14. Dezember 2010



Oder man stellt sich vor, die Zeit schlägt in verschieden großen Wellen an Land. Wenn man hinnimmt, dass die Welle groß ist, weiß man, dass man viel Kraft und Geschick braucht, um darauf zu reiten. Eine kleine Welle ist keine große Gefahr. Sie reißt nicht in die Tiefe. Man muss sich nicht so damit beschäftigen. Manche Wellen sind zu groß, um darauf zu reiten. Außer man glaubt an Jesus und wie die alle heißen. Ich glaube nur an das Maß an Kraft und wundersame Stärke, das ich in starken Zeiten an mir selbst oder anderen erlebt habe. Ich weiß gar nicht, ob mir schon einmal ein Wunder begegnet ist. Also so ein Wunder zum sich drüber wundern. Naturwunder hab ich schon viele bewundert. Aber ich dachte nie an Hexerei, sondern den einfachen, ganz normalen Zauber der Biologie, die meiner Meinung nach überhaupt keine Mystifizierung braucht, sie ist wunderbar und geheimnisvoll genug, so lange es noch irgendein Rätsel der Zellen und Energie, die sie wachsen und rotieren lässt, gibt. Und selbst wenn alle Formeln gefunden und alle Rätsel gelöst sind, wird der Zauber der Nervenbahnen eines Blattes im Gegenlicht immer bleiben.

Auf manchen Wellen kann man nicht reiten, das wäre Größenwahn. Irrsinn. So langweilig ist das Leben auch nicht, dass man den Abgrund herausfordern müsste, um sich zu spüren. Dafür bin ich mir auch viel zu nah. Ich bin mir zum Beispiel zu wertvoll, im Hinblick darauf, diese einmalige Beziehung zu mir selbst weiterführen zu wollen, und zu erleben, wohin die unwägbare Reise geht, um vor der Zeit aus dem Leben zu treten. Wenn man so etwas artikuliert, bedeutet es natürlich, dass man eine Weile oder immer wieder darüber nachgedacht hat. Es ist ein Dilemma, das viele kennen. Die Sehnsucht nach Auflösung, Schmerzlosigkeit, Leichtigkeit. Aber so lange man es nicht wenigstens einmal über einen längeren Zeitraum geschafft hat, das in diesem irdischen Dasein zu erfahren, hat man eine Aufgabe vor sich. Ein längerer Zeitraum, auf den man später als jene wunderbare Zeit zurückblicken kann. Weißt du noch? Ungetrübt. An die man sich erinnert wie an einen schönen Film ohne Riss in der Geschichte. Gibt es das? Eine strahlend helle, warme Zeit, wie eine Ära? Eigentlich muss es möglich sein, weil auch das Gegenteil möglich ist. Eine Frage, die man sich gar nicht stellt. Gibt es das, eine dunkle Zeit, über einen längeren Zeitraum.

Dunkel, wahrhaft dunkel ist, wenn man in einen lichtlosen Schacht fällt, und fällt und fällt und nicht aufschlägt. Schlägt man auf, ist man ohnmächtig. Wacht man wieder auf, spürt man die Knochen, die Verletzung. Man liegt da und der Kopf dreht sich wieder zum Licht, nach oben, dahin, wovon man fiel, in die Tiefe. Der Blick hält sich an dem fernen Licht fest. Man schaut nicht nach unten, wenn man auf dem Rücken liegt. Nach oben. Es sei denn, man schließt die Augen. Das muss manchmal sein. Man muss auch schlafen. Aber irgendwann ist es nicht mehr interessant, in der Regungslosigkeit zu verharren. Man will nicht erstarren, und wieder spüren, wie sich Bewegungen anfühlen. Dann fängt man vorsichtig wieder damit an, ganz vorsichtig. Bis man wagt, aufzustehen, sich wieder aufzurichten. Dann schaut man, wo ein Mauervorsprung ist, der Halt gibt, beim ersten Tritt, wenn man versucht, sich nach oben zu ziehen. Am besten, man schaut mittags, wenn die Sonne am höchsten steht und senkrecht in die dunkle Tiefe fällt. Dann kann man mit dem Blick ausloten, wo man Halt finden kann. Wie man sich behelfen kann.

Letzte Nacht bin ich sehr erschrocken. Ich habe etwas geträumt, das einen solchen Schmerz verursacht hat, dass ich einen tiefen Schmerzensschrei ausstieß. Es war tief im Schlaf und ich weiß nicht, ob ich nicht wirklich geschrien habe, im Schlaf und davon aufgewacht bin. Der Schmerz war wie ein Dolchstoß, aber waffenlos. Als ob in Sekundenschnelle alles zerstört wurde, was mir lieb und wichtig war, in diesem Augenblick. Ein furchtbarer Moment. Aber ich stand auf, früh, und vergaß über den Tag diesen seltsamen Moment im Traum. Mir ist, als hätte ich in der Nacht noch darüber nachgedacht, dass meine schlafenden Nachbarn vielleicht dadurch aus dem Schlaf geschreckt sein könnten, und dass sie gedacht haben müssten, dass jemandem furchtbare Gewalt angetan wird.

Wenn man sich auf die wichtigsten Überlebensfunktionen konzentriert, die kleinen Ablenkungen reduziert, gewinnt man eine Form von Klarheit in sich, die sich anfühlt, als könnte man die Parameter in seinem Leben besser einschätzen, gewichten und daraus folgern, was man beibehält und was nicht. Was absolut lebensnotwendig ist und auch, was für den Aufbau sorgt. Welche Elemente des Lebens aufstrebende Kräfte in sich tragen. Das zum Beispiel. Sich nach einem Tag, der auf eine schöne Art unspektakulär verlaufen ist, vor dem Schlafengehen solche Gedanken machen zu können. Sie aufzuschreiben, festzuhalten, lesbar zu machen. Für sich selbst und andere. Was für ein Luxus. Die Wohnung so warm, das weiche Bett so nah. Das gesunde Gefühl in den Knochen und Zellen. Die Verantwortung dafür auch endlich begriffen zu haben. Ich bin seit einiger Zeit in einer Phase, in der mir von Giften zugeneigten Hedonisten als wahnhaft diszipliniert belächelte Gesundheitsaktivitäten, meinerseits nicht mehr hysterisch vorkommen. Wahrscheinlich eine gängige Entwicklung in meinem Alter. Ich bin Mitte Vierzig. Ich begrüße es, wenn sich jemand nicht gehen lässt und der direkte Zusammenhang mit gesteigerter Sinnenfreude erkennbar ist. Wahrscheinlich könnte ich jetzt immer so weiter tippen, bis mir die Augen zufallen und ich meine Leser schnarchen höre. Morgen ist auch wieder ein Tag. Ich gehe jetzt ein bißchen nach Westen. Aber nur in meiner Wohnung, zu meinem Bett. Mit dem Kopf nach Süden und den Füßen nach Norden.

13. Dezember 2010



Ich weiß es nicht. Vielleicht Pampelmuse. Zitronenbäume haben ganz andere Blätter, kleiner, glatter. Orangenbäume auch oder? Unscharf dahinter wächst eine Avocado. Soviel ist sicher, weil ich mich genau erinnere, den Kern in die Erde gesteckt zu haben und ich nicht so oft Avocado esse. Es ist eine Zitrusfrucht. Mandarine kann es nicht sein, weil ich nur selten Mandarinen esse, nie welche kaufe. Auf jeden Fall wächst es immer schneller und stärker und will keine besondere Behandlung. Bei mir gibt es sowieso nur Wasser. Wem das nicht passt, kann ja gehen. Und manchmal eine neue Schaufel Erde obendrauf. Und Sympathie. Viel Sympathie. Wohlwollen. Einen freundlichen Blick aber kein Gerede. Ich glaube sowieso viel mehr an wortloses Verstehen. Vorgestern in einem alten Tagebuch einen ewig langen Eintrag gelesen, in dem ich darüber sinniere, warum ich so ein geringes Mitteilungsbedürfnis habe, in Form von Sprechen. Ich war sehr erstaunt über den Eintrag, der fast neunundzwanzig Jahre zurückliegt, in einem geradezu philosophischen Ausbruch mündet, und seine Parallele zur Gegenwart. Damals hatte ich auch diesen Transit wie jetzt, diese Saturn-Venus-Konjunktion, und aus diesem Grund interessierten mich die Einträge und Ereignisse aus dieser Zeit. Saturn braucht etwa neunundzwanzigeinhalb Jahre für einen Umlauf um unsere Sonne, um an denselben Punkt zurückzukehren. Deswegen habe ich mir diesen Aspekt genauer angesehen, man erlebt ihn nur zwei, dreimal im Leben. Darüber denke ich in den letzten Tagen nach. Ich war froh, dass ich einiges hinter mir gelassen habe, was ich da las. Die Orientierungslosigkeit, nicht zu wissen, wie man von da wegkommt, wo man ist, nicht den geringsten Plan zu haben, aber den brennenden Wunsch, unbedingt weg zu wollen. Das scheinbar unlösbare Problem, nicht zu wissen, wie man sich alleine über Wasser halten soll. Damals war ich sechzehn, als ich das schrieb, ging noch zur Schule, träumte von der weiten Welt. Selbst eine andere Stadt zu sehen, hätte mich befriedigt, ich wusste nicht, wie man das angeht. Meine Eltern verreisten nie. Sie hatten ihren großen Garten und fanden, das wäre Urlaub genug. Sehr sesshafte Menschen, denen der Blick in die Ferne durch den Fernseher aus mir unerfindlichen Gründen eben reichte. Meine Freunde verreisten mit ihren Eltern oder anderen Freunden, aber nicht alleine. Ich war zu dem Zeitpunkt nur einmal am Meer gewesen, mit den Eltern einer Freundin. Ich durfte mit, ich glaube es war 1977. Oder 1979? Ich weiß es nicht mehr. Nur dass in der Hotel-Diskothek auf der damals jugoslawischen Insel Mali Losinj "Pop Muzik" und "My Sharona" lief. Und ich mit einem blonden, muskulösen Profi-Schwimmer der Jugendklasse aus Bad [ZENSIERT] techtelte. Nicht mechtelte allerdings, dafür fühlte ich mich noch zu jung. Er war sexy und braun gebrannt und hatte genauso eine Zahnlücke wie ich. Da sah ich das erste mal, dass das keine Behinderung sein muss, sondern sogar anziehend wirken kann. Irgendwie verwegen sah er aus. Wie hieß er bloß. Ich müsste nachschauen. Sein Vater war der Kurdirektor von Bad [ZENSIERT]. Oh là là. Diesen Zeitraum sollte ich besser mal checken, was ich da für einen interessanten Transit hatte.



Ich war doch schon beim Juni und Juli 1982. Reisen war also nicht drin, ich hatte kein Taschengeld gespart und keine Lust auf einen Job nebenher, auch nicht während der Ferien. Da wollte ich lieber ausschlafen und faulenzen. Ferienjobs klangen schrecklich, allesamt. Zeitungen austragen und dafür in der Dunkelheit und Kälte aufstehen. Oder irgendwas im Supermarkt einräumen. Ich las am liebsten Reisebücher. Ich notierte in einem Eintrag vom Juni 1982 "neue Bücher gekauft, "talk one's head off", "Anders reisen Paris", "Anders reisen San Francisco". Im Kopf war ich längst unterwegs. Gut, dass ich inzwischen einiges gesehen habe, das diese unbändige Sehnsucht, andere Länder, unbekannte Orte zu sehen, gestillt hat. Ich empfand das bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr als heftigstes Defizit. Das war streng genommen der einzige Grund, warum ich mich darauf einließ, zu arbeiten. Um mehr Geld zu haben, als nur das Dach über dem Kopf finanzieren zu können. Um zu reisen. In Länder, wo Pampelmusen und Avocados wachsen.



Ich las noch ein bißchen weiter, letzten Samstag, aber dann wurde mir dieses Erinnern an die Jugend zu dicht, die Details zu nah, die Zeit begann mehr zu leben, als ich es wollte. Aber wichtig war, zu sehen, dass es tatsächlich einen frappierenden Zyklus der Ereignisse und Gefühle zu geben scheint. Und demnach auch die Aussicht auf einen nächsten Zyklus, in dem etwas anderes vorrangig werden wird, als jetzt. Als sich die Konjunktion dem Ende neigte, im August 1982 hatte ich einen Schub, in dem ich wie wild anfing zu malen. Auf zerrissene Bettlaken, Aquarelle, Portraits. Eine Zeit der Zurückgezogenheit, in der ich in langen Sommerferien nur damit beschäftigt war, mich auf dem Dach der Garage des Hauses meiner Eltern zu sonnen, der abgeschiedenste Platz, den ich dort finden konnte, zu malen und Tagebucheinträge zu verfassen. Man musste über einen großen Regenwassertank mit einer gewissen Geschicklichkeit auf das Dach klettern, dazu fand niemand einen Grund, außer mir. Ich nahm mir etwas zu trinken und zu lesen mit und die Sonne brannte schattenlos auf meinen Körper. Mich beschäftigte der frühe Tod von Romy Schneider, die wenige Wochen vorher, Ende Mai gestorben war. Eines der Portraits zeigte sie. Zwei davon habe ich noch, hier in meiner Wohnung. Das andere auch ein Frauengesicht, halb eine alte Freundin, halb Patti Smith wirft immer Fragen auf, wenn es jemand sieht, heute. "Von wem ist das?". Weil ich so etwas heute nicht mehr mache, kommt die Frage, aber ich konnte das. Niemand weiß woher. Und dann kam der September und damit mein Geburtstag. Wie erstaunt ich las, dass ich ihn feierte. Oder besser gefeiert wurde. Das war so untypisch für mich. Hätte mich jemand gefragt, hätte ich voller Überzeugung behauptet, dass ich noch nie eine nennenswerte Geburtstagsfeier gemacht habe. Aber im Jahr 1982 kamen einige Freunde vorbei und hatten Kuchen dabei. Einer war mit Grasmehl gebacken. Der andere eine schwedische Apfeltorte. Selbstaufgenommene Kassetten gab es als Geschenk und noch andere Sachen. Vorher schien ich eine eremitische Phase gehabt zu haben, denn ich brachte große Überraschung zum Ausdruck, in meinem Tagebucheintrag. Ich schien der Meinung zu sein, ich hätte mich zu sehr von allen zurückgezogen, um noch bedacht zu werden. An der Stelle des Geburtstagseintrages legte ich das kleine Tagebuch wieder weg. Seitdem denke ich darüber nach, wie der nächste Zyklus aussehen könnte. Sein Beginn. Der Anfang. Die Erneuerung. Alles auf Anfang. Nicht sofort, aber irgendwann, im kommenden Jahr. Ich ziehe mich zurück und sammle Kräfte, wie ein Bär, der Winterschlaf macht. Michael. Er hieß Michael. Und er trug eine rote, locker sitzende Baumwollshorts zum Schwimmen. Mit drei weißen Streifen auf der Seite. Nicht so ein blödes, engsitzendes Unterhosen-Modell. Und er hatte Haare wie der Bastian, nur ein bißchen länger. Und er war verdammt cool. Und es war 1979. Und ich war dreizehn. Ich hab das Foto gerade gesehen. Daneben klebt ein Zettel mit seinem Namen und der Adresse. Ich muss mal kurz den Winterschlaf unterbrechen und ins Internet.

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P.S. der Mann und...
13.07.25, 21:13
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Anneke W. Das sieht...
13.07.25, 21:08
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Das wäre grandios...
13.07.25, 21:07
kid37
Starke Runde, da wäre...
13.07.25, 20:33
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Ina Weisse Habt Spaß...
11.07.25, 00:30
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Thias Teuwen Ich kann...
10.07.25, 17:13
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Tobi 9. Juli 2025...
09.07.25, 15:48
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Montagsmarie 8. Juli...
08.07.25, 17:51
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Saskia Rutner Das...
08.07.25, 11:35
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:-)
05.07.25, 11:31
kid37
Morgens Kinderladen,...
05.07.25, 11:19
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Haha, ich fand bis...
04.07.25, 00:18
kid37
"Wilde Möhre" klingt...
04.07.25, 00:01
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Margarete 2. Juli...
02.07.25, 18:57
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schneck 1. Juli 2025...
01.07.25, 00:14
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schneck 30. Juni 2025...
30.06.25, 23:42

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