06. November 2024



Nachfolgend meine Gedanken, mein Antwort-Kommentar auf die sehr lesenswerte heutige Kolumne von "Mitte-Schnitte" Saskia über ihre Kindheit im Osten und den damaligen Zauber von Milka und Milky Way und den Geschmack von grenzenloser Freiheit:



"Deine vielen Erinnerungen rühren mich. Auch, oder gerade, weil ich auf der anderen Seite, im Westen war - mit einem Teil der Familie in Ostberlin, für die ich mit meinen Eltern als Kind die Westpakete in die "Ho-Chi-Minh-Straße" (heute Weißenseer Weg) bestückte. Unsere Verwandten haben nie um West-Pakete gebeten - es war viel mehr so, dass sie von meinen Eltern und meiner Tante geradezu gedrängt wurden, uns mitzuteilen, welche Sachen schwer zu bekommen sind, mit denen man ihnen eine Freude machen könnte. In jedem Paket waren Nylon-Strumpfhosen, Jacobs-Kaffee "die Krönung", Milka-Schokolade, Ritter Sport, Sarotti und bestimmt auch Schogetten. Schokoriegel wie Milky Way aber nicht, damit verband meine Familie eher ein neumodisches Kinkerlitzchen-Produkt für Kinder. Fällt mir jetzt erst auf, dass ich mir Schokoriegel wie Snickers (mein Favorit) immer selber gekauft habe. Oft kam die Rückmeldung aus Ostberlin, dass das Paket augenscheinlich vor der Zustellung geöffnet und wieder zugeklebt worden war, ebenso die Briefe. Alles wurde genau untersucht.



Dass ein Telefon ein Luxus für Ost-Familien war, hatte ich auch vergessen. In dem Brief von der Ostberliner Großtante an meine Eltern von 1963, den ich neulich gepostet hatte, war am Ende des Briefes die Nummer vom Telefon-Anschluss vermerkt, den sie hatten. Aber da hatte die Familie meines Wissens noch gar keine besonderen Kontakte. Wenn ich die Geschichten und Mitteilungen aus Ostberlin hörte, entstand bei mir vor allem der Eindruck einer starken Überwachung und Vorsicht bei der Kommunikation Richtung der West-Verwandten. Aber der Lebensstandard wirkte auf mich nicht so bedauernswert und auch gar nicht stark von dem meiner eigenen Familie abweichend - wir hatten ja auch nur eine Doppelhaushälfte, keine Villa und Mama achtete auf Sonderangebote. Ich hatte in den Siebzigern anfänglich "Jingler"-Jeans von C & A statt der begehrten, viel teureren "Wrangler", bis ich mich bockig durchsetzte.



Und da unser Ostberliner Onkel Wolfgang als gefragter Jazz-Drummer nicht nur mit Manfred Krug spielte, sondern bald zum Reisekader gehörte, um mit Günther Fischer und anderen Jazz-Formationen zu Festivals ins westeuropäische Ausland reisen zu können, schien es ja doch irgendwie nicht so schlimm zu sein. Der kam mehr rum, als mein ebenfalls musizierender Vater im Westen. Aber das war natürlich eine privilegierte Konstellation, die nur Politiker, Sportler, Wissenschaftler oder Kulturbotschafter aus der DDR hatten.



Zur Zeit des Mauerfalls arbeitete ich in Steglitz, wo die große Einkaufsstraße, die "Schloßstraße" liegt. In den Mittagspausen ging ich oft dort entlang, kaufte ein oder ging in eines der Kaufhäuser oder vielen Schuhgeschäfte, die sich dort wie auf einer Perlenkette aneinander reihten. Nach dem 9. November 1989 war die immer schon gut besuchte Schloßstraße dermaßen mit neugierigen Ostberlinern bevölkert, dass man kaum noch Platz auf dem Gehsteig fand. Ich bekam einen sehr starken Eindruck von den Unterschieden im Kleidungsstil. Damals waren stone-washed Jeans gerade aus der Mode gekommen und die Ossis trugen sie stolz. Nachhaltig! Und viele beige Jacken. Und einmal kam mir ein älterer Mann entgegen, der hatte eine fast leere Plastiktüte in der Hand, trug sie, als wäre sie eine feine Ledertasche. Ich weiß nicht mehr, ob sie von Aldi war oder einem anderen West-Supermarkt. Ich erkannte das veraltete Logo, so sahen die Tüten des Ladens schon seit vielen Jahren nicht mehr aus. Die Farben waren bereits verblichen, sie war auch leicht geknittert. Wie eine Reliquie aus einem Museum. Das rührte mich dermaßen, dass mir die Tränen kamen. So viel Wertschätzung für eine Plastiktüte aus dem Westen.

Danke für Deine Erinnerungen, Saskia.



P.S. Gerade fällt mir ein, ich hab das Silber-Papier der Milka-Schokolade auch immer vorsichtig aufgemacht und dann mit dem Daumen-Nagel glatt gestrichen. Das sah so schön aus. Weiß aber nicht mehr, ob ich danach irgendwas damit gemacht habe. Mir entfallen... aber ich hebe heute noch schöne Schokoladenverpackungen auf und verwurste Teile davon manchmal in meinen Bildern
🙂"
g a g a - Do, 7. Nov, 19:57

Saskia Rutner
Liebe Gaga, dein Kommentar hat viele Erinnerungen in mir wachgeküsst – danke Dir dafür! Sarotti-Schokolade – heute wie mir scheint total vergessen oder gedanklich ins „Billig-Regal“ geschoben – war neben Milky Way das Objekt meiner Begierde! Ich hatte einen Onkel Fritz – war ein Gartennachbar meiner Eltern, kein wirklicher Verwandter – der durch Westkontakte ab und zu Sarotti-Schokolade hatte und sie mir schenkte. Ich durfte nicht betteln, hatten mir meine Eltern strengstens verboten, deshalb sagte ich einfach nur „Onkel Fritz, ich hab einen Hunger auf Schokolade“ und er rückte die Sarotti raus. Es ist Jahre her, da hab ich mir mal eine Sarotti-Schokolade gekauft, um die ultimative Kindheits-Schoko-Westaroma-Nostalgie zu feiern, aber sie schmeckte nach nischt.

Ich musste so lachen über die „Jingler“-Jeans von C&A statt der coolen Wrangler. C&A fand ich als Ossi-Kind toll, ebenso Woolworth. Dass letzterer mal für mich ein Ramsch-Laden sein würde, hätte ich als Kind nie gedacht!

Danke für das Teilen des Briefes von 1963 aus dem Nachlass deiner Mama. Wie Anne schreibt, dass man hoffentlich recht bald wieder ungehindert reisen kann und dass sie den Mut nicht sinken lassen, das ist in der Rückschau noch bewegender.
Und wie du es schreibst, dein Onkel Wolfgang als Jazz-Drummer von Manfred Krug (wie cool!! Und auch hier: Ich liebe diese Alben, kennengelernt durch Karl Neukauf) war als solcher privilegiert. Ich frage mich manchmal, was mit mir passiert wäre, wenn ich erwachsen geworden wäre in der DDR. Schauspiel-Studium an der Konrad Wolf in Babelsberg? Laufbahn als Künstlerin in der DDR? Verlockung, auszureisen? Hätte ich wegen meiner Eltern niemals übers Herz gebracht – unterstelle ich mal meinem Fantasie-Erwachsenen-Ich in der Zone.

Ich habe gerade ein schönes Bild vor mir: Vielleicht sind wir beide zur Zeit des Mauerfalls auf der Schloßstraße aneinander vorbeigelaufen! Da waren wir oft als Familie, ebenso im Europa Center 😂 Auf der Schloßstraße habe ich mir meinen ersten Kassettenrecorder gekauft! Mit meinem ersten selbst verdienten Geld als Kinderkomparsin in einer TV-Serie mit Anja Kling. Die Schloßstraße liebte ich – und das Eis von „Da Dalt“ (Das es ja immer noch gibt – Wahnsinn! 😃)

Das ist schön, wie du den älteren Mann mit der fast leeren Plastiktüte beschreibst, die er wie eine feine Ledertasche trug – ja, so war es!

Ey Gaga, jetzt habe ich ja hier schon wieder nen Blog geschrieben! Und worüber schreibe ich dann nächste Woche?!

PS: Ich werde in deiner Kunst jetzt immer nach Teilen von schönen Schokoladenverpackungen Ausschau halten 🍫🤗

Gaga Nielsen
Liebe Saskia, danke für den ausführlichen, schönen Kommentar. In dem Bild hier (im Eintrag en detail beschrieben), ist ganz viel Schokoladenverpackung! 🙂

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