13. januar 2005

es gibt auch abende, an denen man beim lesen staunt. heute, gerade eben. die folgenden sätze, die aus dem jahr 1996 stammen, sind, unglaublich aber wahr von - . nein. erst lesen

"Gestern wurde im Tempodrom Abschied von Rio Reiser genommen. Und ich träume immer noch davon, daß anschließend im Berliner Dom ein feierliches Requiem für ihn stattfindet - mit den Repräsentanten des Volkes. Ich träume, daß der Sarg mit den sterblichen Überresten von Rio Reiser für heut’ und alle Zeit in der Gruft unterm Dom beigesetzt wird. Da, wo Deutschlands Könige und Kaiser ruhen! Das wäre ein Wallfahrtsort nach meinem geschmacklosen Geschmack, die ganzen Wilhelms und Friedrich-Wilhelms und dazwischen einer, der es gerne geworden wäre, als es längst keine Könige mehr gab. Und auf dem Sarg ein Schild mit vollem Adelstitel: „Rio Reiser von Ton Steine Scherben"

da hat sich wer ins zeug gelegt. ganz abgesehen davon, dass sich rio unter seinem apfelbaum sicher wohler fühlt. ein platz zum gedenken, hier oder da in berlin, wäre schon schön. vielleicht gibt es einen, und ich weiß es nur nicht.

das da oben hat allen ernstes der seelentröster jürgen fliege am tag nach dem gedenkkonzert in der bz geschrieben. salbungsvoll. fast schon monströs. was herr fliege großartig mit rio am hut gehabt hat - keine ahnung. wir wissen es nicht. aber der respekt scheint ehrlich zu sein. schade, dass die zeitung nicht zu seinen lebzeiten platz für eine solche ehrerbietung eingeräumt hat. vielleicht wäre sein verrückter traum ja ein kleines bißchen wahr geworden. ein könig, der klavier spielt und seinem volk sein liebstes volkslied vorsingt: "wenn ich ein vöglein wär".

ich erinnere mich, als er gerade diesen hit hatte, gab es ein längeres interview im tip. da war so ein fragebogen. und das lied war die antwort auf die frage, ob er ein lieblingslied hätte. und eine lieblingsfarbe? ja: blau. und ein lieblingswort? ja: und. das versteht man sofort oder nie.

ich habe dann noch ein paar andere artikel aus diesem riesenarchiv über jenes legendäre abschiedskonzert im tempodrom gelesen. damals, wäre ich gerne dabei gewesen, aber die karten waren ganz schnell weg und ich hatte keinerlei lust auf gedränge oder gar womöglich volksfest vor dem unzugänglichen zelt.

als rio gestorben ist, hatte ich einen schock. ich wurde kreidebleich und fühlte ein taumeln. an diesem morgen, als ich die schlagzeile beim vorbeigehen an einem kiosk sah. es war, als würde die temperatur der ganzen welt fallen. ich starrte benommen auf die zeitungsartikel aller zeitungen, die man bekommen konnte. tief traurig. das geschieht mir so gut wie nie, wenn jemand stirbt, den ich nicht persönlich kannte. aber irgendwie kannte ich ihn ja. es fühlte sich so an, ich konnte nichts dafür.

im sommer 1982 befand ich mich in einem ähnlichen zustand von mehrere wochen andauernder innerer fassungslosigkeit und trauer, als romy schneider in einem alter starb, das ich mittlerweile fast selbst erreicht habe. ihr leben und ihr tod fühlte sich nicht 'fertig' an. wie ein irrtum. wie ein stück, das im bestenfalls vorletzten akt plötzlich abgebrochen wird. es musste doch irgendwie endlich wieder besser werden, nach all den talfahrten. man wollte dieses einmalige lachen wieder sehen, dieses flutende heitere strahlen aus einer besseren welt, dieses glückliche, wärmende lächeln aus den zeiten von ’césar und rosalie’, diese heile, tiefe kraft, die ihre kindliche lebendigkeit verströmen konnte.

damals war ich sechzehn, und es war, als würde eine nächstmögliche verwandte, die man von herzen liebt und versteht (und im wirklichen leben so gar nicht hat), weggerissen. aus der welt gerissen. absurd vielleicht, so zu empfinden. beinahe hysterisch. vielleicht. aber nur vielleicht. und auf einer gewissen anderen ebene wahr. ein energiestrom, der die seele streichelte, verlor etwas. der innere clan stirbt weg. die wahren verwandten, die man gerne hätte - und auch irgendwie hat.

interessanterweise gibt es einige tote, die ich zu lebzeiten sehr mochte, deren tod sich mehr oder weniger folgerichtig anfühlt, beinahe heiter. ich fand den zeitpunkt von helmut newton sehr gut, auch peter ustinov. das sind eher beispiele von tiefer sympathie auf einer weniger sentimentalen ebene. in einem guten alter abgetreten. auch klaus kinski, der mir in der welt immer wieder aufs neue fehlt, wenn ich ihn in den wenigen berüchtigten interviews, die ich auf sperrigen alten videocassetten habe, sehe.

klaus kinski schien sich nicht zu einem zu frühen zeitpunkt zu entziehen. als hätte er alles gegeben, genug gehabt. als wäre er einfach fertig geworden. folgerichtig. es reicht. dieses „das ist doch vollkommen uninteressant, das interessiert doch niemanden“, von ihm als ungeduldige reaktion auf ewig klischeehafte interviewfragen, entgegnet, als hätte man ewig zeit, als würde sie einem nicht davonrennen. vielleicht war es das, vielleicht war er an genau dem punkt von ’genug davon’, in einem größeren kontext. dem größten. aber ich kann mich irren.

warum ich mir einbilde, das beurteilen zu können, weiß ich selber nicht. es gibt menschen, die man sieht und sofort überzeugt ist, sich wunderbar zu verstehen. ich weiß, daß ich mich mit ihm großartig verstanden hätte. wir hätten viel spaß gehabt. ich wundere mich auch nicht, wenn die freundliche brigitte grothum von ihren vielfachen erfahrungen mit ihm als überaus liebenswertem kollegen berichtet. da staune ich keine sekunde. warum auch. wer seinen eigenen inneren teufelsbraten kennt, hat wenig anlass für gestaune.

ein gutes jahr bevor hildegard knef starb, wurde ich trotz ihres erreichten alters (was erstaunlich genug war) auf diese merkwürdig betroffene art, latent nervös und unruhig, als ich hörte, dass sie in ernsthafter lebensgefahr schwebte, mit einer schweren lungenentzündung im krankenhaus lag. ich fing geradezu an zu bangen. ich hatte gerade noch ihre aktuelle coverversion von ’ne dame werd ich nie’ mit dem souligen groove und dem fast schon gewagten beat im ohr. ich war überhaupt nicht darauf gefasst. als wäre es meine allerpersönlichste angelegenheit, mich mit ihrem künftigen nicht-mehr-da- sein, nicht-mehr-in-der-welt-sein auseinanderzusetzen. meine ikonen. furchtbar.

ich erinnere mich als kind. im radio lief „eins und eins das macht zwei“ und „für mich soll’s rote rosen regnen“. ich war von der irgendwie mehr sprechenden als singenden stimme völlig fasziniert, darin lag so viel aufregendes, gelebtes leben. anfang zwanzig las ich alle bücher, die sie so geschrieben hatte, verschlang sie, ehrfürchtig vor ihrer kraft, vor ihrem schicksal, dem überwundenen (im wahrsten sinne des wortes ’über wunden’) voller - bewunderung. ich liebte ihre stimme wie mutter- milch. und hörte cassetten mit ihren bekanntesten liedern im reverse mode. als in den neunzigern eine sammlung mit sieben cds fast aller ihrer aufnahmen erschien, rannte ich sofort los, um endlich alles zu haben. mehr ihrer wunderbaren geschichten zu hören. denn ihre vielen texte sind große geschichten. was für eine fundgrube.

als sie dann mehr als ein gutes jahr nach jener lungenentzündung tatsächlich starb, hatte ich mich gefasst darauf eingestellt und es war gar nicht mehr schlimm. als ich ihren letzten zustand begriff, empfand ich es als willkommene erlösende transformation. notwendig. die wende ihrer körperlichen not.

jimi hendrix ist auch ein teil von dieser geheimen sippe. würde ich abendgebete sprechen, würde ich ihn immer einschließen. so viele sind es gar nicht, um die ich auf diese seltsame art trauere.

wie kann mir das derart nah gehen. es fühlt sich wie eine unterirdische verbindung auf einer unnennbaren ebene an. als ob man derselben zeitlosen seelensippe entstammt. einer sippe von verrückten leiden- schaftlichen menschen, die immer alles wollen, ihre grenzen ausloten, alles versuchen, vieles bekommen und vieles verlieren - weil sie so viel zu verlieren haben.

vielleicht das. brennend, lichterloh, oft verzeifelnd, impulsiv, wütend auch. aggressiv gegen sich selbst und - zum selbstschutz - gegen andere. und die sich wieder und wieder am eigenen schopf packen, um die großen verrückten träume - trotz allem entgleiten und scheitern, festzuhalten, neu zu erschaffen, egal wie oft sie verloren gegangen sein mögen. das alte lied. himmelhochjauchzend, zu tode berübt.

das ist eigentlich fast schon zu persönlich, privat, nah. darüber wollte ich gar nicht schreiben. es ist merkwürdig, wie die worte manchmal eigene wege zu finden scheinen. die finger kommen gerade noch hinterher, die plötzlich in eine vehemente richtung jagenden gedanken zu übertragen.

ich wollte eigentlich nur vermitteln, dass ich ungeheuer gerührt war, dieses konzert durch diese beschreibungen wieder ins gedächtnis gerufen zu bekommen. ich weine selten, wenn ich zeitungsartikel im internet lese. was da im internet hängt, kann gar nicht schlecht genug geschrieben sein, dass es mich nicht immer noch rühren würde. hier

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