Berlin - 8°. So eine шапка (sprich Schapka) tut gute Dienste. Natürlich ist die Mütze nicht politisch korrekt, weil eine Menge Polyester sterben mussten, damit Frau Nielsen warmes Fell am Kopf hat. Der trotzige Kopf ist gut eingepackt und ich bin guter Hoffnung, Väterchen Frost weiterhin zu trotzen. Wenn der Winter nicht so winterig wäre, käme man sich ein bißchen übertrieben vor, aber der Winter tut ja gerade was er kann, damit man nicht völlig overdressed wirkt, im Sibirien-Look. In Sibirien soll es zur Zeit wärmer als in Berlin sein, hab ich neulich gelesen. Kann sich natürlich schon wieder geändert haben. Schade, dass ich zur Zeit keinen Alkohol zu mir nehme. Eigentlich müsste man zur Abrundung des Outfits alle halbe Stunde einen Flachmann mit Wodka aus der Manteltasche holen. Blöd. Ob ich wieder anfange zu trinken? Ich denke im Januar noch mal drüber nach. Oder vielleicht sogar schon am 31. Dezember. Erfahrungsgemäß dauert der Winter ja noch mindestens ein Vierteljahr. Reichlich Gelegenheit, um seine eigenen Meinungen zu überdenken.
Als ich von der S-Bahn zu meiner Wohnung lief, habe ich an den Zehenspitzen gemerkt, dass es wieder kälter geworden ist. Weil ich keine große Plastikschüssel oder so etwas habe, hab ich ein Fußbad in dem größten Suppentopf genommen, den ich habe. DREIMAL HABE IST SCHLECHTER STIL! Mit dem waldmeistergrünen Erkältungsbadezusatz aus dem Drogeriemarkt. Als ob die Fußspitzen sofort einen Turbo-Temperaturtransfer gemacht hätten. Nach fünf Minuten ist mir das Wasser schon lauwarm vorgekommen, die Füße haben alles eingesaugt! Man muss immer ganz schnell reagieren, wenn man ein bißchen gefroren hat und Gegenmaßnahmen einleiten. Nach dem Fußbad hab ich flauschige Socken angezogen, die ich vorher auf den Heizkörper im Bad gelegt habe. Bestimmt ist die Gefahr gebannt. Das ging noch mal gut! Eigentlich ist es auch praktisch, wenn es immer so ähnlich gleich kalt ist, also so kalt, dass man sich so warm wie möglich anziehen muss, wenn man vor die Tür geht. Ich ziehe seit ungefähr zwei Wochen fast jeden Tag dasselbe an. Man muss nicht viel überlegen, nur dazwischen Wäsche waschen. Prima! Außerdem merken andere doch sowieso nicht groß den Unterschied, ob ich einen schwarzen, weißen oder roten Rollkragenpullover anhabe. Ich ziehe jetzt immer die drei selben Pullover abwechselnd an, die am weichsten und wärmsten sind, den roten und weißen mit der Schneeflocke drauf und noch einen anderen. Und so Beinwarmhaltedinger über die Socken. Strumpfhosen kann ich nicht leiden. Die habe ich schon als Kind verabscheut. Obwohl ich inzwischen sogar ganz flauschige von einer Marke habe. Also Markenstrümpfe! Eigentlich ganz schön weich, aber ich ziehe lieber Hosen als Röckchen an. Ich habe nicht vor, in der S-Bahn jemanden zu verführen. Außerdem schaut man bei mir sowieso eher ins Gesicht, bilde ich mir ein.
Neulich musste ich - ha neulich ist gut - es war im Sommer - also neulich im Sommer musste ich wie gebannt auf das entblößte Bein einer jungen Frau in der S-Bahn schauen. Es war so vollendet schön. Sie war überhaupt ein Blickfang. Sie trug einen kurzen Rock und neben dem schönen Bein und dem Sitz ihrer Freundin lehnte eine Krücke. Ich konnte nicht ausmachen, zu wem die ausnehmend schöne Krücke gehören könnte. So ein altes, antiquarisches Modell, aus einem gegabelten Ast und am Griff mit Leder umnäht. Die S-Bahn war wieder einmal brechend voll, wie fast immer eigentlich und es wäre bei dem Gewusel schon ein Kunststück für sich gewesen zu identifizieren, welche Beine und Füße zu welchen Köpfen gehören. Neben dem bildschönen Bein und der Krücke waren noch ganz viele andere Beine, von den anderen Fahrgästen und davor standen auch noch Leute. Als sie am Hauptbahnhof aufstand, die Krücke nahm und mit ihrer Freundin, an deren Aussehen ich mich nicht im geringsten erinnern kann, das Abteil verließ, sah ich von hinten, dass Sie gar keine Verletzung am Bein hatte, aber dafür unverschämt lässig die schöne Krücke unter dem Arm trug. Das andere Bein war gar nicht verletzt. Sie hatte gar kein anderes Bein. Nur das eine, von mir bewunderte. Ein kerngesundes, wunderschönes. Man hatte nicht das Gefühl, dass irgendetwas an ihr falsch wäre oder fehlt. Nichts an ihrem Körper war erbarmungswürdig oder mitleiderregend. Ich sah ihr während der Bahnfahrt verstohlen ins Gesicht, so aus dem Augenwinkel, weil ich sie so sexy fand, ihren Gesichtsausdruck und ihre lebhafte Art. Dass ich ihren zweiten Oberschenkel nicht ausmachen konnte irritierte mich nur kurz, weil es so gedrängt voll war. So ein ganz stylisher Typ wie aus einer Hochglanz-Fotostrecke. Athletisch, groß, lange, glatte blonde Haare, sehr gut geschnitten, braun gebrannt, sehr weiße Zähne, sehr aufregender Mund, breites Lachen, blitzende Augen. So eine Frau wo man denkt, wenn ich ein Mann wäre, würde ich nervös werden. Dieser Eindruck hat mich noch lange beschäftigt. Seltsam, dass ich es jetzt erst schreibe. Ich hatte es wieder vergessen. Da wurde mir klar, wie nie zuvor, wie stark die Anziehungskraft eines Menschen von seiner eigenen Überzeugung abhängt. Sie wirkte unfassbar sicher. Ich bin mir absolut sicher, dass ihr die Männer wie verrückt hinterherlaufen. Total uninteressant, wieviele Beine sie hat oder nicht. Ungefähr so nichtig wie die Frage, ob sie fünfundzwanzigtausend oder dreißigtausend Haare auf dem Kopf hat. Völlig egal. Sie hatte eine vibrierende Körperspannung, wie ein trainiertes Model. Unglaublich. Und mit ihrer schönen Krücke und ihrem schönen einen Bein tanzte sie zur Rolltreppe und verschwand.
Oder man stellt sich vor, die Zeit schlägt in verschieden großen Wellen an Land. Wenn man hinnimmt, dass die Welle groß ist, weiß man, dass man viel Kraft und Geschick braucht, um darauf zu reiten. Eine kleine Welle ist keine große Gefahr. Sie reißt nicht in die Tiefe. Man muss sich nicht so damit beschäftigen. Manche Wellen sind zu groß, um darauf zu reiten. Außer man glaubt an Jesus und wie die alle heißen. Ich glaube nur an das Maß an Kraft und wundersame Stärke, das ich in starken Zeiten an mir selbst oder anderen erlebt habe. Ich weiß gar nicht, ob mir schon einmal ein Wunder begegnet ist. Also so ein Wunder zum sich drüber wundern. Naturwunder hab ich schon viele bewundert. Aber ich dachte nie an Hexerei, sondern den einfachen, ganz normalen Zauber der Biologie, die meiner Meinung nach überhaupt keine Mystifizierung braucht, sie ist wunderbar und geheimnisvoll genug, so lange es noch irgendein Rätsel der Zellen und Energie, die sie wachsen und rotieren lässt, gibt. Und selbst wenn alle Formeln gefunden und alle Rätsel gelöst sind, wird der Zauber der Nervenbahnen eines Blattes im Gegenlicht immer bleiben.
Auf manchen Wellen kann man nicht reiten, das wäre Größenwahn. Irrsinn. So langweilig ist das Leben auch nicht, dass man den Abgrund herausfordern müsste, um sich zu spüren. Dafür bin ich mir auch viel zu nah. Ich bin mir zum Beispiel zu wertvoll, im Hinblick darauf, diese einmalige Beziehung zu mir selbst weiterführen zu wollen, und zu erleben, wohin die unwägbare Reise geht, um vor der Zeit aus dem Leben zu treten. Wenn man so etwas artikuliert, bedeutet es natürlich, dass man eine Weile oder immer wieder darüber nachgedacht hat. Es ist ein Dilemma, das viele kennen. Die Sehnsucht nach Auflösung, Schmerzlosigkeit, Leichtigkeit. Aber so lange man es nicht wenigstens einmal über einen längeren Zeitraum geschafft hat, das in diesem irdischen Dasein zu erfahren, hat man eine Aufgabe vor sich. Ein längerer Zeitraum, auf den man später als jene wunderbare Zeit zurückblicken kann. Weißt du noch? Ungetrübt. An die man sich erinnert wie an einen schönen Film ohne Riss in der Geschichte. Gibt es das? Eine strahlend helle, warme Zeit, wie eine Ära? Eigentlich muss es möglich sein, weil auch das Gegenteil möglich ist. Eine Frage, die man sich gar nicht stellt. Gibt es das, eine dunkle Zeit, über einen längeren Zeitraum.
Dunkel, wahrhaft dunkel ist, wenn man in einen lichtlosen Schacht fällt, und fällt und fällt und nicht aufschlägt. Schlägt man auf, ist man ohnmächtig. Wacht man wieder auf, spürt man die Knochen, die Verletzung. Man liegt da und der Kopf dreht sich wieder zum Licht, nach oben, dahin, wovon man fiel, in die Tiefe. Der Blick hält sich an dem fernen Licht fest. Man schaut nicht nach unten, wenn man auf dem Rücken liegt. Nach oben. Es sei denn, man schließt die Augen. Das muss manchmal sein. Man muss auch schlafen. Aber irgendwann ist es nicht mehr interessant, in der Regungslosigkeit zu verharren. Man will nicht erstarren, und wieder spüren, wie sich Bewegungen anfühlen. Dann fängt man vorsichtig wieder damit an, ganz vorsichtig. Bis man wagt, aufzustehen, sich wieder aufzurichten. Dann schaut man, wo ein Mauervorsprung ist, der Halt gibt, beim ersten Tritt, wenn man versucht, sich nach oben zu ziehen. Am besten, man schaut mittags, wenn die Sonne am höchsten steht und senkrecht in die dunkle Tiefe fällt. Dann kann man mit dem Blick ausloten, wo man Halt finden kann. Wie man sich behelfen kann.
Letzte Nacht bin ich sehr erschrocken. Ich habe etwas geträumt, das einen solchen Schmerz verursacht hat, dass ich einen tiefen Schmerzensschrei ausstieß. Es war tief im Schlaf und ich weiß nicht, ob ich nicht wirklich geschrien habe, im Schlaf und davon aufgewacht bin. Der Schmerz war wie ein Dolchstoß, aber waffenlos. Als ob in Sekundenschnelle alles zerstört wurde, was mir lieb und wichtig war, in diesem Augenblick. Ein furchtbarer Moment. Aber ich stand auf, früh, und vergaß über den Tag diesen seltsamen Moment im Traum. Mir ist, als hätte ich in der Nacht noch darüber nachgedacht, dass meine schlafenden Nachbarn vielleicht dadurch aus dem Schlaf geschreckt sein könnten, und dass sie gedacht haben müssten, dass jemandem furchtbare Gewalt angetan wird.
Wenn man sich auf die wichtigsten Überlebensfunktionen konzentriert, die kleinen Ablenkungen reduziert, gewinnt man eine Form von Klarheit in sich, die sich anfühlt, als könnte man die Parameter in seinem Leben besser einschätzen, gewichten und daraus folgern, was man beibehält und was nicht. Was absolut lebensnotwendig ist und auch, was für den Aufbau sorgt. Welche Elemente des Lebens aufstrebende Kräfte in sich tragen. Das zum Beispiel. Sich nach einem Tag, der auf eine schöne Art unspektakulär verlaufen ist, vor dem Schlafengehen solche Gedanken machen zu können. Sie aufzuschreiben, festzuhalten, lesbar zu machen. Für sich selbst und andere. Was für ein Luxus. Die Wohnung so warm, das weiche Bett so nah. Das gesunde Gefühl in den Knochen und Zellen. Die Verantwortung dafür auch endlich begriffen zu haben. Ich bin seit einiger Zeit in einer Phase, in der mir von Giften zugeneigten Hedonisten als wahnhaft diszipliniert belächelte Gesundheitsaktivitäten, meinerseits nicht mehr hysterisch vorkommen. Wahrscheinlich eine gängige Entwicklung in meinem Alter. Ich bin Mitte Vierzig. Ich begrüße es, wenn sich jemand nicht gehen lässt und der direkte Zusammenhang mit gesteigerter Sinnenfreude erkennbar ist. Wahrscheinlich könnte ich jetzt immer so weiter tippen, bis mir die Augen zufallen und ich meine Leser schnarchen höre. Morgen ist auch wieder ein Tag. Ich gehe jetzt ein bißchen nach Westen. Aber nur in meiner Wohnung, zu meinem Bett. Mit dem Kopf nach Süden und den Füßen nach Norden.