17. november 2005

ich frage mich, ob ich das, was ich vor fünfundzwanzig jahren in diese damals so beliebten, stoffbespannten chinesischen tagebücher geschrieben habe, heute auf einer ähnlichen seite wie dieser schreiben würde. ich wäre vermutlich nicht blöd und hätte mit anderen fünfzehn- bis achtzehnjährigen zu tun, die ihrerseits durchs netz gurken würden und wäre vorsichtig. vielleicht wäre es dem, was ich hier und heute mache, nicht unähnlich. möglicherweise würde ich beides tun. ich nehme mir jetzt eines dieser alten tagebücher und schaue nach, was ich im november 1980 geschrieben habe.

es gibt keinen eintrag vom 17. november 1980. aber etwas später, vom 26. november. dieses akribische festhalten von erlebten augenblicken (heute baue ich auf mein gedächtnis und ein paar bilder). ich rekonstruiere darin eine für mich sehr besondere begegnung mit dem erwähnten jungen, dem besten freund meines bruders, mit dem ich in rust never sleeps war. schwer verliebt.

es gab kein sicheres aufeinandertreffen zwischen ihm und mir, keine verabredungen. alles geschah zufällig. und wenn es geschah, war ich hin und weg. er hatte seit zwei jahren eine freundin, die mich ganz gut leiden konnte, ich fand sie auch passabel und sah die annäherung zwischen ihm und mir als etwas davon unabhängiges, völlig eigenständiges. ich nahm alles hin, wie es war und wie es kam. und war je nachdem, dankbar oder traurig.

es ergab sich, dass wir an einem sommerlichen septembernachmittag den übungsraum seiner band gemeinsam verließen und durch den wald liefen. ich schrieb über diesen einen nachmittag in mehreren fortsetzungen. es hatte einen solchen seltenheitswert für mich, dass ich glaubte, dieses einmalige ereignis bis in die kleinste einzelheit festhalten zu müssen.

es ist doch sehr privat, auch nach so vielen jahren. es folgen wenige seiten später, grundsätzliche erwägungen über eifersuchtsgefühle, die mich zu dem satz verleiteten: ich finde geistigen betrug schlimmer. da war ich nun schon einmal in greifbarer nähe verliebt und fand mich in einer denkbar seltsamen konstellation.

die frage von oben ist beantwortet. wäre ich um einiges jünger, würde ich heute genauso wenig öffentlich ein intimeres tagebuch schreiben. ich habe ja auch damals niemandem daraus vorgelesen. ich schrieb für mich selbst, um mich besser zu erinnern und um über alles besser nachdenken zu können. dieses nur für mich schreiben, hat aufgehört. sechs oder sieben jahre mag es her sein. ich schrieb, seit ich elf war.



datenbank der sehnsucht. dann schrieb ich jemandem. und dann hörte es auf. bis dies hier entstand. eine neue ebene.
40something - Fr, 18. Nov, 11:20

Ich mag den Begriff "Datenbank der Sehnsucht".....

la gitana - Fr, 18. Nov, 17:31

Die lange Treppe hochgelaufen, gerade. Auf den Speicher. Eine Kiste geöffnet und das chinesich stoffbespannte Buch herausgenommen. Ecken in grünem Leder. Angefangen zu blättern.
Gläserne Kreisel, angetrieben von Neugier. Konventionen und Moral unschädlich gemacht, mit Ideen aus Seifenblasen und Watte, damit er nicht anstößt, der Kreisel.
Sich die Freiheit immer wieder nehmen.
Zu sagen: Geistiger Betrug ist schlimmer oder auch: Betrug ist das gar nicht. Wer weiß das schon.
Ich find das arg schön, dass Sie Privates hüten.

g a g a - Fr, 18. Nov, 20:28

ja

grüne ecken. blaue ecken. braune ecken. meine ersten zehn tagebücher waren alle aus dieser reihe mit dem bestickten damast und diesen orangefarbenen und rosa sonnen auf jedem blatt. dann hatte ich welche, die nur in diesen damast gebunden waren, ohne die ecken und ohne gekringel auf den seiten. und dann gab es diese schwarzen kladden mit den roten ecken. ein seltsamer geruch nach sandelholz entströmt beim umblättern den alten seiten.

ich hatte im ersten entwurf eine anmerkung, sinngemäß, dass es mir aus heutiger perspektive nicht mehr in den sinn käme, mit richterlichem pathos von betrug zu reden. das war zu jener zeit ein, in meiner jugendlichen lebensunerfahrung unhinterfragt übernommener begriff. mit fünfzehn ist das aber auch in ordnung. ich glaube, dass man den kontext kennen muß, um den satz im zusammenhang zu verstehen. ich habe ihn ein wenig herausgerissen. danach kommt ein nicht unwesentlicher halbsatz ...ist schlimmer, [ und das war es, was wir...] an jenem nachmittag geschah nicht das, was viele dachten, aber mir hat das was war, vielleicht noch mehr bedeutet. ich wusste aber, dass für seine freundin das sog. 'äußerste', der schwererwiegende grund für eifersuchtgefühle gewesen wäre, als das was war. ich empfand interessanterweise das, was zwischen ihm und mir auf einer nicht physischen ebene geschah, als tiefgehender, schwerwiegender, als das was ich zwischen ihm und ihr wahrnahm. eine für sie nicht greifbare ebene, ein unterirdischer treffpunkt.

ich träum’ ich treff’ dich ganz tief unten | der tiefste punkt der erde | mariannengraben, meeresgrund | zwischen nanga parbat, k2 und everest | das dach der welt, dort geb’ ich dir ein fest | wo nichts mehr mir die sicht verstellt | wenn du kommst, seh’ ich dich kommen schon | vom rand der welt (...)
kid37 - Sa, 19. Nov, 01:12

Halb OT: Vor längerer Zeit zeigten einige Blogger mal ihre Notizbücher. (Leider sind die weiteren Links tot.)

g a g a - Sa, 19. Nov, 15:43

die gibt es also immer noch. im nachlass meines bruders sind die meisten seiner tagebücher diese schwarzroten china-kladden. ende der achtziger jahre hörte ich auf, in bücher zu schreiben. ich begann auf a4 papier in unterschiedlicher qualität und farbe zu schreiben und bücher daraus zu binden. ein sehr aufwendiges verfahren, aber unvergleichliches ergebnis. achtundzwanzig bücher entstanden auf diese weise. eine große kiste mit material wartet in der ecke. es hört ja nicht auf, das spurensammeln. es wurde ein collagenhaftes visuelles experiment, mit überraschenden durchblicken zur nächsten seite, viel platz, um großformatige fundstücke wie zeitungsausschnitte, fotografien, getrocknete pflanzen einzuarbeiten, alles was das format nicht sprengt. die bücher haben das format von telefonbüchern. groß und schwer. peter beard macht etwas sehr ähnliches, nimmt dafür aber bereits gebundene bücher.
kid37 - Sa, 19. Nov, 22:26

Ja, Scrap-Books und Künstlerbücher, die führe ich auch. Reisetagebücher. (Auf Hiddensee kam ich leider nicht so recht zum Schreiben, vor lauter Schauen, Staunen, Ausruhen und Aufnehmen.) Zeitungsausschnitte, Gefundenes, Konzert- und Kinokarten, Fotos... Das fand ich übrigens das beste an "Sieben" (ich weiß, mit Brad Pitt): die Wohnung des Serienmörders, vollgestopft mit seinen Scrapbooks und Notizen. Bewahren, erhalten - umformen: "The transformation of waste is perhaps the oldest preoccupation of man." (Patti Smith)
L-9 - Sa, 19. Nov, 15:49

Danke fürs Erinnern! Hab meine hässliche Plastikkiste mit den ganzen Erinnerungen hervorgekramt. Teilweise Schulhefte, viele Din A4 Blätter, verschmierte Zettel, dunkle, verzweifelte Zeichnungen und 3 Büchlein. Alles ungeordnet - zerknüllt. Hab es sofort wieder zugemacht. Ich war damals sehr traurig und sehr zerrissen. Irgendwann werde ich es vielleicht lesen können, jetzt noch nicht. Ganz bestimmt hätte ich das alles damals nie öffentlich gemacht. Ich wäre keine Bloggerin gewesen.

g a g a - Sa, 19. Nov, 17:12

aber heb es auf. manchmal hat man jahre oder jahrzehnte später plötzlich eine sehnsucht danach, sich dem jungen menschen anzunähern, der man war. dann hilft es beim erinnern. manchmal braucht es nur eine kleine notiz oder eine konzertkarte und schon beginnt der film zu laufen. manchmal begreift man dann etwas.

ich verbrachte weihnachten und silvester 1990 in einem haus auf zypern, im gepäck alle tagebücher, die ich bis dahin geschrieben hatte. außer meinen büchern hatte ich nur noch eine jim morrison-biographie, ein paar klamotten und jede menge papier dabei. ich begann meine aufzeichnungen von anfang an zu lesen und schrieb passagen ab, die mir bedeutungsvoll erschienen. ich war da alleine in diesem großen haus und mir fehlte nichts, tief versunken in alte zeiten und gedanken. manchmal schaute der sohn des vermieters vorbei und fragte, ob ich etwas bräuchte. nein, nichts. but you stay in the house all the time, you never leave the house. what are you doin? (ich kam mir ein wenig vor wie greta garbo) I just want to be alone.

zuhause tippte ich alles ab und band daraus ein buch in zwei ausgaben. auf dem einband aus glänzendem weißem karton stand in gewaltigem arial black 'heavy going woman'. bei einer nächtlichen schiffsüberfahrt von harwich nach hoek van holland hatte ich im jahr zuvor einen englischen gitarristen getroffen, wir kamen uns in den sechs stunden der überfahrt skorpionisch nah und er sagte in einem ernsten moment "you're a heavy going woman". ein exemplar schenkte ich meiner besten freundin. das andere behielt ich für mich.
g a g a - Mi, 23. Nov, 19:01

& bilder bei lisa text im café

Tine Nowak - Mo, 10. Sep, 17:03

Tagebuch-Zitat

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