"We are a group of fashion students from London and we
LOVE YOUR COAT!
Would you mind, if we take a picture?
"No problem, take a picture!"
(klick klick klick)
"Thank you so much!"
"MY pleasure (!)"
Unbedingt(!!!) Und ich lasse mich normalerweise nicht gerne (von anderen) fotografieren. Ja bin ich denn von lauter Deppen umgeben? Wieso muss erst eine "group of fashion students from London" nach Berlin kommen, bis ich ausführlich auf meinen supertollen Mantel mit den Fotos drauf angesprochen werde! Das ist doch Scheisse! Ich geißle das! Nur neulich, bei der Eröffnung der Vivian Maier-Ausstellung im Willy Brandt-Haus, da stand neben mir eine Berlinerin in der Schlange, die den Mantel auch gelobt hat! Das hat mir die Wartezeit sehr verkürzt, um nicht zu sagen versüßt. O.k., Jan, hat dann auch noch eine nette Bemerkung gemacht "Cooler Mantel, ist der neu?" "Nein. Mit Perwoll gewaschen." Ignoranten. Oder sind die alle schüchtern? Manchmal merke ich, dass die Leute zu grinsen anfangen, wenn sie mich in dem Mantel sehen. Hat ja auch Unterhaltungswert. Aber so eine qualifizierte Reaktion wie da oben, noch dazu aus berufendem Munde, so denke ich mir das. Ich ziehe das Dings heute Abend gleich noch mal an, Veruschka unterhält sich bei C/O mit so einem Kunsthistoriker über die Dreharbeiten von Blow up. Und wehe, sie sagt nichts zu meinem Mäntelchen. Bin ich beleidigt...!!! (aber echt)
Nikolaiviertel. Berlin Mitte. 1987 wiederauferstanden. Zum Jubiläum. Zum Geburtstag, dem 750., am 28. Oktober 1987. Ostberlin. Damals war ich nicht da. Ich war überhaupt noch nie bewusst im Nikolaiviertel, um das Nikolaiviertel anzuschauen. Hier und da schon einmal sehr am Rande gestreift, auf dem Weg zur Alten Münze am Molkenmarkt, zur a2n-Music-Convention im Jahr 2009, aber mich hat nie ein Weg direkt ins Nikolaiviertel geführt.
Die letzten beiden Wochen hatten wir, seit Mitte Februar beinah ohne Unterbrechung, kaum ein Tag ohne strahlende Sonne. Nicht von langer Hand geplant, aber nach meinem Besuch im Ephraim-Palais am vorletzten Sonntag, fasste ich den Vorsatz, diese meine kleine, fast peinliche, Berliner Heimatkundelücke zu schließen.
Keine Autos fahren in den meist kopfsteingepflasterten Gassen in diiesem kleinen überschaubaren Viertel, das sehr vereinzelt sogar noch sehr alte Bausubstanz hat. Allem voran die älteste Kirche Berlins, die Nikolaikirche, die 1230 erbaute. Im Wikipedia liest man u. a.: Die Nikolaikirche war auch Ort bedeutender politischer Ereignisse: 1539 trat hier der Rat von Berlin und Cölln geschlossen zum Luthertum über. Am 6. Juli 1809 trat die erste infolge der Steinschen Reformen gewählte Stadtverordnetenversammlung hier zusammen und ließ sich gemeinsam mit dem Magistrat und dem Oberbürgermeister feierlich vereidigen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker wurde am 29. Juni 1990 in der Nikolaikirche zum ersten Gesamt-Berliner Ehrenbürger seit der Teilung der Stadt ernannt. Am 11. Januar 1991 fand hier die konstituierende Sitzung des neu gewählten (nun) Gesamtberliner Abgeordnetenhauses statt. Gut. Das nur, um zu dokumentieren, dass es keine x-beliebige Dorfkirche ist, wie man anhand des eher unspektakulären Erscheinungsbildes leicht denken könnte. Ich war ganz kurz im vorderen Bereich, habe mir aber einen wirklichen Besuch der Kirche, die heute vor allem ein Ausstellungsort geworden ist, der einen geringfügigen Eintritt kostet, für ein andermal vorgenommen. Ich wollte lieber das ebenfalls im Nikolaiviertel liegende Biedermeiermuseum, das Knoblauhaus anschauen, das unter den Wohnhäusern die älteste unzerstörte Bausubstanz aufweist. Eintritt frei! Da war ich später auch noch, zuletzt und ausgiebig. Weil das Biedermeierhäuschen eine eigene Strecke verdient, bekommt es diese auch, später. Alles in Arbeit.
Es ist oft so in Berlin - man lebt jahrzehntelang hier und es gibt Orte, die noch nie einfach so den eigenen Weg gekreuzt haben, obwohl sie die meisten Reisenden auf ihrem Routenplan haben.
Die sogenannten 'historisierenden' Plattenbauten sind so eine Geschichte für sich. Die Silhouette ein Zitat von alten Bürgerhäusern, wie man sie schon im Original in unzerstörten Städten mit mittelalterlichem Kern gesehen hat, die Fassade aber allzu leicht identifizierbare Platten-Elemente, verschönt mit einem Streifenrelief, das bei manchem Lichteinfall ein bißchen nach Wellpappe aussieht. Man hätte eigentlich nur die Anschlusskanten der Platten verputzen und ausgleichen müssen, schon wäre der ästhetische Eindruck weniger provisorisch, um nicht zu sagen 'preisgünstig'. Dann bin ich wieder beinah empathisch-mitleidig gerührt, bei der klaren Vorstellung, man hat versucht etwas Schönes, Modernes zu schaffen, das die Historie zitiert, aber die Mittel haben halt nicht ausgereicht, um es vollendeter, virtuoser hinzukriegen. Dann bin ich wiederum verärgert, weil ich finde, dass es nicht die Welt gekostet haben würde, die blöden dissonanten Fugen auszufüllen und zu verspachteln. Es ist halt auch ein Ostberliner Unikum, DDR-Geschichte. Sie konnten aber auch virtuos rekonstruieren und wiederaufbauen, nicht, dass das Knowhow nicht dagewesen wäre. Es war also wohl doch irgendwie originell gemeint. Ich habe keine der historisierenden Platten hier in den Eintrag genommen, aber in der gesamten Strecke von weit mehr als vierhundert Aufnahmen sind sie zu sehen. Hier zum Beispiel. Ich will nicht das Haar in der Suppe suchen. Es gibt ganz viele sehr atmosphärische Ecken innerhalb des Viertels, da an der Spree. Viele Lokale, die von Berlinbesuchern frequentiert werden, auf den Spuren von Heinrich Zille, der da auch ein Museum hat, in dem ich nicht war, und mit ein bißchen Sehnsucht nach Altberliner Nostalgie. Es ist nicht alles nur kulissenhaft und Freilichtmuseum.
An einem heißen Mittag in einem der Lokale am Wasser zu sitzen, vielleicht unter der furiosen Skulptur des Heiligen Georg, der schönsten Skulptur aus dem vorletzten Jahrhundert, die ich überhaupt je im öffentlichen Raum gesehen habe (und die auch eine extra Strecke bekommt, weil sie eigentlich ursprünglich woanders hingehört, nämlich auf den Schlossplatz), muss sehr erholsam und auch romantisch sein. Es ist eine Ecke für Romantiker. Über die etwas hilflosen Plattenbauten im Nostalgiegewand sollte man großzügig hinwegsehen, zumal wenn so die Sonne scheint. Einfach immer auf das Gelungene schauen.
Es ist schon eine kleine Puppenstube. Auch habe ich ein zauberhaftes Geschäft entdeckt, in dem ich ausführlicher war, die Kashmir Boutique, die direkt aus dem fernen Kaschmir, ohne Zwischenhandel, Paisley-Stoffe und Schals importiert, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Die kriegt auch eine extra Strecke.
Ich kann mir gut vorstellen, dass ich einen lauen Abend dort in einem der Lokale verbringe, irgendwann, im warmen Frühling oder Sommer. Und wenn es sehr spät wird, kann ich sogar heimlaufen. Im Grunde ist es ein Kleinod, das man erst realisiert, wenn man vom Alexanderplatz kommend, mit dem Bus durch die Karl-Liebknecht-Straße gefahren ist, durch ungleich schlimmere Bausünden, an denen der Bus vorbeifährt, bis er am Nikolaiviertel hält. Es soll sich aber einiges ändern dort, in den nächsten Jahren. Heute erst in einer Bezirkszeitung gelesen. Gemeinsam mit den Berlinern soll eruriert werden, was wünschenswerter ist, als der heutige Zustand des Areals zwischen Rotem Rathaus und Marienkirche. Muss mal auf die Internetseite schauen, wann die Auftaktveranstaltung ist. Das kann mir ja nicht egal sein. Es war übrigens recht langwierig für mich, zu entscheiden, welche der 457 Bilder ich hier einkleben soll, um den Eintrag zu illustrieren. Ich habe ganz viele wieder gelöscht und nun sind es doch noch immer so viele. Könnte auch bedeuten, dass das kleine Nikolaiviertel eben doch ein bißchen mehr Aufmerksamkeit verdient hat, als nur die von Berlin-Urlaubern, auf der Suche nach entrückter Nostalgie.
Heute präsentiere ich meine erste Lesebrille. Ich habe schon mal am 29. Oktober 2014 davon berichtet, dass ich nun eine Lesebrille besitze. Ich habe sie aber noch nicht hergezeigt. Heute habe ich die Brille aufgesetzt und Bilder gemacht. Meistens setze ich die Brille vor dem Schlafengehen auf, wenn ich noch in einem Buch lese. In meinem Schlafzimmer ist es ein bißchen schummrig, das wäre mir ohne Brille zu schwierig. Unterwegs habe ich sie noch nicht aufgesetzt, obwohl ich morgens in der S-Bahn merke, dass ich sie gut brauchen könnte beim Lesen. Komischerweise wird es tagsüber dann immer besser mit dem Gucken und ich brauche keine Brille, auch nicht am Abend, wenn das Licht in der S-Bahn auch nicht besser ist als in der Früh. Aber das ist normal, haben mir Brillenträger-Profis erklärt. Im Laufe des Tages ändert sich die Sehfähigkeit. Also ich kann am besten am Abend gucken und wenn es total hell ist. Aber der Abend nützt mir in dem dunklen Schlafzimmer dann doch nichts, es ist halt wirklich zu schummrig. Das Etui habe ich mir bestellt, weil mir die ganzen Etuis in den Geschäften nicht gefallen haben. Ich finde, mit der Brille wirke ich ein bißchen wie eine Psychoanalytikerin. Also ich hätte Vertrauen und würde mich zur Analyse bei mir selber anmelden. Meine erste Lesebrille, das ist schon ein wichtiges Ereignis in meinem Leben, weil ich ja ein halbes Jahrhundert alles ohne Brille gemacht und gelesen habe. Ich hoffe auch, dass der Eintrag für meine Leserinnen und Leser von Interesse ist, die schon länger eine Brille aufhaben. Wie man so als Laie damit zurechtkommt und wie die Brille ausschaut. Hauptsache, nicht wie Nana Mouskouri! Das war mir am allerwichtigsten. Ich habe Nana Mouskouri noch auf keinem Foto mit so einer Brille wie meiner gesehen, deswegen war sie gleich in der allerersten Wahl. Ich habe nichts gegen Nana Mouskouri, das möchte ich noch einmal betonen, aber sie ist halt nicht mein Brillen-Idol! Nach der Brillen-Show heute Mittag bin ich rausgegangen. Weil ich ein kleines bißchen Freizeit habe und schöne Sonne war, bin ich endlich einmal ausgiebig durch das Nikolaiviertel spaziert und habe viele Fotos gemacht, die ich mir jetzt anschauen will und wegschmeißen und so weiter und so fort!
Geradezu aktuell der Eintrag, auch die Bilder. Eigentlich wollte ich nicht unbedingt in eine Ausstellung gehen, am gestrigen Sonntag. Aber gerne in ein Palais. Warum nicht ins Ephraim-Palais. Ich war da noch nie. Eine Schande eigentlich. Da befasst man sich wissenschaftlich mit jedem Palais in Wien und war noch nicht einmal daheim in jedem dritten. Sie sind nicht mehr so dicht gesät wie in Wien, es ist halt doch mehr kaputt gegangen. Aber das Ephraim-Palais ist in aller Pracht am beinah alten Standort. Es war früher um zwölf Meter versetzt und musste auch wieder aufgebaut werden, aber immerhin mit originaler Fassade, die eingelagert war. Schon verrückt. Es ist also nicht nur ein rekonstruiertes Bauwerk, das nur so tut, als wäre es alt. Das kann man ja alles nachlesen.
Dass dort gerade eine Ausstellung mit dem Titel WEST : BERLIN läuft, hat mich nicht weiter gestört, außerdem hat mir das Plakat mit der Sonnenbrille gut gefallen, so etwas fotografiert sich immer gut. In der Ausstellung war Fotografieren komplett verboten, aber ich durfte im Treppenhaus Bilder machen, das hat man mir ausdrücklich gestattet, als ich nachgefragt habe. Ich habe ja viele Jahre meines Lebens in Westberlin verbracht, daher habe ich nicht unbedingt den Wissens-Nachholbedarf, was die Situation und Besonderheiten angeht. Es gab aber dennoch ein paar Exponate, die auch für mich interessant waren, wie zum Beispiel die linierte Karteikarte von J. F. Kennedy, auf der in englischer Schreibweise sein "Ich bin ein Berliner"-Satz steht und noch zwei andere Sachen auf Deutsch. Und irrwitzige, düstere Kostüme von einer Schaubühnen-Inszenierung, die hätte ich sehr, sehr gerne fotografiert, mit den Schaufensterpuppen darin. Und ganz schöne Plakate aus allen Jahrzehnten sind zu sehen. Berlin-Werbung. Was mir aufgefallen ist, dass viele der Plakat-Exponate einen gewissen gezielten Sex Appeal kultivierten. Ganz bemerkenswert auch eine Werbung für das Schlafwagenabteil der Deutschen Bahn, in der man eine gut gewachsene Dame im durchsichtigen Negligé von hinten sieht. Mit nackigem Popo. Ich meine: Werbung der Deutschen Bahn. Schönes Schwarzweiß-Foto. Aber wäre heutzutage wegen schlimmer Anzüglichkeit verboten. Ein Hingucker. Ich habe ja auch hingeguckt. Sonst wahrscheinlich eher nicht. Ein exzellentes Schwarzweiß-Foto, das sehr künstlerisch mit dem Tageslicht spielt, wie eine Modefotografie von F.C. Gundlach.
Überhaupt der intensive Freiheits- und Experimentierdrang, der sich mit Hochdruck durch alle Strömungen und Epochen zog. Kein Wunder, nichts konnte sich verlaufen, das eingekesselte Westberlin war ein absolut hermetischer kultureller Schnellkochtopf. Durchaus sentimental besetzt auch für mich, ein Phonograph oder wie das heißt, wo man mit Ohrhörern Keine Macht für Niemand von den Scherben hören kann. Im altehrwürdigen Ephraim-Palais. Nun ist es etablierte Geschichte. Ebenso wie Rudi Dutschke und die RAF und die Achtziger und alles. Es gibt auch eine Stele mit einem Monitor, wo ein Video läuft, das ich noch nie gesehen hatte, 1986 am letzten Morgen vom Risiko gedreht. Blixa Bargeld stolpert bedröhnt durchs Bild und die Kamera wackelt, wie man das von solchen Videos erwarten kann. Sechsundachtzig war ich auch mal im Risiko, das war ganz kurz vor dem Ende. Und nicht weit weg davon hängt das komische Plakat mit Harald Juhnke über dem Brathähnchen von dem China-Restaurant, das immer als Reklameaufsteller vor dem Bikini-Haus war, schon ganz verblichen. Alles mögliche ist da, ich habe aber die Ordnung nicht ganz durchschaut, wenn ich mit Bildungshunger hingegangen wäre, hätte ich mir eine auffälligere chronologische Leitung mit großen Schildern "Hier lang!" gewünscht. So bin ich halt ein bißchen kreuz und quer durch die Geschichte gelaufen. Ein Exponat hab ich auch daheim, da hätte ich auch stiften können: den grünen "vorläufigen" Berliner Personalausweis. Damals war ich ganz stolz, dass ich einen echten grünen Berliner Personalausweis hatte und keinen westdeutschen grauen mit Adler. Auf dem Berliner Personalausweis war es verboten, dass die Bundesrepublik ein Zeichen setzt. Natürlich ist er längst abgelaufen, aber ich hüte ihn in irgendeinem alten Album, in dem auch alte Eintrittskarten aus dieser Zeit kleben. Sehr gut gefallen hat mir auch ein großes gemaltes Bild, gleich neben dem Ton Steine Scherben-Lied, von Rainer Fetting. "Warrior" heißt es und ich dachte erst, es wäre von Elvira Bach, so vom Strich her, obwohl ich es kraftvoller fand, als ihre Sachen, subtiler auch und aggressiver. Auch dass nur Männer darauf waren, keine einzige Frau, hat mich zurecht schwanken lassen. Als ich dann sah, dass es von Fetting ist, musste ich daran denken, dass er in letzter Zeit öfter unter Bildern auf Jans Facebook-Seite kommentiert, Er hat ihn in den letzten Jahren ab und zu daheim in seinem Atelier portraitiert, sonst wüsste ich heute noch nicht, wie Rainer Fetting aussieht. Ganz eigenwilliger Ausdruck. An dem Bild hat mich aber im Vordergrund ganz unten etwas gestört, was ich eher wieder Elvira Bach zugeordnet hätte, da staken ein paar vereinzelte, langstielige gemalte Rosen herum. Die hätte er weglassen sollen. Aber sonst ein ganz fantastisches Bild. Und da ist ein Lehrfilm über West-Berlin. Obwohl es ein sehr schöner sonniger Tag gestern war, sieht man das gar nicht mehr auf meinen Bildern, weil ich recht spät am Nachmittag hin bin. Vorher habe ich mir die Sonne in meiner Wohnung auf den Pelz brennen lassen. Ich habe nach dem Ausflug beschlossen, dass ich das Nikolaiviertel endlich einmal ehren muss, richtig beehren muss. Es ist zwar noch kalt, aber immerhin schon ein paar Grad mehr, so fünf oder sechs. Wenn die Sonne scheint, gehe ich wieder hin, ein wenig Flanieren.
Es gibt kein Foto von gestern. Ich muss mir behelfen, mit einem Bild von irgendwann, das ich früher einmal im Brel gemacht habe. Selber schuld, muss Lisa denken, wenn sie das liest. Man darf nicht den Fotoapparat oder das Mobilfon, wenn man eines hat, während einer atemlosen Konversation aus der Tasche holen und auch nur eine Sekunde mit dem Zuhören oder Antworten aufhören, bloß weil man ein Bild für eine Blogeintrag haben will. Man muss abwägen. Meine Kamera war die ganze Zeit in der Tasche auf dem Boden neben dem Tisch. Ich habe es sogar noch erwähnt. Und ich glaube, dass es Lisa bis zum Ende gar nicht so recht glauben konnte, dass ich wirklich kein einziges Foto von unserem Treffen nach beinah neun Jahren mache. Aber ich habe sie ja dauernd innerlich fotografiert. Das muss man einfach glauben. Wenn ich sage, dass sie sehr schön, wirklich blendend ausgesehen hat, wird man mir das auch glauben, weil sie das ja wahrscheinlich meistens tut. Und ich vermute, dass sie sogar dann blendend aussieht, wenn sie einen eher blöden Tag hat - was ich noch nie gesehen habe. Kunststück! Vielleicht hat Lisa gestern gedacht, dass ich es ein bißchen übertreibe, mit meiner wiederholten Verkündung "Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie gut du aussiehst? Du siehst so gut aus!!!". Nicht deswegen überrascht, weil sie vorher nicht gut ausgesehen hätte, also neun und zehn Jahre davor, wo ich sie gesehen habe, sondern gerade deswegen. Das ist nicht bei allen so, neun Jahre später. Man könnte denken, es ginge mir nur um das gute Aussehen. Aber das ist natürlich eine oberflächliche Betrachtungsweise. Jeder tiefgründige Mensch weiß, dass ein schönes Naturell alles überstrahlt. Und warum hätte sie das verlieren sollen. Es macht aber natürlich auch viel aus, wenn sich jemand immer gut pflegt! Ich bin mir sicher, dass sie sich da nichts vorzuwerfen hat. Lisa vor mir sitzen zu haben, war ein rundherum erfreulicher Anblick. Die Frisur war auch sehr gut, nicht zu frisiert, guter Haarschnitt, lässiger Schick, wie es mir auch gefällt! Dann das T-Shirt. Das war schon deswegen ganz prima, weil schwarz mit weißem Band-Motiv. So ein geblümter Totenkopf, mit dem man eigentlich nichts falsch machen kann. Des weiteren hatte ich mehr oder weniger bestimmt, dass wir uns im Brel am Savignyplatz treffen, wo man von Hause aus noch besser als sowieso schon ausschaut, wegen sehr guter Schummerbeleuchtung und geschmackssicherer Dekoration. Wir saßen nah beim Klavier, wo zu etwas späterer Stunde ebenfalls sehr dekorativ gespielt wurde. Ich hoffe, ich konnte Lisa dahingehend beruhigen, dass es für mich total okay ist, wenn wir uns nicht jedes mal und auch nicht jedes zweite mal und auch nicht sonst irgendwie regelmäßig verpflichtend treffen, wenn sie gerade einmal wieder in Berlin zu tun hat, was öfter vorkommt. Da bin ich nicht gram! Im Gegenteil, es entlastet mich sogar! Ich habe ihr auch gesagt, dass es mir viel zu anstrengend wäre, sie jedesmal zu treffen, wenn sie schon wieder da ist! Das ist ja gar nicht zu schaffen. Ich muss ja solche Erlebnisse immer ganz intensiv und gründlich verarbeiten, da käme ich gar nicht mehr hinterher. Auch bin ich - genauso wie sie selber - überhaupt kein Typ für ständigen Mail-Austausch oder sonstigen Kontakt. Oder womöglich telefonieren! Bitte nicht! Sie hat mir auch einigermaßen überzeugend versichert, dass sie mit ihrem Smartfon eigentlich nie telefoniert, nur eben so andere Sachen checkt. Ich denke, das war auch nicht gelogen, weil sie nicht der Typ dafür ist und es auch gar nicht nötig hat, mich zu belügen. So denke ich mir das. Es war ein ganz arg schöner Abend und ich kann mir gut vorstellen, dass wir uns spätestens in neun Jahren oder zehn, einmal wiedersehen. Würde mich total freuen. Wie ein Wiener Schnitzel! Ganz unter uns, habe ich mich aber auch deswegen so hopplahopp von heute auf morgen mit Lisa verabredet, weil ich eiskalt berechnend, ein bißchen Wienerisch hören wollte. Ich kann jetzt ja auch ein bißchen in Sachen Wien mitreden, wo ich selber da war, und es nun richtig zu schätzen weiß, mit dem Wiener Blut! Was ich gelegenheitshalber auch noch ausplaudern will, ist dass ich vielleicht doch noch einmal zur republica-Veranstaltung gehe, wenn ich sicher weiß, dass Lisa dort bei was mitmacht, was total gut sein kann. Dann fühle ich mich auch nicht so verloren, und weiß auf jeden Fall, dass mich etwas Lustiges dort erwartet. Wir haben aber nicht nur Blödsinn geredet gestern, sondern auch schon zwei, drei ernste Sachen. Mit Lisa kann man alles machen.
Ein Geburtstag in Berlin, privat. Ist so eine kleine Gratwanderung, was man schreiben kann, ohne die Privatsphäre zu beeinträchtigen. Nicht meine, aber es hat ja nicht bei mir stattgefunden. Wenn es ein öffentlich zugänglicher Ort wäre, hätte ich keine Scheu, zur Seite der Architekten zu verlinken, Details zu erwähnen, die gewissermaßen bauhistorisch hochinteressant sind, aber bei einem privaten Haus kann das geradezu heikel sein. Der Wiedererkennungswert ist einfach zu hoch. Also muss ich mich im Stillen daran erfreuen, dass ich das aus nächster Nähe sehen konnte. Man kann nur so viel sagen, man kommt nicht in so ein Bauwerk, ohne neugierig nach dem Architekten zu fragen. Aber weit draußen. Ich hatte mir zwar die Anfahrt - man muss fast schon schreiben Anreise, zwar mit allen Varianten von U-Bahn und S-Bahn und Bus und Fußweg ausgeguckt, aber dann bin ich doch der Bequemlichkeit halber einfach bis zum Ende der U-Bahnlinie gefahren und habe ein Taxi genommen. Ich war schon lange auf keiner größeren privaten Feier mehr. Es waren ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Geburtstagsgäste, von denen ich außer der Gastgeberin zwei näher kannte. Und Jan war einer von beiden.
Was ich ohne weiteres erwähnen kann, ist dass die Gastgeberin die schöne Idee hatte, in einer kleinen Ansprache jeden Gast vorzustellen, sie stand dabei eine Stufe höher in dem großen Wohnraum, der eine höhere Ebene hatte, wie eine kleine Bühne, und hat sich einen nach dem anderen Gast vorgenommen. Das ist natürlich sehr interessant, weil sie Sachen erzählt hat, die man auch gerne wissen will, aber vielleicht nicht so direkt immer gleich unter vier Augen fragen würde. Also wie jeder heißt und was er so treibt. Na gut, nach dem Namen zu fragen, ist jetzt keine große Sache, aber das Gespräch mit der Frage nach der Beschäftigung oder dem Beruf bzw. der Berufung zu eröffnen, finde ich immer ein bißchen polizeiverhörmäßig. Bei einer Vorstellung musste Jan kalauern. Er konnte sich die Bemerkung "Ach? Was denn für einer? Geheim-'Agent' oder was?" nicht verkneifen. Was auch noch mit Gelächter quittiert wurde. Aber der 'oder was' war eindeutig einer der bestgekleidetsten Männer. Ich habe ihn leider nicht fotografiert. Der andere bestgekleidete hat von Berufs wegen die selbstauferlegte Verpflichtung, eine gute Figur zu machen. Er erinnerte mich ein bißchen an Till Brönner. War er aber nicht. Es war also sehr nett, gleich ohne investigative Recherche zu wissen, wen man vor sich hat. Wenn ich jemals eine größere Feier machen sollte, werde ich das aufgreifen. Dass es nicht peinlich war, lag aber auch an der launigen Vortragsweise unseres Geburtstagskinds. Gut hat mir auch die Bezeichnung 'Neu-Erwerbungen' für neuere Freundinnen und Freunde gefallen.
Ich hatte mich ja ungeplanterweise, wie bereits ausführlich dargelegt, von der Mutter des Geburtstagskindes entführen lassen. Das war nicht nur deswegen interessant, weil ich eine weitere schöne Welt betreten konnte, sondern auch, weil die doch größere Unterbrechung nach der Rückkehr zur Feier eine dramaturgische Entwicklung aufzeigte, mit der ich so nicht gerechnet hätte. Als mich die Bildhauerin ansprach, ging es noch sehr gesittet und ein wenig brav zu, getanzt hat noch keiner, es wurde nur so ein bißchen im Rhythmus gewippt. Aber das knappe Stündchen, das ich weg war, hat dazu geführt, dass die Party richtig in Schwung kam und fast alle getanzt haben. Ich hoffe, dass es nicht meine Abwesenheit gebraucht hat, um die Sache anzukurbeln. Aber das ist denke ich, auch ganz natürlich. Wer fängt schon stocknüchtern an, wie wild loszutanzen. Sehr animierend war auf jeden Fall unser Geburtstagskind, das mit Sicherheit mit zwanzig Jahren auch nicht virtuoser getanzt hat. Es war schon eine Freude, ihr zuzusehen.
Nachdem ich mir auch ein bißchen den Verstand weggetrunken hatte, habe ich beim D-Jay tolle Lieder aus den Achtzigern bestellt, zum Beispiel so total unbekannte, insidermäßige independent-Sachen wie The Passenger von Iggy Pop. Was er nicht hatte. War eben zu ausgefallen! Aber sehr gut kam bei mir auch die Alternative "porque te vas" von Dings.... äh - wie hieß die - ? an. War lustig. Und dann Kraftwerk. Und "Jeans on". Ja, man könnte sagen, es war eine bunte, launige Mischung. Früher hätte man sich ja geniert, zu solchen Sachen wie Porque te dings und Jeans on auch nur den kleinen Zeh zu bewegen, aber ich muss gestehen, ich habe mich gut amüsiert. Bei Jeans on kann man zum Beispiel auch super so eine erzählerische Tanzperformance hinlegen, weil der Text ja sehr anschaulich gestaltet ist. ("When I wake up, in the morning light, I put on my Jeans, and I feel alright!") Super! Man müsste viel öfter einfach tanzen gehen. Wo ich sonst schon keinen Sport mache, wäre das eine echte Alternative, um rüstig zu bleiben. Wer rastet, der rostet! Eines ist sicher: wenn man älter ist, verliert man ein paar Coolness-Zwangsvorstellungen, die auch eine gewisse Einschränkung bedeuten. Ich hätte auch kein Problem, zu Ein Bett im Kornfeld zu tanzen. Das war außerdem meine Jugend. Schade eigentlich, dass das nicht kam. Aber er hat schon gute Sachen aufgelegt, das waren jetzt ein paar Extrem-Beispiele. Adriano Celentano kommt zum Tanzen auch sehr gut. Ah, diese Stimme! Da ist Testosteron drin! Besonders wichtig, weil das in einem gewissen Alter ja auch bei den Herren ein wenig nachlässt.
Es galt, die Zeit bis zur Mitternachtsstunde zu überbrücken, bis endlich der Magnum-Champagnerkorken knallen würde, denn es wurde ja hineingefeiert! Der größte und stärkste Mann hat zum gemeinsamen Countdown den Champagner in die Kelche fließen lassen und wir haben das Geburtstagskind dreimal hoch leben lassen. Es war ein bißchen wie Silvester, das ich dieses Jahr ja nicht groß gefeiert habe, genauso wie das Jahr zuvor und das davor und das davor. Usw. Eigentlich doch schön, so ein bißchen mit Wein, Weib und Gesang das Leben zu zelebrieren. Ich kann da noch etwas lernen. Das einzige, was ich nicht nachmachen würde, sind Polaroid-Fotos mit Blitz. Aber es war unterhaltsam, die Instant-Abzüge nebeneinander zu betrachten. Meine eigenen Versuche sind auch keine Meisterwerke, das ist schon alles arg verrauscht, aber dafür kann man die Atmosphäre gut erahnen und alles weitere bleibt diskret, und dem Reich der Phantasie überlassen.
Ich glaube, sie hat mich angesprochen. Aus natürlicher Scheu hätte ich sie nicht von der Seite angequatscht, zumal sie sich bestens und lebhaft unterhalten hat. Aber wenn ich einmal siebenunddreißig Jahre älter bin wie heute, so wie sie jetzt, dann traue ich mich das bestimmt auch, so eine jüngere Frau anzusprechen. Eigentlich traue ich mich es heute schon, wenn ich so darüber nachdenke. Wie alt sind siebenunddreißig Jahre jüngere als ich? Zwölf- bis Dreizehnjährige. Ja, das kriege ich hin. Bestimmt halten die mich für uralt. Nach der Begegnung mit der Bildhauerin, die mich sehr gefreut hat, bin ich zuversichtlich, dass es vielleicht gar nicht so schwierig und kompliziert ist, sehr alt zu werden und sehr beweglich zu bleiben. Man darf nur nicht aufhören, mit dem Bewegen. Ich versuche, einen möglichst diskreten Eintrag zu den Bildern zu verfassen. Es war am Wochenende in Berlin. So ein bißchen außerhalb, wo man ein ganzes Weilchen fährt, aber noch Berlin. Ich sage aber nicht, welche Richtung. Das ist streng geheim! Jedenfalls hatte ich eine Einladung zu einer Geburtstagsparty. Das Geburtstagskind ist das Kind von der Bildhauerin. Und die Bildhauerin hat mich mal für ein halbes oder Dreiviertelstündchen von der Party entführt. Schon alleine wegen ihres tollen Armreifs war mir gleich vollkommen klar, dass es bestimmt ein sehr sehenswerter Ort ist, an dem sie lebt, gleich nebenan. Und weil sie sogar zweimal gefragt hat, ob ich Lust hätte, es zu sehen, und ich zweimal "Ja!" gesagt habe, hat sie mich an die Hand genommen und nach drüben geführt, in ihr Zauberreich. Wo ganz viele Bilder und ganz viel Geschichte aus ganz viel Leben ist. Mehr darf ich jetzt aber nicht erzählen, obwohl sie mir sehr schöne Geschichten, auch anrührende und sehr persönliche erzählt hat. Und Fotos gezeigt. Ich hätte mich nicht getraut, einfach zu fotografieren, obwohl ich die Kamera über der Schulter dabei hatte. Die hatte ich sowieso bei mir. Aber als wir gerade im unteren Bereich, in ihrem Atelier waren, wovon es leider keine Fotos gibt, und sie mir eine phantastische Bohrmaschine aus dem achtzehnten Jahrhundert aus Gußeisen demonstriert hat, hat jemand wie wild an die Haustür geklopft (ich glaube, es gibt gar keine Klingel, was mir sehr gut gefällt, so prinzipiell), und da wurde die kleine Besichtigung unter vier Augen unterbrochen, was zuerst schade war. Aber dann war es Jan mit Manfred, der die Bildhauerin schon ein Weilchen kennt, also Jan, es ist quasi familiär, und wie er so ist, hat er sich und seinen Freund selber zur Besichtigung eingeladen und geniert sich auch nicht, gleich seine Absichtserklärung zu verkünden, dass er noch mal ein Portrait von ihr machen will, "...Nur mal gucken, wo!" Also sozusagen sehr charmant präsentierte, vollendete Tatsachen. Es ist schon sehr schwer, ihm zu widersprechen. Sie war auch sehr bereitwillig, hat sogar noch gefragt, ob sie die Lippen machen soll oder die Haare. Aber die Frisur war prima. Ich habe mich da ja ganz rausgehalten. Aber als er dann so vorgeprescht ist, und die Führung fast schon übernommen hat und auch gleich zur Tat geschritten ist, habe ich mich auch nicht mehr geniert und mich dann doch getraut, ein paar Fotos zu machen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es gemerkt hat. Bei ihm schon. Aber ich mache das so undercovermäßig und halte die Kamera ja nie vors Gesicht, dass man das schon mal vergessen kann, dass ich schon auch etwas mache, mit meiner Kamera. Deswegen gibt es jetzt doch ein paar Bilder. Aber nicht von allem. Man könnte ein ganzes Buch über dieses schöne Zuhause machen. Und über sie sowieso. Ich habe sie gefragt, wo wir noch allein waren, ob sie eine Beziehung zu Computern hat, weil sie mir geflüstert hat, dass sie vor ihrer Berufung zur Bildhauerin Mathematik und Physik studiert hat, aber alles schon sehr lange her. Sie meinte etwas entschuldigend, dass sie leider nur ein Ipad hätte. Ach so. Hm, ja. Das ist natürlich sehr bedauerlich. Nur so ein altmodisches Ipad, wo sie manchmal, wenn ihr etwas einfällt, was im Internet sucht. Hätte ich mir ja denken können. Es ist mir fast ein bißchen schwer gefallen, wieder zur Party nebenan zurückzukehren, weil ich gespürt habe, sie ist ein unerschöpflicher Quell, der gerade wieder zu sprudeln angefangen hat. Aber dann hatte ich auch Durst und wollte mich gerne einmal wieder bei der nicht minder zauberhaften Gastgeberin in dem anderen Häuschen zeigen. Wir sind dann gemeinsam wieder zurück zur Party, wo inzwischen wie wild getanzt wurde, was auch sehr schön anzuschauen war. Aber immer eins nach dem anderen.