13. Dezember 2010



Ich weiß es nicht. Vielleicht Pampelmuse. Zitronenbäume haben ganz andere Blätter, kleiner, glatter. Orangenbäume auch oder? Unscharf dahinter wächst eine Avocado. Soviel ist sicher, weil ich mich genau erinnere, den Kern in die Erde gesteckt zu haben und ich nicht so oft Avocado esse. Es ist eine Zitrusfrucht. Mandarine kann es nicht sein, weil ich nur selten Mandarinen esse, nie welche kaufe. Auf jeden Fall wächst es immer schneller und stärker und will keine besondere Behandlung. Bei mir gibt es sowieso nur Wasser. Wem das nicht passt, kann ja gehen. Und manchmal eine neue Schaufel Erde obendrauf. Und Sympathie. Viel Sympathie. Wohlwollen. Einen freundlichen Blick aber kein Gerede. Ich glaube sowieso viel mehr an wortloses Verstehen. Vorgestern in einem alten Tagebuch einen ewig langen Eintrag gelesen, in dem ich darüber sinniere, warum ich so ein geringes Mitteilungsbedürfnis habe, in Form von Sprechen. Ich war sehr erstaunt über den Eintrag, der fast neunundzwanzig Jahre zurückliegt, in einem geradezu philosophischen Ausbruch mündet, und seine Parallele zur Gegenwart. Damals hatte ich auch diesen Transit wie jetzt, diese Saturn-Venus-Konjunktion, und aus diesem Grund interessierten mich die Einträge und Ereignisse aus dieser Zeit. Saturn braucht etwa neunundzwanzigeinhalb Jahre für einen Umlauf um unsere Sonne, um an denselben Punkt zurückzukehren. Deswegen habe ich mir diesen Aspekt genauer angesehen, man erlebt ihn nur zwei, dreimal im Leben. Darüber denke ich in den letzten Tagen nach. Ich war froh, dass ich einiges hinter mir gelassen habe, was ich da las. Die Orientierungslosigkeit, nicht zu wissen, wie man von da wegkommt, wo man ist, nicht den geringsten Plan zu haben, aber den brennenden Wunsch, unbedingt weg zu wollen. Das scheinbar unlösbare Problem, nicht zu wissen, wie man sich alleine über Wasser halten soll. Damals war ich sechzehn, als ich das schrieb, ging noch zur Schule, träumte von der weiten Welt. Selbst eine andere Stadt zu sehen, hätte mich befriedigt, ich wusste nicht, wie man das angeht. Meine Eltern verreisten nie. Sie hatten ihren großen Garten und fanden, das wäre Urlaub genug. Sehr sesshafte Menschen, denen der Blick in die Ferne durch den Fernseher aus mir unerfindlichen Gründen eben reichte. Meine Freunde verreisten mit ihren Eltern oder anderen Freunden, aber nicht alleine. Ich war zu dem Zeitpunkt nur einmal am Meer gewesen, mit den Eltern einer Freundin. Ich durfte mit, ich glaube es war 1977. Oder 1979? Ich weiß es nicht mehr. Nur dass in der Hotel-Diskothek auf der damals jugoslawischen Insel Mali Losinj "Pop Muzik" und "My Sharona" lief. Und ich mit einem blonden, muskulösen Profi-Schwimmer der Jugendklasse aus Bad [ZENSIERT] techtelte. Nicht mechtelte allerdings, dafür fühlte ich mich noch zu jung. Er war sexy und braun gebrannt und hatte genauso eine Zahnlücke wie ich. Da sah ich das erste mal, dass das keine Behinderung sein muss, sondern sogar anziehend wirken kann. Irgendwie verwegen sah er aus. Wie hieß er bloß. Ich müsste nachschauen. Sein Vater war der Kurdirektor von Bad [ZENSIERT]. Oh là là. Diesen Zeitraum sollte ich besser mal checken, was ich da für einen interessanten Transit hatte.



Ich war doch schon beim Juni und Juli 1982. Reisen war also nicht drin, ich hatte kein Taschengeld gespart und keine Lust auf einen Job nebenher, auch nicht während der Ferien. Da wollte ich lieber ausschlafen und faulenzen. Ferienjobs klangen schrecklich, allesamt. Zeitungen austragen und dafür in der Dunkelheit und Kälte aufstehen. Oder irgendwas im Supermarkt einräumen. Ich las am liebsten Reisebücher. Ich notierte in einem Eintrag vom Juni 1982 "neue Bücher gekauft, "talk one's head off", "Anders reisen Paris", "Anders reisen San Francisco". Im Kopf war ich längst unterwegs. Gut, dass ich inzwischen einiges gesehen habe, das diese unbändige Sehnsucht, andere Länder, unbekannte Orte zu sehen, gestillt hat. Ich empfand das bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr als heftigstes Defizit. Das war streng genommen der einzige Grund, warum ich mich darauf einließ, zu arbeiten. Um mehr Geld zu haben, als nur das Dach über dem Kopf finanzieren zu können. Um zu reisen. In Länder, wo Pampelmusen und Avocados wachsen.



Ich las noch ein bißchen weiter, letzten Samstag, aber dann wurde mir dieses Erinnern an die Jugend zu dicht, die Details zu nah, die Zeit begann mehr zu leben, als ich es wollte. Aber wichtig war, zu sehen, dass es tatsächlich einen frappierenden Zyklus der Ereignisse und Gefühle zu geben scheint. Und demnach auch die Aussicht auf einen nächsten Zyklus, in dem etwas anderes vorrangig werden wird, als jetzt. Als sich die Konjunktion dem Ende neigte, im August 1982 hatte ich einen Schub, in dem ich wie wild anfing zu malen. Auf zerrissene Bettlaken, Aquarelle, Portraits. Eine Zeit der Zurückgezogenheit, in der ich in langen Sommerferien nur damit beschäftigt war, mich auf dem Dach der Garage des Hauses meiner Eltern zu sonnen, der abgeschiedenste Platz, den ich dort finden konnte, zu malen und Tagebucheinträge zu verfassen. Man musste über einen großen Regenwassertank mit einer gewissen Geschicklichkeit auf das Dach klettern, dazu fand niemand einen Grund, außer mir. Ich nahm mir etwas zu trinken und zu lesen mit und die Sonne brannte schattenlos auf meinen Körper. Mich beschäftigte der frühe Tod von Romy Schneider, die wenige Wochen vorher, Ende Mai gestorben war. Eines der Portraits zeigte sie. Zwei davon habe ich noch, hier in meiner Wohnung. Das andere auch ein Frauengesicht, halb eine alte Freundin, halb Patti Smith wirft immer Fragen auf, wenn es jemand sieht, heute. "Von wem ist das?". Weil ich so etwas heute nicht mehr mache, kommt die Frage, aber ich konnte das. Niemand weiß woher. Und dann kam der September und damit mein Geburtstag. Wie erstaunt ich las, dass ich ihn feierte. Oder besser gefeiert wurde. Das war so untypisch für mich. Hätte mich jemand gefragt, hätte ich voller Überzeugung behauptet, dass ich noch nie eine nennenswerte Geburtstagsfeier gemacht habe. Aber im Jahr 1982 kamen einige Freunde vorbei und hatten Kuchen dabei. Einer war mit Grasmehl gebacken. Der andere eine schwedische Apfeltorte. Selbstaufgenommene Kassetten gab es als Geschenk und noch andere Sachen. Vorher schien ich eine eremitische Phase gehabt zu haben, denn ich brachte große Überraschung zum Ausdruck, in meinem Tagebucheintrag. Ich schien der Meinung zu sein, ich hätte mich zu sehr von allen zurückgezogen, um noch bedacht zu werden. An der Stelle des Geburtstagseintrages legte ich das kleine Tagebuch wieder weg. Seitdem denke ich darüber nach, wie der nächste Zyklus aussehen könnte. Sein Beginn. Der Anfang. Die Erneuerung. Alles auf Anfang. Nicht sofort, aber irgendwann, im kommenden Jahr. Ich ziehe mich zurück und sammle Kräfte, wie ein Bär, der Winterschlaf macht. Michael. Er hieß Michael. Und er trug eine rote, locker sitzende Baumwollshorts zum Schwimmen. Mit drei weißen Streifen auf der Seite. Nicht so ein blödes, engsitzendes Unterhosen-Modell. Und er hatte Haare wie der Bastian, nur ein bißchen länger. Und er war verdammt cool. Und es war 1979. Und ich war dreizehn. Ich hab das Foto gerade gesehen. Daneben klebt ein Zettel mit seinem Namen und der Adresse. Ich muss mal kurz den Winterschlaf unterbrechen und ins Internet.
kaltmamsell - 13. Dez, 21:49

Schaffe ich immer noch nicht, der kleinen Kaltmamsell hinterherzulesen. Warum hört das nicht auf, dass ich mir rückblickend immer peinlich bin? Geht mir ja heute schon mit meinen Postings der ersten beiden Blogjahre so. Herr, wirf Erbarmen vom Himmel.

g a g a - 13. Dez, 21:59

Kenn ich. Man muss da nachsichtiger werden und einfach lernen, selektiv zu lesen. Wie ein Lektor. Und den Unsinn gedanklich wegstreichen. Auf das Potenzial schauen, nicht auf das Defizit. Einem Lehrling im ersten Lehrjahr muss man zugestehen, dass er erst lernen muss mit dem Werkzeug umzugehen. Virtuos wird man viel später. Ganz abgesehen davon, kann man das auch einfach alles ruhen lassen, man muss das nicht lesen. Habe ich auch seit Jahren nicht gemacht, alte Tagebücher in die Hand zu nehmen. Zuletzt bei diesem Eintrag. (der damals ähnliche Erinnerungen bei anderen inspirierte, kid37 schrieb dann auch etwas über seine alten Tagebucheinträge "Die Zeit fegt alles weg" und Lisa Neun forcierte "Kramen in alten Tagebüchern" (und noch einige andere). Fünf Jahre her. Immerhin landeten wir dann ausgerechnet mit Fragmenten dieser teilweise selbstdiskreditierenden Tagebuch-Rückschau in Form von gedruckten Zitaten auf Fliesen in dieser Ausstellung des Museums für Kommunikation zum Thema "Vom Tagebuch zum Weblog." Ich dachte vorgestern eher an einen statistischen Ereignis-Check, die Intensität dessen was ich las, beruht nicht auf bemerkenswerter Formulierungskunst, sondern hat mich eher kalt erwischt. Die Zellen erinnern sich. Dabei neige ich ohnehin schon nicht zur Vergangenheitsverklärung. Da waren zu viele unerfüllte Sehnsüchte, zu viele Grenzen, zu viele Gitterstäbe. Ah! Im Vergleich zu heute erscheint mir meine Kindheit als Gefängnis und die Erwachsenen waren die Wärter. Klingt sehr hart, ist aber mein Empfinden. Es ist auf jeden Fall für Zwecke wie die meinen sinnvoll, die alten Sachen, die man festhielt, aufzuheben. Ich erfahre dabei etwas über meine Entwicklungszyklen, zum Teil Überraschendes, wie man sieht. Egal, wie blöd es formuliert sein mag. Ein paar Passagen sind wiederum rührend in ihrer schlichten Art der Selbstbefragung. Dieses zum ersten mal über Sachen nachdenken. Scheinbare Binsen für Erwachsene, aber gerade interessant wegen der naiven Art des ersten Gedankens. Dumm und mir befremdlich war ich jedenfalls nicht. In meinem Wesen war ich mir schon sehr ähnlich, habe aber nicht gewusst, dass das kein Verhalten ist, dass man dringend kurieren muss, sondern dass ich so sein darf.
g a g a - 13. Dez, 22:45

Edit. 1982. 1982. 1982. Dreimal geschrieben 1992 statt 82. Dreimal korrigiert. Komisch. Ist wohl zu lange her, selbst für die Tastatur schwer zu begreifen, diese Ferne. Und doch auf einmal so nah.

g a g a - 13. Dez, 23:04

P.S. zur Winterschlafunterbrechung. Seit 1979 sind 31 Jahre vergangen. In eindunddreissig Jahren kann eine Menge passieren. Ich neige ein wenig dazu, zu vergessen wie alt ich bin und wie alt man in meinem Alter aussehen kann ohne dabei vermutlich besonders alt auszusehen. Aber Michael von 1979 sieht zufrieden und fröhlich aus. Nur die langen Haare sind halt ab. Also weg. Ich hab mich gerade ein bißchen erschrocken. Früher hätte man das erst feststellen können, wenn man sich getroffen hätte oder einen Brief mit beigefügtem Bild verschickt hätte. Ich glaube, ich bin ein schwieriger Typ. Das klingt ein bißchen nach oberflächlichen Äußerlichkeiten und ist wahrscheinlich auch oberflächlich gemeint. Wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich, man sieht so aus, wie man ist. Tief drinnen, im Herzen. Bis zum Haarschnitt.

schneck08 - 13. Dez, 23:18

Richtig. Man sieht so aus, wie man eben ist.

Und weder, wie alt man ist, noch wie alt man sich fühlt. Besonders letzteres ist ja oft so ein schöngeredetes Gebrabbel.

Ich finde das ganz wunderbar: Man sieht so aus, wie man ist. (Denn das tat man ja schon mit zwei, zwanzig oder achtunddreissig).
g a g a - 13. Dez, 23:20

Ich hab halt immer recht!
Also fast.
g a g a - 13. Dez, 23:24

P.S.
Ich muss gerade lachen wie eine Irre, weil das so dermaßen banal ist. Und so wahr.
Ach ja.

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