09. Oktober 2023

Im Frühjahr las ich "Die Liebe in groben Zügen" von Bodo Kirchhoff. Ich erwähnte die Lektüre und was mir daran nicht zusagte, in einem Eintrag am 3. Mai 2023. Was ich damals leicht genervt schrieb, wird dem Werk aber nicht abschließend gerecht. Ich fand nämlich durchaus einige Passagen, die mich bewegten und bis zum Ende dranbleiben ließen. Die Routine, die Franz von Assisi-Passagen konsequent zu überblättern, hatte ich beibehalten. Ich habe die Angewohnheit an Stellen, die ich bemerkenswert finde, ein Eselsohr zu knicken, um noch einmal darauf zurückzukommen, wie jetzt mit diesem Eintrag. Hier kommt der erste Teil der Passagen in Kirchhoffs Buch, die mir gut gefielen.


S. 12

Beide kennen sich seit Ewigkeiten, ihre eigenen Worte. Vila wurde schwanger, und man blieb zusammen, gleich um Geld bemüht. Er, anfangs Filmkritiker, geht zu Drehbüchern für Vorabendserien über, sie, irgendwie beim Fernsehen, PR-Arbeit, schafft den Sprung in ein Kulturmagazin, Mitternachtstipps. Da ist Katrin, die Tochter, schon in der Schule, ein Haus am größten See Italiens (dem Kleinen Meer) zur Hälfte bezahlt, und sie wohnen in der häuslichsten Ecke Frankfurts, ruhige Straßen, nach Malern benannt, schöne Altbauten, hohe Bäume, das nahe Mainufer und seine Museen; nah auch die lebhafte Schweizer Straße, ihre Lokale, ihre Läden. Dazu ein Kreis von Freunden wie komponiert, besonnene Paare mit ein, zwei Kindern, Ärzte, Therapeutinnen, Medienleute, Gründer kleiner innovativer Firmen - gemeinsame Abende, gemeinsame Urlaube, ein Leben, für das es kein Ende zu geben scheint. Alles, was uns zerstören kann, existiert bereits, sagt Renz gern, wenn er beim Aufräumen der Küche weitertrinkt. Der Mensch, den wir mehr lieben werden, als er uns liebt, die Wahrheit, die einen fertigmacht, das Messer, in das wir rennen.


S. 101

LIEBE kommt auf uns zu, nicht andersherum, wir können ihr nur davonlaufen, sie als trauriger Sieger abhängen, oder den Atem anhalten, wenn sie plötzlich wie etwas Drittes neben uns und dem anderen steht: ein Schrecken fast ohne Vorzeichen, wohl der heilsamste, den das Leben bereithält.


S. 209

DAS Dilemma jedes Erzählens: ganz bei den Tatsachen bleiben, auf die Gefahr hin, nichts Besonderes zu erzählen (Das ist der Herbst, willkommen in der Pfalz ...), oder eine eigene Wahrheit schaffen, mit dem Risiko, dass andere sie abtun können, als pure Erfindung. Was bleibt einem bei dem Dilemma? Man kann nur schweigen oder weitererzählen, und dann hilft es, wenn Fakten und Erzählerwahrheit gelegentlich ein und dasselbe sind.


S. 215, 216

"Es gibt mich wieder, seit es dich gibt" - schöne Worte, keine beruhigenden. Und Worte, die man nicht speichern musste, die sich von allein einbrannten, in einem weiterwirkten, andere Worte erzeugten, ich weiß jetzt, was ich bin für dich, nur weiß ich nicht, was daraus folgt, ich weiß ja nicht, wer du bist, es geht mir wie dem Erzähler, der sich in seine Figuren tastet und ihnen nur andichten kann, was er mit sonst wem erlebt hat oder von sich selber kennt, mit der Möglichkeit, dass es am Ende nicht passt, kein Ganzes ergibt, nur scheitert. "Dich auf der Welt zu wissen, tut gut", schrieb er zurück. "Ich esse real und küsse in Gedanken, B." Etwas mehr als eine Kurznachricht, schon ein Billett, so expressiv wie alle Botschaften zwischen Liebenden, die Breitschaft, sich in einen Rausch zu stürzen, auszuliefern.


S. 241

Sie nahmen die Autobahn Richtung Rom, eine Tour im Regen, man sah fast nichts, die Beifahrerin hatte den Kopf an der Fahrerschulter, ein Wagen ohne Konsole, zwischen den Vordersitzen die Handbremse, sonst nichts; bis zur Ausfahrt Perugia nur das Geräusch der Scheibenwischer, dann sagte Vila "Komm, erzähl mir etwas": die alte Bitte, wenn der andere noch ein Rätsel ist, und Bühl erzählte von seiner Nacht im Freien, fast verpasste er die Straße nach Assisi.


S. 293

Sie lachte mit ihrem breiten Mund, und er küsste den Mund: den Teil von ihr, den er retten würde, wenn ihm ein Gott die Chance gäbe, sich etwas auszusuchen zwischen Sohle und Scheitel, das durch seine Wahl überlebt - war er verzweifelt, weil es diesen Gott nirgends gab? (...) In Marlies' Nähe fiel er in eine Art Traumwelt, in ein Leben hinter dem Leben, als Renz im Wunderland. Er war nicht Mitte sechzig, er war sechs oder sieben, nur ohne Eltern. Sein Vater, der noch im Krieg war, zuletzt in Belgien, der belesene Allgemeinarzt, der alles wusste und nichts ändern konnte, war mit Mitte siebzig an Prostatakrebs gestorben, da blieben ihm keine zehn Sommer mehr am See. Und auch wenn es weit jenseits der Siebzig passierte, würde er noch ohne das Polster der Weisheit sterben. Nicht das wahre, das gefühlte Alter, von dem alle reden, flößte ihm Grauen ein. Er würde bis zum letzten Atemzug am Leben hängen, am Sehen, am Spüren, am Haben: dass er jemanden streicheln wollte und einen Mund wie Marlies' Mund küssen, Blicke sehen wollte, die ihm galten, ihm allein, und den Sommer in seiner Fülle erleben, einmal und noch einmal und immer wieder.


S. 308

Die drei Uraltpaare hatten jedes Jahr ihre Uralttische beim Frühstück und ihre Uraltplätze am Strand, Paare ohne Kinder oder mit erwachsenen Kindern, seit Jahren über Weihnachten in dem Hotel und von Vila und Renz mit speziellen Namen versehen. Nummer eins: das Paar des Grauens, Italiener, sie spindeldürr mit Leopardenleggins und Plateauschuhen, eine Greisinnennutte, er mit geschwärzten Locken, Flickenjeans und Goldkettchen an jedem Gelenk, ein Greisenzuhälter. Dann das Norman-Rockwell-Paar, wie von dem berühmten Illustrator gemalt, zwei Alte aus Houston im ewigen Golfdress, die gern ihre Ansichten über die Verbrecher in Washington und den New Yorker Künstlersumpf loswurden. Und drittens: das Idealpaar, aus genau diesem Sumpf, beide schlank und faltig, der Mann mit Stirnband und einem Lächeln wie Ben Gazarra in The Killing of a Chinese Bookie, sie mit gewaltigem Haar, immer eine Tasche voller Bücher dabei, als hätte Susan Sontag ihre Krankheit überlebt. Und die drei saßen auch schon auf der Frühstücksterrasse, als Vila am anderen Morgen Kaffee bestellte, vor sich nur den Strand und ein glattes Meer, bis Renz dazukam und sie plötzlich Uraltpaar Nummer vier waren, jeder für sich noch ansehnlich, ein Bild von Frau und Mann, aber zusammen das Anti-Paar, mit seinen Strandliegen oft meterweit auseinander und abonniert auf das größte Zimmer in dem kleinen Hotel.


S. 415

Eine großartige Idee, sagte Renz, das war schon nach dem Espresso, als er dem Gast noch die Wohnung zeigte, ihr gehobenes Zuhause inmitten einer Stadt, die als Transitgebilde für Leute galt, die nur ans Weiterkommen dachten, ein Gang, den Vila nicht mitmachte, weil sie seine Wohnungs- und mehr noch die Hausführungen hasste, für ihn noch einmal Gelegenheit, auf Marlies zu kommen - eine schwierige Frau, nicht wahr, auch für Sie? Renz strich an den dunklen, grabsteinhaften Flurregalen mit all seinen ausgedienten Büchern über Filme und Schauspieler, Regisseure und Kameramänner entlang, und die Antwort ein O ja, als er schon die Tischlampen in den vorderen Räumen anmachte, Räume, in die die Sonne nur am späten Nachmittag ein paar schräge Strahlen schickt: Vilas nüchterne Sicht. Also hielt er mit den vielen Lampen dagegen, jede mit warmem Schein, von safrangelb bis blassrot; er hatte auch die Möbel gewählt, passend zur alten Stuckdecke, eine Mischung aus nachgemachtem Biedermeier und Jugendstil und auch halbherzig Neuem wie großen Schwarzweißfotografien anstatt Bildern. Und in der Gegend brauchen Sie nicht einmal Sicherheitsschlösser, sagte er. Der einzige Ärger ist die Parkplatzsuche. Wie ging das mit Marlies auseinander, ungut? Renz nahm eine Flasche Grappa von einem der falschen Jugendstiltische, er füllte drei Gläser und reichte eins weiter, Kilian-Siedenburg roch an dem Grappa. Was geht schon gut auseinander? Es hat nicht einmal richtig gut angefangen.

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Lydia G. Wow. Also...
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Margarete 16. Mai...
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Cosima Wald Herrlich...
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Da blutet mir ja das...
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