14. November 2011

(...) Paul Graetz beugt sich nach vorn, wo Knackfuß sein Ohr hat. »Der liebe Gott«, flüstert er. »Ringelnatz ...« Wie bitte? »Das ist Ringelnatz - - pscht!« Ringelnatz? Wie heißen bloß die Leute hier!

So alle paar Jahrhunderte wird ein Lyriker geboren, bei dem die Verse kichern, aber sie haben sich nicht die Tränen aus den Kommas gewischt. Jetzt können wir wieder zwei Jahrhunderte warten.

Diese Verse - ! Sie sind alle so zum Schreien komisch, - aber, werte Herren, was sie so traurig macht, das können Sie auch mit Alkohol nicht herausreiben. Er selbst war, wenn er die Bühne betrat, mit dem ewigen Schnapsglas wie bewaffnet, um sich Mut zu machen. Mut? Wozu?

Ach, wissen Sie, es erfordert Mut, anderen das Gelächter der Einsamkeit mitzuteilen. Es gibt da allerhand zu überwinden. Unter anderem den kleinen Scherzartikel: Scham.

Friedrich Hollaender, Von Kopf bis Fuß, S. 81

14. November 2011

Mal ein bißchen Farbe. Ist auch gar nicht grau hier. Sonniger November. War bis jetzt nur einmal wolkig, vor drei oder vier Tagen.



Es gibt jeden Tag ordentlich Sonnenflecken auf dem Teppich. Wenn ich das Fenster der Gaube zur Auguststraße aufmache und die Sonne so tief steht, kriegt man ein paar Stunden schön was ab. Und muss nicht frieren. Draußen sind die Menschen warm eingepackt, gehen aber gerne raus, weil die Sonne lockt. Sehe ich, wenn ich zum Spielplatz runtergucke. Immer ordentlich was los.

Zur Zeit muss ich sparen. Ich habe einen super Sparplan gemacht. Ich darf in sieben Tagen fünfzig Euro ausgeben. Bis der Monat rum ist. Die fünfzig-Euro-Scheine sind in beschriftete Umschläge verpackt. Solche Spielchen gefallen mir. Neulich war ich sogar bei Aldi und habe mit großer Begeisterung meinen Einkaufszettel abgearbeitet und dabei immer mit einem Stift Notizen gemacht, wieviel das kostet, um zwischendurch zu überschlagen, ob ich noch in meinem Budget bin. Ich habe dann bald gemerkt, dass keine Gefahr besteht und drei Sachen vor der Kasse aufgehört, zu addieren. Das mache ich jetzt immer, das macht Spaß! Zumindest für ein Weilchen. Am Schwierigsten finde ich allerdings, nicht nur bei Aldi, die Käsepreise zu vergleichen. In jeder Packung ist ein anderes Gewicht abgepackt und auf den Schildern steht immer sowohl der absolute Packungspreis als auch der Preis für 100 Gramm oder 1 Kilo von der jeweiligen Käsesorte. Das macht mich ganz wuschig, dass das nicht einheitlich ist! Dauernd muss man umrechnen! Das ist ganz schön anstrengend. Aber sonst gibt es keine Probleme beim Preisvergleich. Ich achte natürlich trotzdem auf Qualitätsprodukte! Interessant, dass Cashewkerne, die ich in großem Umfang verzehre, auch bei Aldi nicht superbillig sind. Das ist ganz bestimmt angemessen. Ich glaube, eine Dose 1,59 EUR.

Sehr begeistert bin ich, dass es zur Zeit immer Beutel mit Elstar-Äpfeln aus Brandenburg oder anderen umliegenden Bundesländern zu tollen Preisen gibt. Das ist meine Lieblingssorte und die Äpfelchen sind vertrauenserweckend klein und krumm und schief. Das schafft Vertrauen! Empört hingegen bin ich über die neue Marotte bei den anderen parfümierten Apfelsorten aus dem Ausland, die ich eh nicht kaufe, weil sie mir nicht schmecken, mit ihrem aufgeplusterten Fruchtfleisch und dem parfümierten Zuckerwasser-Aroma: Aufkleber auf jedem einzelnen Apfel! Als es neulich noch keine neue Elstar-Ernte gab, musste ich mal notgedrungen solche ausländischen erstehen. Was für ein Gepopel mit dem Aufkleber. Ich bin richtig zornig geworden deswegen!

Was ich nicht mehr bei Aldi kaufen werde, ist der tiefgefrorene Rahmspinat, der ist mir zu versuppt. Ohne Rahm gibt's nicht bei Aldi. Spinat ist super wegen Magnesium. Auch in den Cashews! Soll auch gut sein, wenn der Eisprung weh tut. Das ist also, was mich gerade so persönlich beschäftigt! Ansonsten verzichte ich weitgehend auf soziale Kontakte, was als seelische Rekonvaleszenz zu verstehen ist. Eine Art Kur!

Des weiteren überlege ich mir, ob ich mir mal wieder Haarfarbe im Drogeriemarkt kaufe, weil die unteren Haarspitzen so ausgeblichen ausschauen. Nicht mal wegen den grauen, die ab und zu auftauchen. Noch hat keiner mit dem Finger auf mich gezeigt und gesagt: "Schau mal, die alte Frau da hinten". Insofern bin ich da ganz relaxed. Außerdem gibt es immer mal wieder ein paar investigative junge Leute am Hackeschen Markt, die den Passanten irgendwelche Spenden oder Mitgliedschaften für wohltätige Initiativen abringen wollen. Kinderschutz, Tierschutz, Amnesty International. Und einige arbeiten mit dem Trick, einen mit "junge Frau...!" anzusprechen. Das funktioniert zwar nicht bei mir, aber ich freu mich trotzdem! Und ich werde immer geduzt von den jungen Studenten! Ich habe ja mal gelernt, dass laut Knigge, der oder die Ältere dem Jüngeren das Du anbietet. Von Hause aus duzen macht man ja eigentlich nur unter Hippies und SPD-Genossen und in der Jugend, wenn man sich sicher wähnt, es mit seinesgleichen zu tun zu haben. Insofern: vielen Dank an die jungen Studenten!

Neulich war ich allerdings ein wenig ungehalten. So ein junger, obzwar nicht unattraktiver Kinder-Patenschaften-in-Afrika-Werber hat sich irgendeinen Satz zurecht gelegt, so sinngemäß (und hat sich im Übrigen e r d r e i s t e t , mich zu siezen, der Lümmel): "Sie mögen doch sicher auch Kinder?" Da ich es wie so oft eilig hatte, so schnell als nur möglich zurück in meine einsiedlerische Wohnung zu kommen, war ich nicht verhandlungsbereit und habe behauptet "Nein! Ich kann Kinder nicht ausstehen! Ich fresse Kinder!" Er daraufhin: "Ja aber dann ist das doch genau das Richtige! Sie machen so eine Patenschaft und dann haben Sie eins zum Fressen!" Und grinst mich breit an. Damit hat er mich natürlich versöhnlich gestimmt und ich habe ihm zum Abschied ein aufmunterndes Lächeln geschenkt. Geradezu beschwingt bin ich weiter zur Ampel. Allerdings ohne Patenschaft.

Also mehr habe ich jetzt wirklich nicht zu berichten. Zu intimeren Bekenntnissen bin ich im Moment nicht bereit. Wobei ich nicht dafür garantieren kann, dass nicht doch etwas zu Tage tritt, wenn jemand geschickt nachbohrt. Ich bin aber auf jeden Fall in Hab-Acht-Stellung!

14. November 2011

[ Ich muss den Eintrag von vorhin nochmal neu posten, weil ich schon wieder was hintendran geklöppelt habe. Passiert manchmal, dass mir eine halbe Stunde später noch Zeug dazu einfällt und ich dann editierend weiterstricke und der geneigte Leser kriegt es gar nicht mit. Das stiftet unnötige Verwirrung! ]

Bei meinem morgendlichen Spaziergang durch das Internet sehr gerührt bei der Rubrik "wir begrüßen die neuen Berliner" oder so ähnlich von der Berliner Morgenpost angehalten und freudig einen Blick auf die neuesten Babyfotos geworfen. Entweder stimmt irgendwas nicht mit mir oder die meisten Neugeborenen sehen wirklich nicht sehr attraktiv aus bzw. ist der Anteil an ansprechenden Gesichtszügen keinesfalls höher als in anderen Altersgruppen. Unter den ungefähr zwanzig Babies waren ungefähr eineinhalb, die für meine Begriffe eine angenehme Persönlichkeit ausstrahlen und das sogenannte Kindchenschema im Gesichtchen präsentieren. Hat mich doch überrascht. Entspricht aber auch meiner live-Erfahrung in der S-Bahn. Die meisten Kleinkinderbündel sind nicht gutaussehender als der durchschnittliche erwachsene S-Bahnfahrgast.

In meinem persönlichen Umf entfernteren Bekanntenkreis gab es in den letzten Monaten ebenfalls Kindersegen. Ist leider auch keines dabei, das ich unbedingt hüten möchte. Ich habe da wahrscheinlich auch komische Vorlieben. Mich selber fand ich als Kleinkind außerordentlich putzig. Auch die Kinderfotos, die Blogger neulich von sich gepostet haben, waren überraschend attraktiv. Man bekam gleich Adoptionsgefühle. Ich bin ein bißchen hin- und hergerissen bei der Babygalerie in der Mopo. Einerseits tun mir die betreffenden Babies leid, dass ich sie nicht niedlich finden kann, andererseits denke ich, da sieht man mal, dass das mit der Reinkarnation vielleicht doch kein Humbug ist. Als ob jede Menge alte Gesichter in der Wiege liegen würden. Ich sehe bei einigen* eher alte Männer und Frauen als unbefleckte unschuldige Kinderseelen. Zum Teil gruselt es mich da sogar. Ob das anderen auch so geht? Ist ja auch eines dieser Tabus, Babies nicht wahllos herzig zu finden und auch nicht höflichkeitshalber so zu tun als ob.

Hab noch mal geguckt. Die Rubrik heißt "Willkommen in Berlin" und der Anteil ist doch etwas höher. Neun von achtundvierzig Babies sehen ganz niedlich aus. Die Idee mit der Rubrik finde ich aber sehr trotzdem anrührend. Eine schöne Geste, wenn man frisch ausgeschlüpft ist, gleich einen begeisterten Zeitungsartikel geschrieben zu kriegen. Ich wollte damit im Übrigen auch nicht zum Ausdruck bringen, dass unattraktive Babies abgeschafft gehören. Das müsste man dann schon auf alle Altersgruppen ausweiten und das Spektrum macht die Welt ja auch wieder interessant. Wenn alle gleich attraktiv wären, wäre die Welt ja auch langweilig auf Dauer. War jetzt eigentlich mehr so eine Selbstbeobachtung, Ausdruck einer gewissen Irritation oder besser Erhellung, was meine eigenen Hinwendungs-Ambitionen angeht.

Man könnte auch sagen: eine schöne Tradition, wenigstens die kleinsten Menschen lückenlos glauben zu machen, sie sind hochgradig liebenswert, so wie sie halt zufällig sind. Eine barmherzige kleine Schwindelei, die niemandem wehtut. Erklärt allerdings vielleicht auch, das Gefühl der Frustration beim fortschreitenden Älterwerden, wenn es nicht mehr gemäß unausgesprochener gesellschaftlicher Vereinbarung gepflegt wird, die Mitmenschen wahllos mit Zuneigung und Komplimenten zu beglücken. Ich unterstelle mal, dass es keinen derart grausamen pubertären Mutationsprozess gibt, der aus superlativen Engeln durchschnittliche Erwachsene gebiert. Glaube ich zumindest nicht.

Ich denke, die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Die scharfen Kanten der Babypersönlichkeit sind nicht so sehr weit von denen der Erwachsenenpersönlichkeit entfernt. Immerhin geben die meisten Eltern von mehreren Kindern zu, dass der Nachwuchs schon im frühesten Lebensalter dezidierte und oft sehr unterschiedliche Charaktereigenschaften an den Tag legt. Na ja, big news. Dank Internet und Bloggerei können wir als Erwachsene die abhanden gekommene, lückenlose Begeisterung über die eigene Person einigermaßen ausgleichen, indem wir uns möglichst toll mit schlauen Texten und tollen Bildchen präsentieren. Quasi für Erwachsenen-Duzi-Duzi. Also ich bin froh drum!

Jetzt wollte ich eigentlich mal etwas leicht Konsumierbares schreiben, na ja.


* Nr. 6., 15., 29., 44.

14. November 2011

Der Hahn auf dem Hof
und die Spatzen vorm Haus
die lachen die kleinen
Langschläferchen aus
Nun schnell in die Strümpfchen
in Höschen und Kleid
"Guten Morgen, Frau Sonne
jetzt sind wir so weit!"

(Verf. unbek.)

13. November 2011

Chuzpe? Chuzpe ist also zum Beispiel, wenn ein Elternmörder bei Gericht auf mildernde Umstände plädiert, da er Vollwaise sei.
Friedrich Hollaender, Von Kopf bis Fuß, S. 54

(Falls der Nachwuchs mal fragt)

13. November 2011

Ich wusste nicht, was es damit auf sich hat. So weit gingen meine Recherchen nicht, bevor ich hinging, zu dieser Langemarckhalle. Könnte man im ersten Moment denken, vielleicht irgendso ein Turnvater, der alte Langemarck. Wird schon seine Verdienste um den Sport gehabt haben. Klingt auf jeden Fall markig. Haha. Nun ja. Scherz beiseite. Das ist in der Tat das Bauwerk, in Anbetracht dessen originärer Bestimmung mir das Lachen vergeht. Ich weiß, dass nicht nur ich da eine Bildungslücke habe oder besser hatte, insofern kann ich mein Unwissen jetzt ganz ungeniert eingestehen.



Fragen Sie mal irgendeinen Berliner oder eine Berlinerin unter Siebzig, wo die Langemarckhalle steht und was es damit auf sich hat. Ein großes Fragezeichen wird auf der Stirn stehen. Was einem als naiven Besucher wie mir schon auffallen kann ist, dass es kaum Hinweisschilder gibt, wo die Halle namentlich erwähnt ist. Eigentlich gar keine. Ich hab keines gesehen. Es heißt immer "zum Glockenturm". Oder "historic olympic grounds". Oder das Schild ist gut versteckt. Es steht auch nicht außen dran. Ich habe den Namen der Halle erstmalig registriert, als ich anfing in Wikipedia etwas über den Glockenturm und das Maifeld zu lesen. Man muß sich vorstellen, dass man die Langemarckhalle vom olympischen Gelände aus, beim Blick auf das Maifeld in der Ferne sieht. Der vielzitierte "Führerstand" erwächst aus der ersten Etage der Halle wie eine Terrasse. Man muss allerdings eine Wanderung um mehrere Ecken machen, bis man zum rückwärtigen Zugang der Halle gelangt. Kurz und gut: ich betrat die Halle, vorbei an den schießschartenschmalen alten Kassennischen und ging zuerst in die Ausstellung zur Geschichte der olympischen Spiele zu ebener Erde. Wuchtige Pfeiler aus dem allseits verwendeten Muschelkalk schon in der Halle im Eingangsbereich. Die Ausstellung zeigt einige großformatige Tafeln mit alten Fotografien und Erklärungen zur Verstrickung der Spiele mit dem nationalsozialistischen Regime. In einem Nebenraum läuft ein Film, eine Dokumentation.



Man kann die Treppe nehmen oder den gläsernen Fahrstuhl nach oben. In der ersten Etage landet man in einer großzügigen Halle, von der aus offenkundig der Zugang zum 'Führerstand' ist. Man kann leider nicht raus. Die Glastüren sind verschlossen. Der Bereich zur Terrasse wirkt mit seiner großen Glasfront wie eine exklusive Wohnhalle in einem Hitchcockfilm. Nur die Möbel, der Kamin und die Teppiche fehlen. Und Tippi Hedren. Durch die Scheibe sehe ich das Olympiastadion wie einen fernen Tempel, ein Kolosseum vor mir liegen. Ich begreife das System der Blickachsen. Furios, Herr March. Sehr gelungen. Erhaben schweift der Blick über das Maifeld zum Stadion. Parallel zur Terrasse ist eine Art Caféteria ohne Personal. Mit ein paar Freischwingern und einem Kaffeeautomaten. Es gefällt mir. Auch so schön leer. Außer mir ist niemand da. Keine großartigen Hinweistafeln. Ich ziehe mir einen Becher Kaffee und beginne diese große Halle auszuloten, die sich über die ganze Länge zu erstrecken scheint. Seltsame mattschwarze Gedenktafeln in der Form von Ritterschilden reihen sich aneinander, auf denen irgendwelche Reservekorps- und Regiment-Divisions-weiß-der-Geier-Nummern in Goldbuchstaben graviert oder aufmontiert sind. Darüber der Reichsadler. Spätestens da ist auch mir klar, dass hier keine Kollegen von Turnvater Jahn geehrt wurden. Offensichtlich eine hehre Gedenkhalle für alte Militaristen. Ich stehe irgendwie beklommen davor und wundere mich gleichwohl über den ungenutzen Platz. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass da früher irgendwelche Möbel drin waren. Es ist einfach nur eine leere, monumentale, sehr hohe Halle mit zahllosen dicken Quader-Säulen, den unvermeidlichen Fackelhaltern reihum und eben diesen düsteren Tafeln. Nur die schmaleren Wände zu beiden Seiten sind noch wert genauer betrachtet zu werden. Das Licht gleißt über die hintere, westliche Steinwand und man sieht die Schlagschatten der eingemeißelten Großbuchstaben. Die Typen klar und modern. Sie entsprechen gar nicht dem Klischee der Nazi-Ästhetik. Von Fraktur keine Spur.



Ich lese

IHR HEILIGEN
GRAUEN REIHEN
GEHT UNTER WOLKEN
DES RUHMS
UND TRAGT
DIE BLUTIGEN WEIHEN
DES HEIMLICHENNIGSTUMS
Walter Flex

Aha. Ich bin viel zu gefangen von der gesamten Architektur und der Typographie und den Schatten und dem intensiven Sonnenlicht, um den Spruch verstehen zu wollen. Ich will das lieber gar nicht so genau wissen. Als ich fotografiere, sehe ich eigentlich nur die beiden Wörter "heimlichen Königstums". Die beiden Wörter sind zwar auch schon mysteriös in der Kombination aber mit denen kann ich für die Dauer des Aufenthalts und auf meinen Fotos leben. Worum es eigentlich geht, ahnt man ja ohnehin schon dunkel. Dass es eine Hymne an den Heldentod ist, der ganze Langemarck-Mythos sich um die Verherrlichung des Todes für das Vaterland dreht, erfahre ich erst viel später zu Hause, als ich im Internet auf den Begriff Langemarck-Mythos stoße. Kein Turnvater. Ein Schlachtfeld. Keine Nazi-Erfindung. Viel älter, aber ganz in deren wirrem Sinn. Die Saat, die hier aufging, wurde schon früher gelegt, lese ich später. Aber in diesem Moment gelingt es mir noch das Licht der warmen Spätsommersonne auf dem Stein zu genießen. Es kommt mir beinah vor, als stände ich sonstwo in Ägypten vor einer monumentalen Wand des Pharaonenkults. Da ist ja auch immer alles Mögliche in Steinwände eingemeißelt. Und immer riesig. Und immer scheint die Sonne. So sieht es wenigstens auf den Bildern aus, die man kennt. Ich war noch nie in Ägypten, aber habe mich als Kind intensiv zu diesen Pharaonenstätten geträumt. Ich fahre mit der Hand darüber. Der Stein hat eine angenehme Ausstrahlung. Solche Wände hätte ich auch gerne im Wohnzimmer. Ohne die Sprüche. Die Sonne bringt mich für einen Moment zum Lachen, und dass es nur noch historische Kulissen sind, von einem eingemotteten Stück mit abgelaufener Spielzeit.



Bei meinen Recherchen daheim finde ich diesen Blogeintrag. Der Verfasser weiß ein paar Sachen, die ich nirgendwo anders gelesen habe. Über die teilweise Zerstörung der Halle bei der Sprengung des Glockentrums durch die Briten und den erstaunlich widerstandslosen Wiederaufbau nach dem Krieg durch Werner March. Und er schreibt: "Was der Weltöffentlichkeit vorenthalten wurde: bevor der Führer die Spiele des Friedens eröffnete, zog er sich privat zum Heldengedenken in eben jene Halle zurück." Ich nehme an, man findet solche Hinweise in Hitler-Biographien. Ich habe nie eine gelesen. Jedenfalls genug Stoff zum Nachdenken. Kein anderer Bereich des Olympiageländes hat mich derart befremdet, wie die historisch unveränderte Sinngebung dieser Halle. Die Architektur an sich hat dennoch viele gelungene Aspekte. Das ist also die Halle, deren Namen kaum noch einer kennt. Die Berliner, die ich später danach fragte, egal ob gebürtig oder zugezogen, wussten rein gar nichts davon. Und ich habe keine jungen Menschen danach gefragt. Eigentlich auch kein Wunder, denn sie ist kaum zweckzuentfremden, außer vielleicht für andere Ausstellungsexperimente. Oder als kommerziell genutzte Partylocation. Abgeschieden genug wäre es für hohe nächtliche Dezibel, dagegen stünde aber sicher der Denkmalschutz. Wer den Glockenturm nicht besucht oder die Ausstellung, kommt niemals zufällig daran vorbei. Ich weiß natürlich nicht, ob sich nicht irgendwelche Nazi-Spinner oder Neo-Militaristen zu Hitlers Geburtstag oder am 10. November, um dieser Schlacht zu gedenken, heimlich dort verabreden und der Erinnerung huldigen.



Ich hatte eine gewisse Befangenheit, diesen Eintrag anzugehen. Mir war gefühlsmäßig eher nach Drüberzappen. Aber wenn man diesen ungemütlichen Aspekt schon in Bildern berührt, darf man im Eintrag nicht fahrlässig drübertänzeln, über den Abgrund. Mal schnell husch husch ist nicht bei dem Ganzen. Dafür wiegt dann eben doch alles zu schwer. Man muss nach unten schauen, sich ein Bild der Lage machen und dann mit einem beherzten Schritt über den Abgrund schreiten. Auf die sichere Seite mit dem festen Boden. Nun habe ich diese Etappe endlich hinter mir. Wer diesen Eintrag gelesen hat, kann jetzt jedenfalls mitreden und weiß mehr über die Langemarckhalle als die meisten Berliner. Ich habe zwar hier in meinem Blog eine kleine Pause eingelegt, zwischen meinen olympischen Begehungen, aber in der Realität hat das alles an einem einzigen Tag stattgefunden. Will sagen, ich bin nicht zehnmal mit meiner militärisch anmutenden Tarnkappe und der blauen Sonnenbrille los, falls jemand befürchtet, ich ziehe zu jeder Gelegenheit dieselben Klamotten an. In vier Stunden kann man eine Menge sehen und festhalten. Und dann hat man eine Menge zu verarbeiten. Auf vielen Ebenen. Und das ist noch nicht alles.

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