07. Januar 2022

"Was Musik anbelangt, war Berlin immer noch eine Bastion des Traditionalismus" meint Yehudi Menuhin. "Beethoven und Brahms waren die Götter und Furtwängler und Walter ihre Propheten; und Frau Louise Wolff, die Inhaberin der größten Konzertagentur Berlins, ihre Hohepriesterin. Ich erinnere mich noch gut an das Galadiner, das Frau Wolff am Tage meines Debüts, am 12. April 1929, nach der Generalprobe gab. Die Generalprobe war entscheidender als das Konzert selbst, weil dazu alle wichtigen Musiker erschienen. Am Diner nahmen mindestens vierzig Personen teil. Sie alle verbeugten sich voreinander und schüttelten sich die Hände: "Mahlzeit".

Mehr als vierzig Jahre nach diesem Ereignis spielt Menuhin im Durcheinander seines New Yorker Hotelzimmers die Szene nach. Er schüttelt die Hände imaginärer Prominenz und wiederholt die Aufforderung, zu speisen. "Dann aßen sie, bis sie nicht mehr konnten. Schließlich erhoben sie sich und verbeugten sich wieder, so tief sie konnten - allerdings nicht mehr ganz so tief wie vor dem Essen: "Mahlzeit, Mahlzeit". Diese Art, zu leben - repräsentiert durch Damastdecken auf jedem Tisch und Spitzendeckchen auf dem Damast -, wollte man unbedingt aufrechterhalten, so lange wie man es irgend konnte."

"Ich spreche speziell vom kulinarischen Musikgenuß, weil er im damaligen Berlin sehr wichtig war", fährt Menuhin fort. "Dieses Musikleben ersetzte etwas, was in der Hauptstadt einer Weltmacht durch Kolonien oder sonst einen außenpolitischen Prunk repräsentiert werden mag. Alle Lust an Macht- und Prachtfreudigkeit, die in anderen Völkern durch die Staatsmacht befriedigt wird, wurde in Berlin auf die Opernbühnen und Konzertpodien transponiert."



Otto Friedrich, Weltstadt Berlin - Größe und Untergang 1918 - 1933, Verlag Kurt Desch 1973, S. 173/174

07. Januar 2022

"Sie müssen das ändern, Schönberg. Haben Ihre Schüler Dostojewskij gelesen, so ist das wichtiger als der Kontrapunkt."
Gustav Mahler

"Wenn Sie Gelegenheit haben, zu beobachten, wie Mahler seine Krawatte bindet, erfahren Sie mehr über den Kontrapunkt, als Sie in drei Jahren Konservatorium lernen können."
Arnold Schönberg

"Berlin empfing alles, was jung, neu, kühn und anders war, mit offenen Armen" (R. Serkin). Die Philharmoniker hatten es sich weitgehend zum Prinzip gemacht, zeitgenössische Komponisten ihre eigenen Werke dirigieren zu lassen, und so hatten die Berliner Gelegenheit, die Originalinterpretationen der gerade letzten Schöpfungen von Strawinsky, Ravel, Bartok oder Prokofieff zu hören. Einer der interessantesten dieser Gaststars war Arnold Schönberg. Im September 1925 kam Schönberg nach Berlin - der radikalste Extremist der modernen Musik. Er bezog eine Wohnung in der Nürnberger Straße, wo er ein Musikzimmer zunächst mit einem Klavier, einem Harmonium und einer Gitarre ausstattete. Ein weiterer Raum war ausschließlich für Tischtennis reserviert, das der Meister leidenschaftlich gern spielte. Schönberg unterrichtete nur ungern in den Räumen der Hochschule am Steinplatz, also kamen seine Studenten in seine Wohnung, um seinen Analysen zuzuhören - keineswegs über neue Musik, sondern über Bach und Mozart.

Zu dieser Zeit war Schönberg 51 Jahre, hager, kahlköpfig, asthmatisch, streng und überaus reizbar - viele Jahre lange giftige Feindseligkeiten hatten ihn, der seit 1908 in freier Atonalität komponierte, verbittert. Diejenigen, die Schönberg genauer kannten, ließen sich von seiner scheinbaren Kälte und seiner Aggressivitätt nicht beirren. "Schönberg war ein phantastischer Mensch", berichtet Rudolf Serkin weiter. "Ich liebte ihn. Aber ich konnte seine Musik nicht lieben. Ich sagte es ihm, und er hat es mir nie verziehen. Er meinte nur: "Es ist Ihre Sache, zu entscheiden, auf welcher Seite der Barrikaden Sie stehen wollen."

"Ich studierte eine Zeitlang Kompositionslehre bei ihm", fährt Serkin fort "Es ging ganz unförmlich zu, wir waren höchstens sechs oder sieben Schüler in der Klasse. Aber auch akademisch! Er lehrte uns den Kontrapunkt. Wir mußten Variationen über irgendein Thema schreiben. Einmal komponierte ich ein Rondo für Klavier. Er sah es an und sagte: "Serkin, ich werde alle die Teile, die Ihnen am besten gefallen, streichen." Serkin ahmte einen Mann nach, der eine riesige Schere handhabt. "Das tat er auch. Er strich alles Überflüssige, alles Dekorative weg. Er wollte nur das Essentielle. Für ihn war Komposition ein Handwerk, und jedes Einzelteil sollte möglichst gut gezimmert sein. Er pflegte Mendelssohns Trio in d-Moll als Beispiel eines schlecht geschriebenen Stücks anzuführen. "Aber es ist so schön", prostestierte ich. War er dagegen, weil es sentimental ist? Nein, wegen der Konstruktion. Er hielt das zweite Thema für falsch und einen Teil des Aufbaus für unproportioniert. Schönberg hatte eigentlich nichts gegen Gefühle. Er bemühte sich in all seinen Werken sogar um Emotion. Und ich glaube, er änderte schließlich auch seine Ansicht über Mendelssohn - "gar nicht so schlecht".

Otto Friedrich, Weltstadt Berlin - Größe und Untergang 1918 - 1933, Verlag Kurt Desch 1973, S. 168, 175 - 176

07. Januar 2022

Gott, ist das dunkel.

06. Januar 2022

"Ja, ich habe Nabokov damals gekannt", erzählt mir Michael Josselson. "Ich habe ihn auf dem Tennisplatz getroffen. Ich sehe ihn noch vor mir auf einem Tennisplatz in der Lietzenburger Straße, unweit vom Kurfürstendamm, wo wir damals wohnten. Er war ein ausgezeichneter Tennisspieler, und er war bereits bekannt als, nun, er war außerdem ein hervorragender Schriftsteller. Wir alle lasen die Kurzgeschichten und die Artikel, die er unter dem Namen Sirin schrieb. Die russische Kolonie Berlins war in den zwanziger Jahren recht groß - vielleicht fünfzigtausend, vielleicht auch mehr", sagt Josselson.

Wir sitzen Kaffee trinkend in seiner neuen, gegenüber einem Park gelegenen Wohnung in Genf. "Und es waren nicht nur Intellektuelle. Es war eine Welt für sich. Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute. Aber Nabokov, Wie war Nabokov damals? Er sah sehr gut aus. Und war sehr nett. Wie er es auch heute noch sein kann, wenn er jemanden mag. Wollen Sie ihn aufsuchen? Er wohnt in Montreux, am anderen Ende des Sees. Es ist allerdings ziemlich kompliziert. Sie müssen zunächst beim Palace Hotel in Montreux anrufen, und dort wird man Ihnen sagen: "Bleiben Sie am Apparat", denn erst muß bei Vera, Nabokovs Frau nachgefragt werden. Immer sind diese beiden vermittelnden Stationen zwischengeschaltet. Manchmal zieht er sich auch nach Bex zrück, einem Kurort, etwa eine halbe Stunde von Montreux entfernt. Aber das werden Sie im Hotel erfahren."

Montreux ist ein wunderschöner Ort. Beete mit roten und gelben Tulpen ziehen sich am Ufer des Sees hin, und jenseits ragen die Berge der Alpen steil auf, deren Schneegipfel sich in der untergehenden Sonne rötlich und orange verfärben. Das Palace Hotel ist der höchste Patriarch unter den dortigen Hotels. Die mit weichsten Teppichen ausgelegten Korridore ziehen sich endlos hin, von den Balkons hat man nicht nur einen bezaubernden Blick auf den See, sondern auch auf den Hotelgarten, das Schwimmbad und die hauseigenen Tennis- und Golfplätze. Die Badehandtücher auf den Zimmern sind fast drei Quadratmeter groß. Der schwarz uniformierte Empfangschef aber beteuert, Vladimir Nabokov sei weder in Montreux noch in Bex, sondern in Sizilien, wo jetzt die beste Zeit zur Schmetterlingsjagd ist.

Wenn also nicht dort, in seinen Büchern ist das Phantom Nabokov immer zu finden, denn über die vierzehn Jahre seines Lebens in Berlin, um die es hier geht, hat er viel geschrieben -- und mehr noch vielleicht nicht geschrieben. "Blicke ich auf diese Jahre des Exils zurück", hat er einmal gesagt, "dann sehe ich mich und Tausende anderer Russen, wie wir damals ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Leben führten, ärmlich in materieller Hinsicht, geistig aber im Luxus, und das unter völlig unbedeutenden Fremden, geisterhaften Deutschen oder Franzosen, in deren mehr oder weniger ebenso geisterhaften Städten wir, die Emigranten, per Zufall wohnten. Diese Einheimischen waren vor dem geistigen Auge flach und durchscheinend wie aus Cellophan geschnittene Figuren (...)"


Nabokov Montreux

Otto Friedrich, Weltstadt Berlin - Größe und Untergang 1918 - 1933, Verlag Kurt Desch 1973, S. 92 - 94

05. Januar 2022







COVER. Maßanfertigung Abdeckung für Wand-Thermostat auf Augenhöhe. Papierbezogenes Schachtelsegment, Kleber, Tesa, Filzstift 8 x 13,5 x 3 cm, 5. Jan. 2022, Staatl. Museen v. Gaganien



05. Januar 2022

"(...) 9. November 2018... Etwa um vier Uhr nachmittags, als es zu schneien begann, erreichte Karl Liebknecht, begleitet von einer Gruppe rebellierender Matrosen, das Schloss. "Jubel erscholl", erzählt Ben Hecht, der gerade als vierundzwanzigjähriger Reporter der Chicagoer 'Daily News' nach Berlin gekommen war. "Ich sah, wie ein kleiner Mann, fahl und übernächtigt, aus einem Taxi stieg und durch den Schnee zum Eingang des Schlosses tappte. Liebknecht eilte, von etwa hundert Matrosen gefolgt, die Marmortreppe hinauf. "Es waren keine Befehle ausgegeben worden", berichtet Hecht. "Es sah aus wie eine Revolution, bei der jeder tun konnte, was er wollte. Ich stellte keinerlei Fragen und folgte Liebknecht. Die weiten Schlossräume waren verlassen, anwesend war nur ein verwirrter alter Mann mit einer Lederschürze." Vom Hauptbalkon des Schlosses begann Liebknecht vor den Tausenden seiner Anhänger eine Rede zu halten. "Der Tag der Freiheit ist gekommen", rief er. "An dieser Stelle wird nie wieder ein Hohenzoller stehen. Ich proklamiere die freie sozialistische Republik." Mit Ben Hechts Deutschkenntnissen war es noch nicht weit her, und so entgingen ihm Teile der Rede.



Aber als gewissenhafter Reporter folgte er dem Redner in das verlassene Schlafzimmer des Kaisers. "Liebknecht fing an, sich auszuziehen. Seine schwarzen Augen funkelten fast poetisch verklärt. Nach kurzer Zeit stand Liebknecht barfüßig in seinem langen Winter-Unterzeug da. Einige Knöpfe fehlten, und die ausgebeulte Sitzfläche war vom vielen Waschen abgenutzt. Er nahm eine Aktentasche und vier dicke Bücher auf. Mit ihnen unter dem Arm, näherte er sich dem Bett des Kaisers. Die Matrosen standen erstarrt und beobachteten ihn. Liebknecht placierte seine ausgebauchte Aktentasche und die vier Nachschlagewerke auf dem kleinen Nachttisch und kroch unter die kühlen königlichen Decken. In dem Raum war es still geworden. Ich hörte die königlichen Sprungfedern quietschen, als Liebknecht die Beine ausstreckte. Und dann, als er nach einem der Bücher griff, gab es plötzlich ein krachendes Geräusch. Der zierliche Nachttisch mit seinen spindeldürren Beinen war unter dem ungewohnten Gewicht revoulutionärer Literatur zusammengebrochen. Die Lampe schlug auf den Boden, und die Glühbirne zerplatzte. Und die Revolutionsgarde floh von ärgeren Gespenstern verfolgt, als ich sie mir in meiner Phantasie hätte vorstellen können."




Otto Friedrich, Weltstadt Berlin - Größe und Untergang 1918 - 1933, Verlag Kurt Desch 1973, S. 25 - 26

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Margarete 21. November...
21.11.25, 13:19
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Saskia Rutner Ist...
19.11.25, 16:49
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Ruth Rehmann hatte...
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