09. November 2010

Post aus Konstantinopel. Eine alte Postkarte von 1925. Wie selten man noch Postkarten erhält. Und Briefe. Ich habe mich daran gewöhnt, kaum noch etwas zu schreiben, was man in seiner Vertraulichkeit als Brief bezeichnen könnte. Nicht nur nicht auf Papier. Wieviele Briefe ich früher schrieb. Später Mails. Das ist alles vorbei. Es wurde irgendwann, vor zehn Jahren zu einer besonderen, sehr persönlichen Form des Austausches für mich, mit einem auserwählten Menschen. In ähnlicher Intensität und noch größerer Dichte erlebte ich es später noch einmal. Für mich bedeutete das jeweils einen großen Vertrauensbeweis. Mich in Worten anzuvertrauen. Unbegrenzt und unzensiert. Und das Gefühl zu haben, dass das was ich mitzuteilen habe, egal wie banal, egal wie abgründig, egal wie sentimental, willkommen sei, war ein sehr schönes. Ein sehr schönes Gefühl. Ich habe mich daran gewöhnt, dass sich alles verändert hat. Und es gibt keine einfache Geste, um den verlorenen Faden aufzuheben. Der Faden ist zerrissen. Schmerzhaft. Es fehlt ein Stück dazwischen. Und ich kann das Ende meines Fadens nicht mehr wiederfinden. Weil ich aufgehört habe, auf den Boden zu starren, an dem ich das Ende verlor.



Mein Postfach. Es macht mir Angst. Ich habe Angst vor dem Posteingang. Deshalb habe ich mich seit gestern, irgendwann um zweiundzwanzig Uhr nicht mehr eingeloggt. Weil man sich unhöflich und gemein vorkommt, wenn man nicht antwortet, sollte man Post haben. Deswegen. Ich fürchte mich davor, dass mich ein vertrauter Ton erinnert. Ich fürchte mich vor der Wärme einer vertrauten Redewendung. Vor dem Pingpong. Vor dem, an das ich mich gerade gewöhnt habe, dass es nicht mehr existiert. Und was ich nun versuche, aus der Ferne zu begreifen. Die Nächte, die ich darüber schlafe, helfen mir. Jeden Tag ein paar Millimeter. Weiter, ferner. Weniger schmerzhaft. Ich schreibe das aus Höflichkeit. Weil mir vielleicht jemand geschrieben hat. Und ich nicht mehr antwortete. Alle meine Antworten sind hier. Hier kann ich furchtloser schreiben. Ich muss keine Angst haben, dass meine Sentimentalität geohrfeigt wird. Bei filigranen Offenbarungen kann ich einfach die Kommentarfunktion abstellen. Es hilft mir, mich über dieses Blog zu artikulieren. Ich will es gar nicht persönlicher. Keine mitfühlenden Mails, die ich aufmerksam beantworten müsste. Wahrscheinlich kann ich gerade mit keiner Form von gut gemeintem, in Worten artikuliertem Mitgefühl umgehen. Es ist auch kein schönes Gefühl, einen Bogen um das eigene Postfach zu machen. Weil keine Karte aus Konstantinopel drin sein wird. Etwas Banaleres vielleicht. Davor fürchte ich mich sehr. Und vor dem Gegenteil ebenso. Für mich zählen nur nur noch Weltwunder. Neue Horizonte. Was ich erlebte, soll sich nicht wiederholen. Das Schöne habe ich bewahrt. Ganz tief im Herzen. Und alles andere will ich vergessen. Ich will die Novembersonne spüren. Ich hab den November immer geliebt. Mein dunkler Frühlingsmonat. Zeig mir deine Sonne. Dieselbe, die immer wiederkehrt. Ewig neu. Ewig neu und jung.



Heute morgen in der S-Bahn dachte ich plötzlich unvermittelt an ein fürchterliches Interview, das Lou Reed dem Magazin Galore gab. Das unsympathischste, bizarrste Gespräch, das wohl je von einem Journalisten mit einem respektablen Rockstar geführt wurde. Lou Reed, den ich als Musiker, Singer Songwriter seit rund dreißig Jahren sehr schätze, gab seiner Antipathie dem Fragesteller gegenüber freien Lauf. Das ist zum Teil auf kuriose Art witzig aber auch von erschreckender Arroganz. Lachen musste ich, als ich las, wie er eindringlich bohrend nachhakte, auf welcher Anlage von welchem Hersteller der Frager Reeds neueste Platte gehört hatte, um zu beurteilen, ob er, der das Interview führende Journalist, die Qualität seines Meisterwerkes überhaupt adäquat einschätzen könnte. Eine anspruchsvolle Haltung, warum aber auch nicht. Ich klappte das oberlehrerhafte, lustlose Interview dann, vor sechs Wochen irgendwann, leicht befremdet zu. Wenig später las ich irgendwo im Internet, dass Lou Reed seine langjährige Gefährtin Laurie Anderson nach ewigen gemeinsamen Zeiten vor zwei Jahren geheiratet hat. Ich sah Fotos, die beide zeigten, als Paar. Das rührte mich wieder und ich vergab Lou Reed das doofe Interview. Und aus irgendeinem Grund ging mir heute morgen durch meinen lädierten Kopf (weinen + Wein das lass sein), dass die beiden ja schon über Sechzig waren, als sie heirateten. Alte Leute. Rentenalter. Und dass sie gar nicht wie Rentner ausschauen, auf den schönen Bildern. Das hat mich irgendwie gerührt. Vielleicht hat das nichts mit dem zu tun, was da oben steht. Aber eigentlich hat alles miteinander zu tun.

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