4. Mai 2023, Reisenotizen
10:10
S-Bahn Richtung Hbf., 3er Gruppe Berliner Rentner. 2 Damen, 1 Herr. "Man müsste viel öfter mal so...." (Geste zum Fenster hinaus) "sich das alles mal wieder so". Die Eine: "wie meinst Du das?" "Na ja, wg. all dem, was jetzt so lange nicht ging" (Gespräch kommt auf Spandau) "Spandau dit is ja ooch - hast det einmal jesehn und denn isset jut."
Bln. Hbf, Tief, Gleis 1. Anzeige: "ICE 507 (nach München) 10:29 entfällt." Gleis 2 "ICE Soundso (nach München) 10:29. Selbe Route, Ersatz wg. techn. Probleme, kommt pünktlich. Selbe Fahrzeit.
Reisegruppe ca. 20 Personen, sammelt sich im Bistro, ich finde ein Plätzchen auf einer Polsterbank mit Tisch, links von mir ein junger Mann, der eifrig Zahlenkolonnen auf seinem Notebook studiert, ab und zu telefoniert er kurz leise, tauscht sich mit jemandem auf Englisch über seine Analysen aus, ich lausche aber nicht richtig. Er scheint tatsächlich zu arbeiten, kein Herumgedaddel, keine lautstarken Poser-Telefonate mit viel Getue, alles mit gesenkter Stimme. Die Reisegruppe, offenbar Kollegen, hauptsächlich Frauen, tauscht sich hingegen mit gar nicht gesenkten Stimmen aus. Es geht auf Elf zu, die ersten Sektfläschchen werden für die Runde geordert. Ich versuche mich auf Bodo Kirchhoff zu konzentrieren, brauche ungefähr 10 Minuten für eine Seite. Ich versuche aus dem Austausch der Damen herauszuhören, um welche Berufsgruppe oder Branche es sich handeln könnte. Eine Wortführerin, ca. Ende Dreißig, brünett, attraktiv, schicke Pferdeschwanzfrisur, eng sitzende Jeans, langärmliges, creme-weißes Shirt mit PARIS-Applikation und rotem Herz über dem i
(braungebrannt, gute Zähne), gibt ein Erlebnis zum besten. Inhalt sinngemäß ein Geburtsvorgang. Fragen zur Namenswahl für den Säugling, und dass mitgeteilt wurde, man wolle das Kind erst sehen (verstehe ich komplett). Die Pferdeschwanz-Kollegin berichtet im Ton des Unverständnisses. Ich tippe nun auf medizinisches Fachpersonal. Krankenschwestern, Ärzte! Die zwei Männer in der Gruppe haben kurzärmlige Poloshirts an und wirken auch irgendwie Ärzte-haft. Durchtrainiert, ruhige Ausstrahlung, intelligent, zupackend, kompetent. Die ganze Gruppe wirkt auf mich pragmatisch, praktisch veranlagt, zupackend aber auch gebildet. Gutes Gruppenverhalten, Teamgeist, unegoistisch. "Paris" bestellt sich nun Currywurst und ist pünktlich zum Ausstieg in Leipzig fertig. Eine andere Kollegin sammelt die leeren Sekt-Pappbecher ein. Mitunter ging es im Palaver auch um Kostümierungen, die bevorzustehen scheinen. Eventuell Teambuilding-Maßnahme mit Ringelpiez mit Anfassen in Leipziger Seminarhotel? Ich weiß es nicht und werde es nie erfahren. Nur kriegte ich noch mit, dass der Bistro-Chef der ganzen Gruppe ein Gratis-Getränk ausgab. Ich vermute als Entschädigung für die entfallenen Platzreservierungen für die Großgruppe. Ich horche auf, sage "oh! Ein Getränk???" Eine Kollegin aus der Gruppe klärt mich auf, durchaus freundlich: "Ja, aber nicht für Sie, Sie gehören ja nicht zu unserer Gruppe!" Ich verstehe. Ich hatte ja auch keine entfallene Platzreservierung zu beklagen, da ich nie reserviere. Ich habe gerne die freie Auswahl, ohne Aufpreis. Es findet sich fast immer ein Plätzchen, manchmal auch auf dem weichen Teppich auf dem Gang. Nach Leipzig habe ich Lust auf einen Platzwechsel, nehme Buch und Umhängetasche und finde...
(...) einen Premiumplatz im Bord-Restaurant, weniger Meter vom Bordbistro. Sogleich kommt eine nette blonde Kellnerin mit Zopffrisur, adrett geflochten, und nimmt die Bestellung auf. Es ist kurz vor 12 Uhr, ich bestelle gegen meine sonstigen Gewohnheiten eine warme Mahlzeit, nämlich Chili con Carne, dazu ein kleines Bitburger. So früh trinke ich sonst nie, aber es korrespondiert einwandfrei mit dem Chili con Carne, das superheiß mit einem extra Tütchen Chiliflocken serviert wird. Heißes Chili, kaltes Pils, prima! Nebenher lese ich wieder im Kirchhoff, komme nicht recht voran, weil ich abermals der Konversation am Nebentisch folge. Ein Mann, eine Frau, offenbar Zugbekanntschaft, tauschen sich angeregt über ihren bisherigen beruflichen Werdegang aus. Er Hamburger Slang, sie leicht fränkisch. Auf meiner Sichtachse außerdem zwei, drei Männer, ca. um die Vierzig, der Eine in einer Art maritimen Freizeitlook gekleidet, dunkelblau-cremeweiß fein geringeltes Shirt, darüber ein lockeres dunkelblaues Sakko, hellgraue Popelinehose, Turnschuhe, guter Haarschnitt, brünett. Gutaussehend. Eine stylishe Brille mit Retro-Gestell à la Woody Allen liegt vor ihm auf dem Tisch, während er sich angeregt mit seinem Gegenüber austauscht. Mitunter geht sein Blick direkt in meine Richtung. Ich verstehe nicht, was gesprochen wird, aber höre die Stimmlage, relativ hoch und hell für einen "so" aussehenden Mann. Mir fällt auf, dass er dadurch massiv an Attraktivität für mich verliert.
Ein älterer Mann, ca. Anfang Sechzig, intellektuell wirkend, schlank, groß, leicht furchige Gesichtszüge, betritt das Bordrestaurant und fragt mich, ob an meinem (2er-)Tisch noch Platz sei. Ich sage ja, er nimmt mir gegenüber Platz, ich löffle mein Chili. Er fragt, ob es gut ist, ich sage ja, "auch schön scharf". Und dass es ja auch nur zwei Sachen zur Auswahl gibt: Chili con Carne und Curry Wurst (also an warmen Speisen, sonst Wraps und Baguettes). Er bestellt auch das Chili und eine Coke Zero. Ich denke kurz darüber nach, ob er trockener Alkoholiker ist. Viele Fahrgäste bestellen - wie ich auch - auf Reisen auch schon mal früher ein alkoholhaltiges Begleitgetränk. Er bestellt sehr routiniert zu seinem Chili eine "Extrawurst", nämlich ein "getoastetes Brötchen mit extra Butter". Die Kellnerin muss leider bei der extra Butter passen. Dass er das regulär mit dem Chili servierte Brötchen "getoasted" bestellt hat, hat sie wohl geflissentlich übergangen. Kurz bevor sein Chili an den kleinen Tisch kommt, bin ich mit meinem fertig und kann Platz für seines machen, indem ich den dicken Kirchhoff zu mir ziehe. Ich bemerke mehr Lust zu haben, diese kleinen Reisebeobachtungen aufzuschreiben, als zu lesen. So sitze ich nun hier und schreibe auf DIN A4-Papier. Schon die vierte Seite! Leere Rückseiten meiner ausgedruckten Reise-Infos. Jetzt: "Bamberg". Danach "Erlangen". Da steige ich aus!
21:15 / ICE 500 → Erlangen, Bln. Gesundbrunnen.
Bord-Restaurant. Currywurst mit Pommes (m. einer Extra Portion Chiliflocken! Dafür gabs schönes Trinkgeld). Das zweite Bitburger. Nun satt. Nach Ankunft in Erlangen Umsteigen in die S1 nach Fürth, Notar-Termin. Mein Neffe Valerian wusste nicht, dass ich mit der S-Bahn aus Erlangen komme, aber wir fanden uns unten im Gang zu den Bahnsteigen. Seine Sabrina war auch da, wir drückten uns. Dann Richtung Innenstadt spaziert, noch Zeit bis zum Notar-Termin, ich war gegen 14:05 angekommen, der Termin um 15 Uhr. Wir tranken Cappucchino im sehr sommerlichen Sonnenschein im Café ... (Casa Pane) am xy-Platz (Friedrichstr. 8) mit Zuckerbäckerfassade (keine Fotos gemacht, Kamera daheim). Vorher unterwegs noch Mandarinen und Pfingstrosen für Mama besorgt. Nun Spaziergang zum Notar in der Königstr.. Was für eine Lage! Direkt am Wiesengrund, hier lässt es sich notariell arbeiten, toll. Der Notar hatte einen späteren Termin im Kalender, 16 Uhr, noch ein Mandant/Klient vor uns. Gehen wir spazieren, er würde auf dem Handy anrufen (Valerians) wenn der Klient vor uns versorgt wäre. Wir spazierten zum Wiesengrund und tauschten uns aus. Eingemachtes. Keine Details. Dann klingelte auch schon der Notar durch, weit vor 16 Uhr. Wir gingen zurück, ich hatte die Mama-Pfingstrosen zum Glück von der Notariatsfachangestellten ins Wasser stellen lassen. In einem sehr modernen Besprechungszimmer empfing uns der Stellvertreter des Notars, ein sehr adretter junger Mann in Schlips und Anzug. Und es ging los! Und dann kam uns der RÜCKLÄUFIGE MERKUR (!) dazwischen. →
Klärungsbedarf. (Hier Schweigepflicht) Ein neuer Termin, nach weiteren Abstimmungen, wurde anberaumt. So blöd das war, ich war auch erleichtert, weil ich erst tags zuvor in die Ephemeriden geschaut hatte, und gesehen, dass Merkur bis einschl. 15. Mai 23 rückläufig ist. Keine Verträge schließen! Urältestes Astrologengesetz. Keine Verträge um wichtige Angelegenheiten unterzeichnen. Puh, das war knapp. Der Notar hatte so entschieden. Ende Juni dann, da capo. Kein rückläufiger Merkur. Dann endlich zum Mama-Besuch. Und nun schreibe ich dies im ICE 500, zurück nach Berlin, auf dem letzten freien Platz meiner Reiseunterlagen-Zettellage. Im Bord-Restaurant sitzen außer mir nur noch Männer im Alter zwischen 35 und 50. Der Mann gegenüber hat vorhin seine Freundin(?) am Telefon angelogen. Er hatte nur eine Flasche Bier vor sich und kokettierte:
Und mit diesem halb fertigen Satz bricht mein handschriftlicher Reisebereicht komplett ab. Ich guckte wohl irgendwie nachdenkend in die Luft und nahm einen Schluck und legte den Stift hin. Der letzte Satz wäre in etwa so weitergegangen:
"(...) Er hatte nur eine Flasche Bier vor sich und kokettierte: "ich sitze wie immer im Bordrestaurant, ich esse mich doch immer komplett durch die Karte". Ich dachte so bei mir: Du Aufschneider! Überhaupt neigte er stark zum Ausschmücken seiner Erlebnisse, ich meinte, bei allem eine Übertreibung herauszuhören. Auf seiner picobello sauberen Tischhälfte war außer einem Bierglas und der Bierflasche kein einziger Fussel oder Krümel einer verzehrten Speise. Ich dachte mir so meinen Teil über diesen Herrn! Wahrscheinlich nimmt er es auch sonst nicht so genau mit der Wahrheit! Oder aber ich täusche mich, und er hat, bevor ich kam, schon jede Menge verzehrt, aber warum ist dann der Tisch so sauber?"
Aber das konnte ich nicht mehr schreiben, denn es entspann sich mit meinem Gegenüber, dem ich gerade mangelnde Wahrheitsliebe unterstellt hatte, ein sehr, sehr langes, durchaus anregendes Gespräch bis zum Ende der Fahrt nach Berlin.
Und das kam so: der plaudernde Geselle mir gegenüber hatte sein Telefonat mittlerweile beendet. Am Nebentisch saßen zwei Enddreißiger und der Eine fragte die Kellnerin nach einer Weinempfehlung. Oder doch lieber Bier? Mein Gegenüber mischte sich keck ein - man könnte es auch hilfsbereit nennen - und empfahl das von ihm gewählte Craft Beer (Name der Biersorte vergessen). Ich mischte mich nun ebenso keck ein: "ICH empfehle Bitburger!" Die uns umringenden Herren begannen zu lachen. Der Orientierung suchende Herr am Nebentisch warf ein: "ja - und aber Wein?" Ich: "Na was steht denn da, was gibt es denn? Ich kenne mich da ein bißchen aus!" Der Weintrinker: "irgendein Cuvée" Ich bat ihn, mir die Karte, auf die er gerade geguckt hatte, rüberzureichen. Da gab es in der Rotweinabteilung irgendeinen aus Baden Württemberg, hörte sich vertrauenswerweckend an, das sagte ich ihm. "Jedenfalls besser als ein Italiener!" Die Kellnerin schwirrte vorbei: "wir haben nur vorzügliche Weine!". Ich: "klingt gut!".
Mein Gegenüber begann nun leicht zu rebellieren - oder man könnte auch sagen, seine freundliche Craft Beer-Empfehlung zu bestärken, also in meine Richtung: "Das ist WIRKLICH süffig!" Ich schaute mir neugierig und durchaus anerkenned das Etikett seiner Flasche an (da stand der komische Name und Bio und dass Brot vergoren wird) und verteidigte mein Bitburger. "Ich mag es möglichst herb!" Er führte nun en detail aus, wie er die Einführung dieser Craft Beer-Sorte als Fahrgast quasi begleitet hat und ein social media posting darüber abgesetzt hat. Auch das Datum war ihm wichtig, mir mitzuteilen. Ich winkte ab, das sei doch wohl nicht so wichig. Er insistierte. Wohl am 27 April. Oder war es der 27. März? Jedenfalls tränke er seit Einführung im Bord-Restaurant nichts mehr anderes, und er fahre annähernd täglich mit der Bahn!
Irgendwie war der Palaver mit ihm dann doch recht launig, er entschuldigte sich, dass er mich bei meinen sicher wichtigen Notizen unterbrochen hätte. Nun war es an mir, zu erhellen, worum es sich bei meinen Notizen handelte. Sein Gesicht hellte sich merklich interessiert auf! Ich ließ ihn wissen, dass es meine Reisenotizen während der heutigen Bahnfahrten waren, wo ich unter anderem meine Gedanken zu anderen Fahrgästen festhielte. Ob ich zu ihm auch was geschrieben hätte, wollte er wissen. Ich: "Ich war gerade dabei!" Er: "ACH!" Ich teilte ihm nun mit, dass ich das ja alles bloggen wollte und abfotografieren. Er gab mir den Tipp es aber auch noch abzutippen, weil er es machen würde, weil perfektionistisch in solchen Sachen. Ich überlegte. Hm ja. Da kam mir die Idee, ihn zu fragen, ob er versuchen wollte, meine Notizen zu entziffern, ich war unsicher, ob das meine Leser überhaupt lesen könnten und er wäre da ein hervorragender Proband. Ich schob ihm alle Notizblätter zu. Unverzüglich begann er vorzulesen und konnte das Meiste sofort richtig identifizieren. Hin und wieder kam er ins Stocken und ich musste Nachhilfe erteilen. Meistens hatte ich selbst bei den Stellen, wo er sich schwer tat, Probleme das Gelesene zu erkennen. Aber ich hatte ja schon einige Jahrzehnte Übung voraus und so klappte es im Teamwork recht gut.
Da er an den Stellen ein gewisses Amusement erkennen ließ, die mich selber amüsierten, musste ich nun eingestehen, dass mir da kein blöder Aufschneider, sondern, ein offenbar recht scharfsinniger junger Mann gegenüber saß. Man stellte sich nun ordungsmäß namentlich vor. Ich erfuhr auch sein Alter (42) und noch so manches mehr. Matthias, so sein Name, fand speziell die Stelle gut, wo ich meine Enterotisierung aufgrund der unerwartet hohen Stimme des einen attraktiven Fahrgastes beschrieb. Die Stelle fand ich auch selber sehr gelungen! Der langen Rede kurzer Sinn: wir kamen nach Ende der Lektüre meiner Notizen von Hölzchen auf Stöckchen und recht schnell zeigte sich, dass mir da doch eine recht komplexe Persönlichkeit gegenüber saß. Sogar Klavier spielen konnte er! Auch ernste Themen fanden ihren Platz in unserer intensiven Konversation. Das letzte Bitburger ging auf seine Rechnung. Wofür ich mich bedankte. Ich versicherte ihm noch, ihm einen Link zu diesem bevorstehenden Eintrag hier zu übersenden. Dies wird noch heute geschehen! Er stieg am Hbf aus, ich fuhr bis zur Endstation Gesundbrunnen und von da mit der U8 bis Rosenthaler Platz. Was für ein Tag. Ich fiel schwer ins Bett.