Ich nehme an, ich wollte das Fenster öffnen oder kippen, um frische Luft hereinzulassen und sah, wie man so sagt, wie vom Donner gerührt, zartvioletten Himmel und den tieforangen Reflex in der Scheibe vom obersten Stockwerk des renovierten Hauses, in dem unten das Al Contadino ist. Und dazu den Fernsehturm in einem femininen, lachsrosa Abendkleid, obwohl es doch gar kein Festival of Lights im April gibt. Die Kamera geholt, schnell Weißabgleich, damit die Farben nicht verfälscht werden, kein Stativ, denn bei so seltenen, überraschenden Himmelseindrücken gilt es, keine Minute Zeit zu verlieren. Ich fotografiere nicht mehr so oft aus dem Fenster. Man sieht hier ja eigentlich nichts, was man unter einem klassichen Sunset, Sonnuntergang versteht. Keinen direkten Sonnenball, der versinkt. Das habe ich oft genug fotografiert, mit der Silhouette der Synagogenkuppel im Westen. Das hier ist der Blick gen Osten, Südost und Norden, genau die Seite, die beim Sonnenuntergang als uninteressant gilt, die eigentlich Unspektakuläre. Aber diese Reflexe und Farben wollte ich festhalten. So einen zart violetten Himmel mit so tieforangen Reflexen in der Spiegelung habe ich in den dreizehn Jahren aus dem Fenster noch nie gesehen. Im Zeitalter von Instagram-Filtern, die über jeden noch so simplen Schnappschuss mit Zauberhand ein fast immer künstlerisch virtuos wirkendes, oft sogar subtiles, hochattraktives Farbspektrum legen, mögen solche ungefilterten Aufnahmen nicht mehr sonderlich beeindrucken. Aber ich weiß, dass die Welt aus meinem Fenster am sechsundzwanzigsten April genau so ausgesehen hat, ungefiltert. Auch wenn ich hastig unterwegs bin, gerade bei meinen Daily Shots, aber auch sonst, lege ich bei den Farbaufnahmen immer Wert auf den Weißabgleich, das naturgetreue Farbspektrum. Die einzige Filterspielerei, die ich mir erlaube, sind Schwarzweiß-Versionen. Ich bewundere oft die Ergebnisse, wenn jemand sehr subtil - subtil wohlgemerkt - mit Filtern arbeitet oder photoshoppt, das ist sehr, sehr zeitaufwändig, das weiß ich von Jan, der darin ein Meister ist. Wenn ich meine Bilder derart bearbeiten würde, gäbe es wahrscheinlich nur noch fünf bis zehn Bilder pro Woche hier zu sehen. Die Vielzahl, die ich hochlade, wäre nicht im Entferntesten machbar. Man wird wahnsinnig, wenn man ein Bild eine Stunde bearbeitet. Ich jedenfalls. Für andere, als meine privaten Zwecke war das ab und zu erforderlich. No fun. Ich hoffe natürlich, dass meine bis auf Helligkeit und Kontrast ungepimpten Bilder trotzdem Anklang finden. Mir ist der Flow-Charakter des Bilderflusses viel wert. Die fließenden Eindrücke, die vielen Standbilder meiner Tage.
Verrauscht. Bestimmt auf dem Sprung und keine Zeit genommen, die Empfindlichkeit optimal einzustellen, gedacht, was soll's, ein Bild, das letzte geht ja einigermaßen, reicht, Plan erfüllt. Wie schnell man sich zuweilen eine Marotte zulegen kann. Wenn die Motivation groß genug ist, legt man sich von heute auf morgen die verrücktesten Gewohnheiten zu. Ich überlege gerade, welche Gewohnheiten ich gerne ablegen würde, man sagt ja immer der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Eigentlich keine. Aber wenn ich nicht alleine wohnen würde, würde ich mir einiges abgewöhnen und zwar sofort. Aber im Grunde nicht wirklich gerne. Ich kenne das aus Erfahrung. Ich hatte immer mit Männern zu tun, die leidenschaftlich gerne zwei bis drei Stunden in meiner durchaus sehr gemütlichen Küche gefrühstückt haben. Ich hörte Ihnen auch immer gerne zu, alle redeten viel und gerne. Ich schon auch. Aber mehr hörte ich Ihnen zu. Die Nachfragen kamen eher von mir. Und die Kommentare von mir bezogen sich hauptsächlich auf Angelegenheiten und Themen, die sie auf den Frühstückstisch brachten. Wenn ich alleine in meiner Wohnung bin, also weitgehend alleine lebe, habe ich völlig andere Rituale, die nicht zu einer Beziehung passen würden, und die ich auch dann nicht kultivieren wollte, wenn diejenigen davon wüssten. Zum Beispiel das erwähnte, von mir sehr geliebte morgendliche Ritual mit meiner Psyche am Küchentisch zu sitzen und Kaffee zu trinken und mir die Haare zu föhnen und mich zu schminken und dabei Musik zu hören. Das wäre mir viel zu intim. Ich mag es nicht, wenn mir jemand zuschaut, wenn ich mich fertig mache. Maximal, wenn ich mich anziehe, das ist weniger intim. Das ist mir zu unromantisch, zu profan. Wenn ich freiwillig Gesellschaft suche, bin ich sehr zugewandt, wenn es mir zuviel wird, ziehe ich mich zurück und pflege wieder meine Marotten. Dann ist der Küchentisch außer zu diesem morgendlichen Ritual und zum Einkaufstüten darauf auspacken, verwaist. Aber wenn es sich selten einmal doch ergibt, ergeben sollte, kann ich den Tisch decken wie im feinsten Restaurant und lege auch alle erforderlichen Tisch-Manieren an den Tag. Ohne mich dabei anzustrengen oder zu verstellen. Das ist dann wie Tanzen gehen. Was tanzen wir heute? Drei oder fünf Gänge? Und zum Nachtisch? Was schreibe ich da denn wieder. Wahrscheinlich wollte sich von göttlicher Hand das Statement manifestieren, dass ich keine hoffnungslose TV-Dinner-Adeptin bin. Man arbeitet ja immer daran, ein tolles Bild von sich abzugeben, da gehören natürlich auch Tisch-Manieren dazu. Ich spare mir aber, ein Opus mit weißer Tischdecke, Stoffservietten und polierten Gläsern zur Beweisführung zu fabrizieren. Bzw. hätte das nur Sinn mit einem adäquaten Gegenüber, von wegen zugehöriger gepflegter Tisch-Konversation. Ich könnte natürlich einen Spiegel auf dem Tisch platzieren und mir gepflegt zuprosten. Zum Wohl, Frau Nielsen. Das wird dann doch etwas sehr Charlie Chaplin-mäßig. Vielleicht aber auch lustig. Ich wäre dann auch sicher ein wenig betrunken. Aber mit sich selber spricht man ja nicht wie mit einem Mann. Daran könnte es scheitern. Natürlich könnte ich mich auch verkleiden und beide Rollen spielen! Oder ich stopfe mein Charlie Chaplin-Shirt mit meinem Bettzeug aus und setze ihn mir gegenüber. Charlie hätte bestimmt amüsante Sachen zu erzählen. Wahrscheinlich würde er von seinen tollen nächsten himmlischen Filmprojekten erzählen. Ich würde ihm dann super Tipps geben, wie er das ganze noch erfolgreicher machen kann und ihn dabei fotografieren, von seiner besten Seite. Er würde mich dankbar angucken. Und mich nichts über mich fragen. Da bin ich mir sicher.
Ich guckte doch ein bißchen angeschlagen aus der Wäsche, am dritten Tag des Abwehrkampfs. Wenn man von jedem Tag ein Bild hat, kann man gut vergleichen. Gut, bringt mich jetzt hier und heute auch nicht unbedingt weiter. Was habe ich eigentlich damals gebloggt, am 25. April, was hat mich so beschäftigt und abgehalten. Mal gucken - - ah. Am 25. nichts, aber einen Tag vorher und noch viele Tage danach, die Etappen meines Besuchs im Zeughaus, in dieser gigantischen Ausstellung zur Geschichte unseres Landes. Bin ich entschuldigt. Darüber kann man nicht mal eben so instant-mäßig lapidar hinwegbloggen. Ich jedenfalls nicht.
Also eben doch wohl Halsweh! Am vierundzwanzigsten April war eindeutig ein bißchen Halsweh im Spiel, und demnach wohl auch am Tag davor. Es lässt sich eben alles rekonstruieren, wenn man sich nur ein bißchen auf sein detektivisches Gespür verlässt. So konsequent wird bei mir der Hals mit dem grünlich-grauen Schal nur eingewickelt, wenn etwas im Anmarsch ist. Damit gelingt es mir, dem nahenden Übel Einhalt zu gebieten! Aus mir nicht erklärbaren Gründen glaube ich ein bißchen religiös an das Oma-Rezept, man soll sich bei Halsweh einen Seidenschal umwickeln, das hilft irgendwie. Es ist dann auch nicht schlimmer geworden, ich war in diesem Jahr noch nicht richtig krank! Toi toi toi! Und natürlich Aspirin! Ich schwöre bei geringstem Vorzeichen auf Mega(!)-Dosen Aspirin, ein heißes Bad und so einen Halswickel, auch über Nacht und natürlich viel heißen Kaffee, Tee und-oder heißes Wasser und ordentlich Schlaf. Ging in den letzten vier Jahren jedesmal gut aus, also nach zwei bis drei Tagen Abwehrkampf wieder weg, ohne Ausbruch einer verrotzten Erkältung. Schal ist jedenfalls immer gut, ob aus flauschiger Baumwolle, Flanell oder Seide oder tollem, synthetischen Flausch! Oder meinethalben auch Kaschmir. Nur Wolle, so direkt auf der Haut ist mir zu kratzig, bin ich empfindlich! Ganz schlechte Erfahrungen habe ich hingegen mit diversen in Esoterikerkreisen populären Mittelchen wie Umckalabo oder wie dieser Quatsch heißt, gemacht. Das war im Frühjahr Zweitausendacht, wie sich meine treuen Leser erinnern werden, fast mein Untergang! Nur knapp habe ich seinerzeit die dramatischen Spätfolgen meiner tragischen Stimmlippen-Entzündung, welche aus einer nicht rechtzeitig angemessen medikamentierten einseitigen Mandelentzündung resultierte, überlebt. Ich will gar nicht daran denken. Also hören Sie bitte dringend auf meinen Rat. Apropos Dosierung Aspirin: bei Körpergröße ab - sagen wir - ein Meter zweiundsiebzig mindestens zwei auf einmal - im zwei- bis vier-Stunden-Rhythmus! Und mehr Schlaf als sonst! Sie wissen ja: wer heilt, hat recht! Also ich! Mit freundl. Gruß, Dr. med. Nielsen.
Ob ich dachte, das verwaschene Tuch wertet die Sache irgendwie auf? Oder Halsweh? Ich weiß es nicht mehr. Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine Tätigkeit als Bardame zu spektakuläreren Outfits führen würde. Andererseits: möchte ich mehr als eine Nacht mit einer Handvoll Betrunkenen verbringen? Und wie wirkt sich das auf den Teint aus? Ich kann mich ja noch dunkel erinnern, als ich in den Achtzigern als quasi Langzeitstudentin mehrere Semester im Studiengang Nachtleben hinter mich gebracht habe. Erstaunlich, dass das nicht schlimmere Spuren hinterlassen hat. Dafür bin ich doch recht gut in Schuss! Ein noch viel größeres Wunder ist allerdings, dass Anita Pallenberg und Keith Richards noch unter den Lebenden weilen. Die waren ja nun ganz anders unterwegs. Ich lese immer noch in Keiths Buch, kann noch dauern! Komischerweise langweilt es mich noch immer nicht. Sehr ausgiebig geht er auch darauf ein, wie er hinter Uschi Obermaier her war, mit der ihn bis heute noch eine innigliche Freundschaft verbindet. Wie Uschi ja auch immer erzählt. Ist also nicht gelogen.
Mein hundertfünfzigstes Rendezvous mit Charlie. (Ich arbeite schon mal ein bißchen vor, dann muss ich morgen nur zwei Tage hochladen! Ganz schön ausgefuchst. Um nicht zu sagen: raffiniert.)