09. Juni 2010
Fortsetzung des kleinen Reisetagebuchs. Sonntag, 16. Mai 2010. Der neue Tag nach unserem Konzert in der Disharmonie bricht streng genommen bereits mitten in der Nacht an. Zu sieben Uhr dreißig ist Treffpunkt am Theater in SWC, Abkürzung für Schweinfurt City, wie ich lernen durfte. Wir haben Hoffnung, dass die Sonne die sich nach Lausbubenmanier allzu gerne versteckt, sich vielleicht an diesem hohen Tag, immerhin der Geburtstag Rückerts, für ein paar Stunden blicken lassen wird. Am Treffpunkt steht ein Bus parat, der schon sehr ordentlich mit überwiegend älteren Herrschaften besetzt ist. Der schätzungsweise cirka siebzigjährige Herr Schömburg, der die Wanderung anführen wird, auch ein großer Rückertfreund, begrüßt uns launig mit Handschlag. Auch die anderen Mitwanderer entbieten den hiesigen Gottesgruß. Die gutgelaunte Truppe scheint schon von früheren Geselligkeiten untereinander bekannt zu sein und hat allerhand zu plaudern.
Cosmic steuert auf den erwiesenen Vorzugsplatz, die noch unbesetzte Rückbank. Da es sich bei uns beiden um ordentlich gewachsene Menschen handelt, ist nunmehr kein Spielraum mehr auf der Bank. Ich ziehe mir die Schuhe aus und nutze den noch ebenfalls unbesetzten, vor mir befindlichen Zweier-Sitzplatz um die Beine etwas hochzulegen und damit den Blutkreislauf zu entlasten. Schließlich müssen Kräfte für die anstehende zwanzig Kilometer-Wanderung zu Ehren des großen Dichterfürsten gesammelt werden. Eine ältere Dame fragt nach, wie es dazu käme, dass wir beide diese Wanderung machen wollten. Cosmic erhellt seinen Bezug zu Rückert und fügt hinzu, dass er die erwähnten Vertonungen erst am Abend zuvor in der Disharmonie zu Gehör gebracht hat. Die Erwähnung der Disharmonie verursacht der Dame sichtliches Unbehagen, dem sie in deutlichen Worten Ausdruck verleiht. Die Macher wären früher ihre Nachbarn gewesen, als es noch an einem anderen Standort war und die hätten nie alles ordentlich aufgeräumt und laut war es auch immer. Oder so ähnlich. Cosmic verteidigt die jetzigen Veranstalter, dass es sich offenbar um eine Verwechslung handeln müsste, aber die Dame beharrt unerbittlich auf ihren unerquicklichen Erinnerungen.
Ich erinnere, dass heute der Geburtstag von Herrn Rückert sei und wir den Dichter heute ehren wollen und ich mich schon darauf freuen würde, wenn der Herr Schömburg vielleicht sogar ein Rückert-Gedicht zitieren würde. Die Dame entgegnet keck "Sie können ja ein Gedicht aufsagen!" Dem triumphierenden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, annehmend, dass von mir jungem Gemüse nichts derartiges zu erwarten sei. Sportlich und ohne Zeitverzug pariere ich schön betonend "Die Liebe saß im Mittelpunkt und blickte rings ins Ferne. Und wo von ihr ein Blick hinfunkt, erblüh'n am Himmel Sterne!" Mein doch recht kurzer Vortrag hat offenbar das Herz der Dame zum Erweichen gebracht, denn der nassforsche Gesichtsausdruck weicht einem zuerst überraschten und dann geradezu weichen, ja verklärtem Blick. "Oh... - - - " höre ich eine beinahe sprachlos entzückte Mitwandererin raunen "Wunderschön...! Das ist ja wunderschön. Seh'ns... und ich kenn nicht mal ein einziges Gedicht!"
Der Bus zuckelt los und nimmt noch hie und da weitere Wandersgesellen auf, darunter leider nicht unser erwarteter Dr. Kreutner, der große Vorsitzende der Rückert-Gesellschaft. Denn der habe gestern eine "ungute Bewegung" gemacht, erläutert Herr Schömburg, und sei deswegen unpässlich. Umso größer die Freude, als der Bus erneut an einer Landstraße hält und sich ein etwas jüngerer Wandersmann hinzugesellt. Ich habe diesen Kopf schon auf Cosmics facebook-Profil entdeckt. Der Kopf hat schon mal kommentiert und ein schwer psychedelisches Video verlinkt, welches mich mächtig beeindruckte. Es ist sein Freund Uli. Der Sohn unseres Wanderführers und ein guter alter Freund von Cosmic. Was für eine Freude. Er hat noch nie an einer der Wanderungen teilgenommen, die sein Vater nun schon seit vielen Jahren durchführt, aber heute war der Tag gekommen! Uli nimmt auf einer Sitzbank vor uns Platz und wir fangen an zu erzählen. Uli kommt mir gar nicht fremd vor, eigentlich wie jemand, den man schon immer kennt.
Halt! Eine Wallfahrtskirche. Alle aussteigen. Kirche zu. Alle einsteigen. Herr Schömburg weiß zu jeder Kirche, die auf unserem Weg liegt, viel zu erzählen. Und Bildstöcke! Gerade die Bildstöcke am Wegesrand mit Darstellungen von Heiligen und Ereignissen, an die man sich gerne zurückerinnert (Mildtätigkeit, Wunder, Heilung) gefallen Cosmic und mir ausnehmend gut und inspirieren uns zu synchronen Phantastereien, welchen Begebenheiten aus unserem Leben man Ehre mit dem einen oder anderen Bildstock in Berlin zollen könnte. Mir fällt zum Beispiel der ereignisreiche Tag ein, als ihm sein Freund Micha das Rückertbüchlein auf den Tisch legte und er sogleich drei Gedichte vertonte, alles an einem Nachmittag! Das wäre wahrlich einen Bildstock wert. Man könnte Cosmic an einem alten, gedrechselten Tisch sitzend darstellen, die in Lettern auf Papier manifestierte Gabe aus Freundeshand empfangend. Der Blick so leicht schräg nach oben, gen Himmel.
Der Himmel tut sich auf, wir wandern am Alt-Main entlang, wo das Flussbett noch nicht begradigt wurde. Herr Schömburg erzählt, dass er auch musiziert und dass jeder seinen eigenen Rückert hat. Der eine hat den Liebesfrühling-Rückert, der andere hat den Totenlieder-Rückert und wieder ein anderer hat wieder einen anderen Rückert. Der ehemalige Bürgermeister von Schweinfurt wandert auch mit und entpuppt sich als Vogelkenner. Eine Nachtigall will er erkannt haben und auf jeden Fall einen Pirol! Pschht! Tirilirilii macht der Pirol.
Wir wandern auf blumigen Wiesenwegen und Herr Schömburg erklärt, warum der alte Rückert Anno Dingenskirchen überhaupt diese lange Strecke gewandert ist. Er war eigentlich mit der Kutsche unterwegs, von Coburg Richtung Schweinfurt, auf dem Weg zu Weinlese im elterlichen Weinberg (wo sagenhaft, aber wahr Cosmics Elternhaus steht, wie bereits mitgeteilt) und in dieser Kutsche hatte er Gesellschaft von wohl circa drei Damen, die ihm zu viel dummes Zeug redeten. Bei Eltmann stieg er aus. Lieber ging er den weiten Weg allein auf Schusters Rappen, als das Geschnatter weiter zu ertragen, wie er später in einem Brief festhielt. Und so stieg er aus, und wanderte einmal und nie wieder diese Strecke. Zwanzig Kilometer ungefähr.
Wir wandern über Stock und Stein und Herr Schömburg erzählt mir eine ganze Menge. Ich bin beeindruckt, dass er von ein
er Sache mehr weiß, als Dr. Kreutner, der Vorsitzende der Rückertgesellschaft, nämlich, was es mit den Jahren um den Tod von Rückerts Frau Luise auf sich hat. Schreibtechnisch! Hat er nun seinen Schmerz über den Verlust in Zeilen gefasst oder ist er verstummt, wie Kreutner meinte, als ich ihn darauf ansprach? Herr Schömburg erzählt, in welcher antiquarischen mehrbändigen Ausgabe er späte Verse von Rückert aus dieser Zeit gelesen hat. Er beschriebe in einem Gedicht sogar ihr blasses Antlitz, ihr Totengesicht. Ich bin beeindruckt von unserem Wanderführer. Eine kleine Rast auf einer Waldlichtung am Fluss. Cosmic und ich haben weder Rücksäcke noch Proviant dabei, aber Uli schenkt uns einen Apfel, den er für uns mit seinem Taschenmesser teilt.
Die nächste Rast ist dann auch schon das Mittagessen in einem zünftigen Turnheim (oder wie man das nennt). Schnitzel und so Sachen sind auf der Speisekarte. An den Fenstern hängen Gardinen, die man früher Stores genannt hat. Und Wimpel. So Zeugs. Der Kaffee ist das Komplizierteste, weil die Maschine neu geliefert ist und die Bedienung erst die Betriebsanleitung lesen muss, aber sie hat es geschafft! Draußen ein Zigarettchen. Wir spielen Kung Fu Fighting auf dem Sportrasen und Cosmic, der Super-Handballer (früher) unterstellt mir einen Hang zu unkoordinierten Bewegungen. Ich wäre bestimmt so eine gewesen, die den Ball immer verhauen hat. Also irgendwo hingeworfen, wo er nicht hingehört. Ich bin empört, aber er hat Recht. Ich hab nicht gut geworfen, aber aus Faulheit, weil es mir schnurzpiepegal war. Ich und unkoordiniert! Frechheit! Das wird er noch büßen, mir solche schlimmen Sachen zu unterstellen, ich schmiede bereits an einem Racheplan.
Ich kann leider gar nicht sagen, wie die Kirchen auf unserem Weg alle geheißen haben, in denen wir waren, aber jede hat etwas für sich. In einer ist sogar Gottesdienst! Die Mitwandererin, die ich mit meinem Sprüchlein im Bus zu rühren vermochte, erkennt fachmännisch, dass eine Kommunion gegeben wird. Sehr schöne Kostüme sind zu sehen. Das kennt man ja von den Katholiken, aber man geht viel zu selten zu so einer Aufführung! Auch hat das Volk sehr schön und andächtig mitgesungen. Die Reihenfolge von den Kirchen weiß ich auch nicht mehr genau, aber das ist ja auch nicht so wichtig. In einer waren so Klosterfrauen-Gruften mit schöner Bildhauerei drauf. Zum Beispiel der Totenkopf vom FC Sankt Pauli!
Draußen auf dem Kirchhof war dann schöne Sonne und ich hab schöne Fotos von Uli und Cosmic gemacht, wo man gleich denkt, wir hatten dauernd schönes Wetter. Daran erinnert man sich gerne. Uli lacht sehr schön und Cosmic spielt Vogel flieg. Das ist mir erst aufgefallen, als ich die Fotos daheim angeschaut habe. Wie kann man so ein schönes Foto zufällig machen. Sachen gibt’s...
Nach einer Weile kommen wir sogar zu einem Quellsee mit einer unterirdischen Höhle und einem Flüsschen, wo das Gestein ganz orange war, weil viel Eisen drin ist. Glaub ich. Manche haben Kneipp-Badekur gespielt aber wir hatten keine Lust die Schuhe und die Strümpfe auszuziehen. Die Sonne war auch gerade wieder weg und Cosmic setzt sich die Kapuze auf und sieht aus wie Merlin, der jeden Baum beim Vornamen kennt. Dann hat er die Sonne wieder herbeigezaubert und wir waren auf einem Lehrpfad, wo so Sachen zum Natur lernen aufgebaut waren. Eine Biberburg und lauter Baumstämme aus verschiedenen Hölzern. Da konnte man draufhauen und den Unterschied hören, wie hart Eichenholz ist im Gegensatz zu Weide oder Pappel. Das haben fast alle gemacht, den Hammer geschwungen und draufgehauen. Cosmic auch. Ich hab nur zugeschaut. Zu faul! Weiter geht die Wanderung (wanderwanderwander). Eine Weile ist Cosmic ganz vorne, als wollte er die Gruppe anführen, Uli und ich trödeln hinterher, sehen ihn und den Rest der Gruppe nur noch in der Ferne und erzählen uns Geschichten von früher. Er von seinen Ausbüchsereien nach Indien und Berlin, ich erzähle ihm Indianergeschichten.
Wir kommen zu einem Schloß, das Cosmic und mir super gefällt. Ich mache gleich Fotos, wo man einwandfrei sieht, dass Cosmic der geborene Schloßherr ist, ja wie dafür gemacht. Bei keinem anderen aus der Wandergruppe könnte man denken, dass ihm das Schloss gehört, aber die Art schon alleine, wie familiär Cosmic auf das Schloßportal zugeht. Das kann kein Zufall sein! Sicher ist Reinkarnation im Spiele!
Nach dem Schloßbesuch waren wir noch in einer Kirche, die rund war, mich aber trotzdem nicht beeindruckt hat und dann noch ein jüdisches Viertel und dann in eine Gastwirtschaft. Cosmic, Uli, sein Papa Schömburg und ich setzen uns draußen in die späte Nachmittagssonne und trinken einen Haufen Cappuccino. Herr Schömburg isst Wurstsalat und trinkt dazu ein Bier. Wir machen lustige Fotos, auf einem winkt Uli in die Kamera, damit es richtig schön nach Ausflug und Erinnerungsfoto ausschaut. Das hat auch einwandfrei geklappt, wie man sieht.
Die Wandergesellschaft im Inneren der Gastwirtschaft findet kein rechtes Ende mit der Kaffeetrinkerei und Cosmic muss dem Herumgetrödel ein Ende bereiten, weil wir schließlich alsbald zurück nach Schweinfurt müssen, um pünktlich zu unserer Essenseinladung zu kommen. Es gibt Spargel und einen Nachtisch, der Cosmic schon in Gedanken in Aufruhr versetzt. Also los jetzt.
Schnell umziehen! Die erdverkrusteten Schuhe aus und saubere Sachen an! Zu Füßen des Beifahrersitzes liegt die Tüte mit den drei Flaschen Wein, die ich als Mitbringsel zum Essen gekauft habe. Eine Notfallaktion am Tag vorher, dem Samstag als wir zur Probe unseres Auftritts aufbrachen. Schnell! Ein Weinladen! Wo? Hier! Okay! Ich steig schnell aus, bin gleich zurück! Laden schon zu, klopf klopf, macht auf. Wie nett! Sehe gar nicht gleich, dass ich in einem italienischen Weingeschäft gelandet bin. Unwirsch bemängle ich das ausschließlich aus Weinen italienischer Herkunft bestehende Sortiment. Die Frage nach dem besten Weißwein, zu Spargel passend und bitte möglichst überhaupt nicht fruchtig, gerne Richtung Grüner Veltliner oder Vinho Verde (spritzig, trocken), wird abschlägig beschieden. Das würde ja gar nicht zum Spargel passen. Ich hoffe immer noch, dass so ein kleiner Einzelhändler fachmännische Kenntnisse haben könnte und ich nur wieder unbelehrbar auf meinen Vorurteilen herumreiten will, zeige mich also in der Not willig und verlasse mit drei verschiedenen Flaschen italienischer Rebsäfte seiner Empfehlung das Geschäft. Cosmic berichte ich den misstrauenerregend günstigen Preis für drei Flaschen des geforderten „besten Weins“. Sicher alles nur Vorurteile! Und gibt es nicht Menschen, die freiwillig Wein aus Italien trinken? Eben!
Wir kommen an. Als Cosmic einparkt, erkenne ich seinen Bruder, der uns durch die Scheibe zuwinkt. Er ist mit seiner kleinen Familie gekommen, die auch gerade aus dem Auto aussteigt. Aus dem Wohnzimmer dringt Fussballbegeisterung in die Küche. Ein wichtiges regionales Spiel, die Mannschaftsaufstellung habe ich leider vergessen. Cosmics Schwestern wuseln in der Küche herum, um allen ein schönes Mahl zu zaubern. Ich bin ganz angetan von den schönen Wackersteinen auf den Töpfen, in denen sich der Zaubernachtisch nach Mama-Rezept befindet. Kartoffeln müssen noch geschält werden und die Sauce Hollandaise! Oder war es Bernaise? Auf jeden Fall muss Cosmic mithelfen. Das macht er sehr gut. Nach Anleitung seiner kleinen Schwester rührt er vorsichtig die Soße, die wenig später auf dem schön gedeckten Tisch steht. Der Wein wird geöffnet. Mir ist ein wenig bang. Die Farbe ist schon etwas misstrauenserregend. Dieser gelbliche Farbton lässt nichts Gutes befürchten. Aha. So schmeckt also ein Wein, der nach Ansicht des Verkäufers zum Spargel zu empfehlen wäre. Mir fehlen zwar die Worte, aber mutig bekenne ich, dass es sich bei dem mitgebrachten Tropfen nicht um ein Getränk handelt, das ich weiter zu trinken gedenke. Nicht dass der Wein ausgesprochen schlecht wäre, wahrscheinlich sogar recht vollmundig, sofern man im Einzelfall auf einen beerig lieblichen Tropfen mit einer ausgeprägten Natursüße aus sein sollte. Erlösung naht. Cosmics Papa hat noch eine offene Flasche Riesling griffbereit. Der Abend ist gerettet! Und danach einen schönen Julius-Spital Silvaner. Der Spargel ist genauso wunderbar wie die Kartoffeln, der zarte Schinken, und die Sauce Bernaise oder Hollandaise. Der österreichische Nachttisch Mohr imSchlafrock Hemd nach Mama-Rezept befindet sich auf dem deutschen Drogenindex.
Der Abend endet auf der lauschigen Terrasse mit einem Pfeifchen und einem Zigarettchen und noch einem und dem wunderbaren Silvaner und Papa und Cosmic und Schwester und Schwester und Bruder und Schwägerin und Nichte und Neffe und Sebastian und einem Geburtstagsständchen über’s Telefon nach New York. Nicht nur Friedrich Rückert hat an diesem Tag Geburtstag. Woran erkennt man, dass der Mond zu- oder abnimmt, fragt Cosmics Papa in die Runde. Und erklärt den gegensätzlichen Bogen sehr schön mit zwei lateinischen Begriffen, was zu veritabler himmlischer Verwirrung führt. Aber schön! Der Abend. Ich glaube, den Hunden hat er auch gefallen. Doch ganz bestimmt. Und mir sowieso.
alle Bilder.
Cosmic steuert auf den erwiesenen Vorzugsplatz, die noch unbesetzte Rückbank. Da es sich bei uns beiden um ordentlich gewachsene Menschen handelt, ist nunmehr kein Spielraum mehr auf der Bank. Ich ziehe mir die Schuhe aus und nutze den noch ebenfalls unbesetzten, vor mir befindlichen Zweier-Sitzplatz um die Beine etwas hochzulegen und damit den Blutkreislauf zu entlasten. Schließlich müssen Kräfte für die anstehende zwanzig Kilometer-Wanderung zu Ehren des großen Dichterfürsten gesammelt werden. Eine ältere Dame fragt nach, wie es dazu käme, dass wir beide diese Wanderung machen wollten. Cosmic erhellt seinen Bezug zu Rückert und fügt hinzu, dass er die erwähnten Vertonungen erst am Abend zuvor in der Disharmonie zu Gehör gebracht hat. Die Erwähnung der Disharmonie verursacht der Dame sichtliches Unbehagen, dem sie in deutlichen Worten Ausdruck verleiht. Die Macher wären früher ihre Nachbarn gewesen, als es noch an einem anderen Standort war und die hätten nie alles ordentlich aufgeräumt und laut war es auch immer. Oder so ähnlich. Cosmic verteidigt die jetzigen Veranstalter, dass es sich offenbar um eine Verwechslung handeln müsste, aber die Dame beharrt unerbittlich auf ihren unerquicklichen Erinnerungen.
Ich erinnere, dass heute der Geburtstag von Herrn Rückert sei und wir den Dichter heute ehren wollen und ich mich schon darauf freuen würde, wenn der Herr Schömburg vielleicht sogar ein Rückert-Gedicht zitieren würde. Die Dame entgegnet keck "Sie können ja ein Gedicht aufsagen!" Dem triumphierenden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, annehmend, dass von mir jungem Gemüse nichts derartiges zu erwarten sei. Sportlich und ohne Zeitverzug pariere ich schön betonend "Die Liebe saß im Mittelpunkt und blickte rings ins Ferne. Und wo von ihr ein Blick hinfunkt, erblüh'n am Himmel Sterne!" Mein doch recht kurzer Vortrag hat offenbar das Herz der Dame zum Erweichen gebracht, denn der nassforsche Gesichtsausdruck weicht einem zuerst überraschten und dann geradezu weichen, ja verklärtem Blick. "Oh... - - - " höre ich eine beinahe sprachlos entzückte Mitwandererin raunen "Wunderschön...! Das ist ja wunderschön. Seh'ns... und ich kenn nicht mal ein einziges Gedicht!"
Der Bus zuckelt los und nimmt noch hie und da weitere Wandersgesellen auf, darunter leider nicht unser erwarteter Dr. Kreutner, der große Vorsitzende der Rückert-Gesellschaft. Denn der habe gestern eine "ungute Bewegung" gemacht, erläutert Herr Schömburg, und sei deswegen unpässlich. Umso größer die Freude, als der Bus erneut an einer Landstraße hält und sich ein etwas jüngerer Wandersmann hinzugesellt. Ich habe diesen Kopf schon auf Cosmics facebook-Profil entdeckt. Der Kopf hat schon mal kommentiert und ein schwer psychedelisches Video verlinkt, welches mich mächtig beeindruckte. Es ist sein Freund Uli. Der Sohn unseres Wanderführers und ein guter alter Freund von Cosmic. Was für eine Freude. Er hat noch nie an einer der Wanderungen teilgenommen, die sein Vater nun schon seit vielen Jahren durchführt, aber heute war der Tag gekommen! Uli nimmt auf einer Sitzbank vor uns Platz und wir fangen an zu erzählen. Uli kommt mir gar nicht fremd vor, eigentlich wie jemand, den man schon immer kennt.
Halt! Eine Wallfahrtskirche. Alle aussteigen. Kirche zu. Alle einsteigen. Herr Schömburg weiß zu jeder Kirche, die auf unserem Weg liegt, viel zu erzählen. Und Bildstöcke! Gerade die Bildstöcke am Wegesrand mit Darstellungen von Heiligen und Ereignissen, an die man sich gerne zurückerinnert (Mildtätigkeit, Wunder, Heilung) gefallen Cosmic und mir ausnehmend gut und inspirieren uns zu synchronen Phantastereien, welchen Begebenheiten aus unserem Leben man Ehre mit dem einen oder anderen Bildstock in Berlin zollen könnte. Mir fällt zum Beispiel der ereignisreiche Tag ein, als ihm sein Freund Micha das Rückertbüchlein auf den Tisch legte und er sogleich drei Gedichte vertonte, alles an einem Nachmittag! Das wäre wahrlich einen Bildstock wert. Man könnte Cosmic an einem alten, gedrechselten Tisch sitzend darstellen, die in Lettern auf Papier manifestierte Gabe aus Freundeshand empfangend. Der Blick so leicht schräg nach oben, gen Himmel.
Der Himmel tut sich auf, wir wandern am Alt-Main entlang, wo das Flussbett noch nicht begradigt wurde. Herr Schömburg erzählt, dass er auch musiziert und dass jeder seinen eigenen Rückert hat. Der eine hat den Liebesfrühling-Rückert, der andere hat den Totenlieder-Rückert und wieder ein anderer hat wieder einen anderen Rückert. Der ehemalige Bürgermeister von Schweinfurt wandert auch mit und entpuppt sich als Vogelkenner. Eine Nachtigall will er erkannt haben und auf jeden Fall einen Pirol! Pschht! Tirilirilii macht der Pirol.
Wir wandern auf blumigen Wiesenwegen und Herr Schömburg erklärt, warum der alte Rückert Anno Dingenskirchen überhaupt diese lange Strecke gewandert ist. Er war eigentlich mit der Kutsche unterwegs, von Coburg Richtung Schweinfurt, auf dem Weg zu Weinlese im elterlichen Weinberg (wo sagenhaft, aber wahr Cosmics Elternhaus steht, wie bereits mitgeteilt) und in dieser Kutsche hatte er Gesellschaft von wohl circa drei Damen, die ihm zu viel dummes Zeug redeten. Bei Eltmann stieg er aus. Lieber ging er den weiten Weg allein auf Schusters Rappen, als das Geschnatter weiter zu ertragen, wie er später in einem Brief festhielt. Und so stieg er aus, und wanderte einmal und nie wieder diese Strecke. Zwanzig Kilometer ungefähr.
Wir wandern über Stock und Stein und Herr Schömburg erzählt mir eine ganze Menge. Ich bin beeindruckt, dass er von ein
er Sache mehr weiß, als Dr. Kreutner, der Vorsitzende der Rückertgesellschaft, nämlich, was es mit den Jahren um den Tod von Rückerts Frau Luise auf sich hat. Schreibtechnisch! Hat er nun seinen Schmerz über den Verlust in Zeilen gefasst oder ist er verstummt, wie Kreutner meinte, als ich ihn darauf ansprach? Herr Schömburg erzählt, in welcher antiquarischen mehrbändigen Ausgabe er späte Verse von Rückert aus dieser Zeit gelesen hat. Er beschriebe in einem Gedicht sogar ihr blasses Antlitz, ihr Totengesicht. Ich bin beeindruckt von unserem Wanderführer. Eine kleine Rast auf einer Waldlichtung am Fluss. Cosmic und ich haben weder Rücksäcke noch Proviant dabei, aber Uli schenkt uns einen Apfel, den er für uns mit seinem Taschenmesser teilt.
Die nächste Rast ist dann auch schon das Mittagessen in einem zünftigen Turnheim (oder wie man das nennt). Schnitzel und so Sachen sind auf der Speisekarte. An den Fenstern hängen Gardinen, die man früher Stores genannt hat. Und Wimpel. So Zeugs. Der Kaffee ist das Komplizierteste, weil die Maschine neu geliefert ist und die Bedienung erst die Betriebsanleitung lesen muss, aber sie hat es geschafft! Draußen ein Zigarettchen. Wir spielen Kung Fu Fighting auf dem Sportrasen und Cosmic, der Super-Handballer (früher) unterstellt mir einen Hang zu unkoordinierten Bewegungen. Ich wäre bestimmt so eine gewesen, die den Ball immer verhauen hat. Also irgendwo hingeworfen, wo er nicht hingehört. Ich bin empört, aber er hat Recht. Ich hab nicht gut geworfen, aber aus Faulheit, weil es mir schnurzpiepegal war. Ich und unkoordiniert! Frechheit! Das wird er noch büßen, mir solche schlimmen Sachen zu unterstellen, ich schmiede bereits an einem Racheplan.
Ich kann leider gar nicht sagen, wie die Kirchen auf unserem Weg alle geheißen haben, in denen wir waren, aber jede hat etwas für sich. In einer ist sogar Gottesdienst! Die Mitwandererin, die ich mit meinem Sprüchlein im Bus zu rühren vermochte, erkennt fachmännisch, dass eine Kommunion gegeben wird. Sehr schöne Kostüme sind zu sehen. Das kennt man ja von den Katholiken, aber man geht viel zu selten zu so einer Aufführung! Auch hat das Volk sehr schön und andächtig mitgesungen. Die Reihenfolge von den Kirchen weiß ich auch nicht mehr genau, aber das ist ja auch nicht so wichtig. In einer waren so Klosterfrauen-Gruften mit schöner Bildhauerei drauf. Zum Beispiel der Totenkopf vom FC Sankt Pauli!
Draußen auf dem Kirchhof war dann schöne Sonne und ich hab schöne Fotos von Uli und Cosmic gemacht, wo man gleich denkt, wir hatten dauernd schönes Wetter. Daran erinnert man sich gerne. Uli lacht sehr schön und Cosmic spielt Vogel flieg. Das ist mir erst aufgefallen, als ich die Fotos daheim angeschaut habe. Wie kann man so ein schönes Foto zufällig machen. Sachen gibt’s...
Nach einer Weile kommen wir sogar zu einem Quellsee mit einer unterirdischen Höhle und einem Flüsschen, wo das Gestein ganz orange war, weil viel Eisen drin ist. Glaub ich. Manche haben Kneipp-Badekur gespielt aber wir hatten keine Lust die Schuhe und die Strümpfe auszuziehen. Die Sonne war auch gerade wieder weg und Cosmic setzt sich die Kapuze auf und sieht aus wie Merlin, der jeden Baum beim Vornamen kennt. Dann hat er die Sonne wieder herbeigezaubert und wir waren auf einem Lehrpfad, wo so Sachen zum Natur lernen aufgebaut waren. Eine Biberburg und lauter Baumstämme aus verschiedenen Hölzern. Da konnte man draufhauen und den Unterschied hören, wie hart Eichenholz ist im Gegensatz zu Weide oder Pappel. Das haben fast alle gemacht, den Hammer geschwungen und draufgehauen. Cosmic auch. Ich hab nur zugeschaut. Zu faul! Weiter geht die Wanderung (wanderwanderwander). Eine Weile ist Cosmic ganz vorne, als wollte er die Gruppe anführen, Uli und ich trödeln hinterher, sehen ihn und den Rest der Gruppe nur noch in der Ferne und erzählen uns Geschichten von früher. Er von seinen Ausbüchsereien nach Indien und Berlin, ich erzähle ihm Indianergeschichten.
Wir kommen zu einem Schloß, das Cosmic und mir super gefällt. Ich mache gleich Fotos, wo man einwandfrei sieht, dass Cosmic der geborene Schloßherr ist, ja wie dafür gemacht. Bei keinem anderen aus der Wandergruppe könnte man denken, dass ihm das Schloss gehört, aber die Art schon alleine, wie familiär Cosmic auf das Schloßportal zugeht. Das kann kein Zufall sein! Sicher ist Reinkarnation im Spiele!
Nach dem Schloßbesuch waren wir noch in einer Kirche, die rund war, mich aber trotzdem nicht beeindruckt hat und dann noch ein jüdisches Viertel und dann in eine Gastwirtschaft. Cosmic, Uli, sein Papa Schömburg und ich setzen uns draußen in die späte Nachmittagssonne und trinken einen Haufen Cappuccino. Herr Schömburg isst Wurstsalat und trinkt dazu ein Bier. Wir machen lustige Fotos, auf einem winkt Uli in die Kamera, damit es richtig schön nach Ausflug und Erinnerungsfoto ausschaut. Das hat auch einwandfrei geklappt, wie man sieht.
Die Wandergesellschaft im Inneren der Gastwirtschaft findet kein rechtes Ende mit der Kaffeetrinkerei und Cosmic muss dem Herumgetrödel ein Ende bereiten, weil wir schließlich alsbald zurück nach Schweinfurt müssen, um pünktlich zu unserer Essenseinladung zu kommen. Es gibt Spargel und einen Nachtisch, der Cosmic schon in Gedanken in Aufruhr versetzt. Also los jetzt.
Schnell umziehen! Die erdverkrusteten Schuhe aus und saubere Sachen an! Zu Füßen des Beifahrersitzes liegt die Tüte mit den drei Flaschen Wein, die ich als Mitbringsel zum Essen gekauft habe. Eine Notfallaktion am Tag vorher, dem Samstag als wir zur Probe unseres Auftritts aufbrachen. Schnell! Ein Weinladen! Wo? Hier! Okay! Ich steig schnell aus, bin gleich zurück! Laden schon zu, klopf klopf, macht auf. Wie nett! Sehe gar nicht gleich, dass ich in einem italienischen Weingeschäft gelandet bin. Unwirsch bemängle ich das ausschließlich aus Weinen italienischer Herkunft bestehende Sortiment. Die Frage nach dem besten Weißwein, zu Spargel passend und bitte möglichst überhaupt nicht fruchtig, gerne Richtung Grüner Veltliner oder Vinho Verde (spritzig, trocken), wird abschlägig beschieden. Das würde ja gar nicht zum Spargel passen. Ich hoffe immer noch, dass so ein kleiner Einzelhändler fachmännische Kenntnisse haben könnte und ich nur wieder unbelehrbar auf meinen Vorurteilen herumreiten will, zeige mich also in der Not willig und verlasse mit drei verschiedenen Flaschen italienischer Rebsäfte seiner Empfehlung das Geschäft. Cosmic berichte ich den misstrauenerregend günstigen Preis für drei Flaschen des geforderten „besten Weins“. Sicher alles nur Vorurteile! Und gibt es nicht Menschen, die freiwillig Wein aus Italien trinken? Eben!
Wir kommen an. Als Cosmic einparkt, erkenne ich seinen Bruder, der uns durch die Scheibe zuwinkt. Er ist mit seiner kleinen Familie gekommen, die auch gerade aus dem Auto aussteigt. Aus dem Wohnzimmer dringt Fussballbegeisterung in die Küche. Ein wichtiges regionales Spiel, die Mannschaftsaufstellung habe ich leider vergessen. Cosmics Schwestern wuseln in der Küche herum, um allen ein schönes Mahl zu zaubern. Ich bin ganz angetan von den schönen Wackersteinen auf den Töpfen, in denen sich der Zaubernachtisch nach Mama-Rezept befindet. Kartoffeln müssen noch geschält werden und die Sauce Hollandaise! Oder war es Bernaise? Auf jeden Fall muss Cosmic mithelfen. Das macht er sehr gut. Nach Anleitung seiner kleinen Schwester rührt er vorsichtig die Soße, die wenig später auf dem schön gedeckten Tisch steht. Der Wein wird geöffnet. Mir ist ein wenig bang. Die Farbe ist schon etwas misstrauenserregend. Dieser gelbliche Farbton lässt nichts Gutes befürchten. Aha. So schmeckt also ein Wein, der nach Ansicht des Verkäufers zum Spargel zu empfehlen wäre. Mir fehlen zwar die Worte, aber mutig bekenne ich, dass es sich bei dem mitgebrachten Tropfen nicht um ein Getränk handelt, das ich weiter zu trinken gedenke. Nicht dass der Wein ausgesprochen schlecht wäre, wahrscheinlich sogar recht vollmundig, sofern man im Einzelfall auf einen beerig lieblichen Tropfen mit einer ausgeprägten Natursüße aus sein sollte. Erlösung naht. Cosmics Papa hat noch eine offene Flasche Riesling griffbereit. Der Abend ist gerettet! Und danach einen schönen Julius-Spital Silvaner. Der Spargel ist genauso wunderbar wie die Kartoffeln, der zarte Schinken, und die Sauce Bernaise oder Hollandaise. Der österreichische Nachttisch Mohr im
Der Abend endet auf der lauschigen Terrasse mit einem Pfeifchen und einem Zigarettchen und noch einem und dem wunderbaren Silvaner und Papa und Cosmic und Schwester und Schwester und Bruder und Schwägerin und Nichte und Neffe und Sebastian und einem Geburtstagsständchen über’s Telefon nach New York. Nicht nur Friedrich Rückert hat an diesem Tag Geburtstag. Woran erkennt man, dass der Mond zu- oder abnimmt, fragt Cosmics Papa in die Runde. Und erklärt den gegensätzlichen Bogen sehr schön mit zwei lateinischen Begriffen, was zu veritabler himmlischer Verwirrung führt. Aber schön! Der Abend. Ich glaube, den Hunden hat er auch gefallen. Doch ganz bestimmt. Und mir sowieso.
alle Bilder.
g a g a - 9. Juni 2010, 03:23