währenden Langzeitbeziehungen war. Interessantes Gesprächsthema. Vor allen Dingen im aktiven Diskurs mit zwei so attraktiven Frauen, wie deinen beiden Gesprächspartnerinnen. Die hatten wirklich Klasse und Sex Appeal. Keine Frage. Von Schönheit ganz zu schweigen. Der Mann in mir wäre noch viel dichter an den beiden drangeblieben.
Und am Ende, als wir plötzlich ernst sprachen, da in diesem eleganten Wohnraum stehend, wo man sich kaum traute, Platz zu nehmen, so gestylt war alles. Sehr ästhetisch, ein bißchen zu sehr wie in einer Hochglanzzeitschrift. Man überlegte, ob man dem ausgezirkelten Layout des Raumes noch gerecht würde, wenn man sich in einem der roten Sessel niederließe, da gegenüber von dem blitzweißen Sofa. Wovon redeten wir da am Ende eigentlich... was war das noch... - unsere Väter. Dass unsere Väter zum großen Teil von Frauen erzogen wurden, die ihre Männer im Krieg verloren hatten. Und was das mit den Vätern machte. Mit ihrem Mannsein, ihrem männlichen Selbstverständnis. Ihrer Durchsetzungskraft. Das fehlende gelebte Leitbild männlicher Aggression. Meinen Vater betraf das nicht. Er hatte einen Vater, der sehr alt wurde. Mein Großvater hatte sich vor der Wehrmacht gedrückt. Er hatte in irgendwelchen Schnaps getunkte Zigarren geraucht, bis ihm speiübel war zur Musterung. Dann wollten sie ihn nicht. Er wurde 83 Jahre alt. Ich hielt seine Hand, als er starb. Ach ja... dieses Fest in Kleinmachnow... Katja und ihr Lebensgefährte, auch ein Drehbuchautor, nahmen uns mit zurück nach Berlin. Er hatte uns diese beiden Filme ans Herz gelegt. Wir glauben ihm sofort, als er uns
Crazy Heart und
The Wrestler nahe legt, die wir uns unbedingt ansehen sollten. In einem waren wir. In Crazy Heart... noch gar nicht so lange her. Ein schöner Film. Von dem Abend gibt es auch ein paar Bilder. Irgendwann. Später.