24. Mai 2010



Die dritte Reise-Etappe, Mittwoch, 12. Mai 2010. Auf den Metadaten des ersten Fotos am Marktplatz von Schweinfurt sehe ich, dass es um zwanzig Uhr entstanden ist. Der große leere Marktplatz liegt wie ein kopfsteingepflasterter Tennisplatz vor uns. In der Mitte thront Friedrich Rückert. Irgendjemand hat ihm ein Piratentuch aufgesetzt, so sieht es wenigstens von unten aus.



Als ich das Foto zurück in Berlin auf meinem Monitor genauer betrachte, erkenne ich anhand des Rückert die Stirn kitzelnden Etiketts, dass es sich doch wohl eher um ein Herrendessous handelt. Schwarz. Mir ist wie Sonntag, aber es ist nur ein Mittwoch. Nicht, dass Sonntag mein Lieblingstag wäre, aber es ist so sonntagsruhig. Überall. Ich frage Cosmic, ob vielleicht ein wichtiges Fußballspiel im Fernsehen übertragen wird? Oder irgendetwas anderes die Leute irgendwohin treibt. Nein. Das ist hier um diese Zeit immer so leer. Seit ein paar Jahren. Alles aufgeräumt und sauber. Um zwanzig Uhr werden die Bürgersteige hochgeklappt. Es ist aber auch keine laue Mainacht, in der das aufwallende Blut einen mit aller Macht vor die Tür treiben würde, um am Rückertdenkmal Kontakte zu pflegen. Aber muss denn keiner mal von da nach da?



Ich nehme es heiter und sage, das Angenehme ist ja, dass keine unattraktiven Leute durchs Bild laufen, gut zum Fotografieren. Das Problem hat man ja manchmal. Wobei die wenigen Passanten und das sonstige Publikum keineswegs einen unattraktiven Eindruck macht. Die Bevölkerung wirkt bestens situiert und gut gekleidet. Man sieht keine abgerissenen Gestalten oder gar irgendwelche Freaks mit expressionistischen Kleidungsexperimenten. Später erfahre ich von einem von Cosmics früheren Bandkollegen, dass sich die etwas schrägeren Vögel am Stattbahnhof treffen. Cosmic machen die leeren Plätze in der Altstadt traurig, weil er sich an buntere und wildere Zeiten erinnert. Früher trafen sich die Jugendlichen am Rückertdenkmal, saßen darauf, davor... ich erinnere auch solche Treffpunkte meiner Jugend, weiß gar nicht wie die heute aussehen. Ich vermute, dass man sich mehr im Netz begegnet und dann gezielt von Tür zu Tür bewegt. Aber an einem laueren Abend ist es ganz bestimmt belebter. Irgendwie muss die Kopfbedeckung ja auf Rückerts Kopf gekommen sein.



Auf jeden Fall sah das Rückertdenkmal prächtig aus, mit unseren kleinen Informations-Merkblättern. Wie dafür gemacht! Wir hatten große Freude, die Sachen möglichst schön anzukleben.



"Und hier war das - und da war das..." Im Café Vorndran hat er seine halbe Schulzeit verbracht. Dort hat man immer alle getroffen. Cosmic erinnert sich und erzählt.



Zwischenstation beim Kunstkaufhaus und weiter zur Traumfüllung, die früher Füllbar hieß und die Cosmic mit aus der Taufe gehoben hat, sein Freund Micha, der Inhaber, ist leider nicht da, er hat den "Brückentag" genommen.



Und dann waren wir noch in so einem siebziger Jahre Rockladen im Keller, mit Wagenrädern an der Wand, Heuschoberzubehör, da wird noch ab und zu live gespielt, wir sind aber zu früh dran. Der junge Inhaber hat den Laden unverändert gelassen und erzählt, dass in den Achtziger Jahren Thomas Gottschalk mal Platten aufgelegt hat und Peter Maffay sei auch schon aufgetreten. Davon hat er aber nur gehört, er selbst ist zu jung, um sich daran zu erinnern. Cosmic hatte mit dem rustikalen Laden wenig zu tun, er gehörte einer anderen Szene an.



Ich fotografiere in irgendeiner Straße in der Altstadt das Pflaster, auf das Cosmic bedeutungsvoll zeigt. Dort hat ihm irgendein liebenswerter Spinner cosmische Gedichte in die Hand gedrückt. Wenn ich das jetzt nicht verwechsle...



Wohlverdiente Pause bei einem Weinlokal, wir stehen draußen, sind eine Weile die einzigen, die sich vor die Tür stellen, der Kellner bringt uns zwei Barhocker und den Wein. Es gibt Spätburgunder vom Kaiserstuhl, da kann man auch zwei Gläser vertragen. Zwei Herren gesellen sich zu uns, die letzten Raucher. Einer davon ist Cosmics Zahnarzt, dem er nicht verrät, dass sich gerade eine noch recht neue Brücke von ihm verabschiedet hat. Der Abend ist zu launig für solchen Alltagskram. Wir verteilen unsere Flyer und alle reagieren sehr herzlich auf uns beide Verrückten. Der andere Raucher gibt uns den Namen einer Bar, die keine Sperrstunde hat, in der Nähe des Schrotturms, in der man rauchen darf. Vorbei am Fischerrain. Cosmic zeigt auf die obere Etage eine kleinen Häuschens am Mainufer. Da hat er gewohnt. Wir fangen an herumzuspinnen, dass man eigentlich an all diesen wichtigen Stellen goldene Schilder anbringen müsste. Und zwar unter allen Umständen zu Lebzeiten. Wir gehen ein Stück am Fluss entlang und kommen an der Disharmonie vorbei, wo wir drei Tage später unseren Gig haben. Alles ist sehr familiär, man kennt sich. Ich mag den Raum gleich, in dem wir das Konzert machen werden und sehe, dass ich mir etwas anderes als ursprünglich geplant für meine Bilder einfallen lassen muss. Das ergibt sich dann zwei Tage später beim Aufbau wie von selbst.



Kreuz und quer durch den Stadtkern und zur Raucherbar am Schrotturm. Weiß gar nicht, warum wir uns immer noch so viel zu erzählen haben. Es hört nicht auf. Ich erzähle Cosmic von meinem Neffen Valerian, der irgendwas mit Film studiert und Klavier spielt und auf seinem Facebook Account als Lebensmotto "Ataraxie und Hedonismus" angibt und als Interessen "Arts and Rebellion". Gegen zwei trunkenes Verlassen der Bar. Rotwein. Viel. Die Entfernungen sind zum Glück nicht so groß. Cosmic holt seine Gitarre aus dem Auto in der Tiefgarage und setzt sich auf die Stufen des Georg Schäfer-Museums, um mir ein neues Lied vorzusingen. Es ist mein liebster Text von Friedrich Rückert, den er gerade vertont hat und mir vorsingen will. Es wird eine trunken schöne Performance auf den Stufen. Als er das Lied zum zweiten Mal gerade zu Ende singt, kommen ein paar Jugendliche vorbei, drei sehr hübsche Mädchen und zwei Jungs, die angetan stehenbleiben.



Und nun gibt es "Du bist mein Mond und ich bin deine Erde, du sagst, du drehst dich um mich, ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich werde, in meinen Nächten hell durch dich. Du bist mein Mond und ich bin deine Erde, sie sagen du veränderst dich. Allein, du änderst nur die Lichtgebärde und liebst mich unveränderlich. Du bist mein Mond und ich bin deine Erde. Nur mein Erdschatten hindert dich, die Liebesfackel stets am Sonnenherde zu zünden, in der Nacht für mich" zum dritten Mal mit Ovation. So großen Beifall fünf Menschen machen können. Trunken und schön. Ich hab die Kamera draufgehalten, aber es wird nicht veröffentlicht. Was für ein Tag. Was für eine Idee, hierher zu kommen. Eine gute.

[...]
cosmic - 24. Mai, 18:13

...

ja so war es...alles so gut und zutreffend beschrieben. nur dieser Spinner, das war ein Weiser, der da in Kesslergasse saß und mich magisch anzog. sein Auge, ich vergesse nie diesen Blick. Der Blick Gottes. Er hatte kopierte Blätter mit seinen Texten, die ich für einen Euro erwarb....bis auf einige wenige Blätter gingen die meisten Gedichte verloren, einige wenige Textblätter sind im cosmischen Archiv erhalten...

g a g a - 24. Mai, 18:21

Ich glaube (aber ich kann mich irren), du hast einen anderen Begriff benutzt, als du von ihm erzählt hast, du hast glaube ich gesagt, "der saß da wie ein Penner" aber mit einem sehr liebevollen Unterton und eben diesem Hinweis auf seine magischen Texte, ich wollte aber einen netteren Begriff wählen, weil man ja deinen Ton nicht hört, wenn ich schreibe. Deswegen schrieb ich Spinner. Das ist durchaus liebevoll gemeint. Aber es wird ja jetzt durch deinen Kommentar relativiert.

Vielleicht hab ich ja auch noch irgendetwas Wichtiges vergessen, weil ich kein davon Foto machte... ich fotografiere ja nicht immer. Eine Strecke in der ich gar nicht zu sehen bin, fällt mir auf. Man könnte denken, ich habe mich vergessen, selbstvergessen... Aber ich mochte das so, du in diesen dir vertrauten Ecken und Plätzen, das ist in anderer Weise historisch, als mich dort zu sehen. Das musste endlich einmal sein. Man sieht ja meinen besonderen Blick auf dich. Nur meine Kamera sieht dich so an. Nur auf meinen Bildern siehst du aus wie ein Anführer der französischen Revolution. Meine Kamera will mit dir immer Bilder machen, die nach Rebellion in Paris aussehen. Die hat einen Tick. Einen sehr schönen allerdings, wie ich finde. Romantik, Liebe, Rebellion eben.

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