05. Dezember 2010



16. Oktober 2010 am Gipsdreieck. Vielleicht habe ich das schon einmal geschrieben, was das ist, das Gipsdreieck. Wenn man als Vogel über die Ecke fliegt, in der das Haus steht, in dem ich wohne, sieht man ein begrüntes dreieckiges Stück Berlin mit zwei Spielplätzen, einer Wiese und Bäumen. Die drei Straßen an den Seiten des Dreiecks heißen Gipsstraße, Joachimstraße und Auguststraße. Ich wohne in einem Eckhaus mit zwei Fenstern zur Joachimstraße und zwei Fenstern und einem Balkon zur Auguststraße. Es gibt alte und junge Bäume. Die Spielplätze sind erst ungefähr fünf Jahre alt. Vorher war es einfach eine verwilderte Ecke im Gipsdreieck. Als ich Mitte Oktober aus dem Fenster schaute, nahm ich zum ersten mal die gelb werdenden Blätter wahr. Und die Rutsche auf dem Spielplatz weiter hinten, die silber durch die Blätter glänzte.

Vorher wurde vom Herbst immer nur geredet. In Elstal hatte ich ihn auch schon getroffen, zwei Wochen vorher. Aber jetzt war er auch hier. An manchen Tagen schaue ich aus dem Fenster und erinnere mich an die anderen Ausblicke, die ich aus meinen früheren Wohnungen hatte. Man hatte eigentlich keine große Lust, länger als unbedingt nötig aus dem Fenster zu schauen. Es gab keinen weiten Blick, keinen nahen Himmel, keine Bäume, wie in diesem kleinen Park. Auch wenn alles andere schwierig ist, weiß ich, dass ich hier in Sicherheit bin. Wenn es wieder wärmer wird, lasse ich das Fenster auf, dann kann ich die Kinder hören, die da unten spielen. Quieken und quaken. Es hört sich immer freundlich an, was die Kleinen so plappern. Vielleicht ist es ein privilegierter Ort, an den es keine prügelnden Eltern zieht. Das mag sein.

Der freundliche Jupiter stand am Ende des vierten Hauses, als ich diese Wohnung fand, da ist er jetzt auch wieder. Das vierte Haus ist das Zuhause. Und da ist mein Saturn im Geburtshoroskop. Jupiter und Saturn sind Kontrahenten oder besser gegenteilige Prinzipien. Jupiter verschenkt, Saturn erwartet Leistung. Da gibt es nichts einfach so. Kann man sich ein Zuhause erarbeiten? Wenn man das Gefühl nicht dort empfindet, wo man geboren wurde, hat man jedenfalls einen Grund darüber genau nachzudenken, wo man dieses Gefühl haben könnte, von dem immer alle reden. Begreifen, welche Dinge man wirklich braucht, um ein Gefühl von Zuhause zu haben. Für mich ist die Sprache ein wichtiger Teil, um mich heimisch zu fühlen. Wenn ich den Klang einer Sprache oder eines Dialekts nicht mag, will ich weg. Es fühlt sich an, als ob jemand im Radio einen Sender mit ungeliebter Musik eingestellt hat, die man so schnell wie möglich abstellen will.

Es gab keinen Schulausflug, keine Kurzreise, die mein inneres Bild illustriert oder untermauert hätte. Das war nicht nötig. Ich spürte sofort, dass ich hier richtig war und nicht mehr zurückkehren würde. Manchmal denke ich, vielleicht löse ich eines Tages das Rätsel, das Geheimnis, was mich so sehr hierher zog, ohne je vorher einen Fuß in die Stadt gesetzt zu haben. Warum es mir so vertraut war, vom ersten Tag, dieses Berlin. Was hab ich da für eine alte, geheimnisvolle Geschichte? Oder habe ich einfach nur zu viele Fernsehserien geschaut, die in Berlin spielen? Aber das kann es auch nicht sein, denn einige Vorabendserien handelten auch in München. Polizeiinspektion 1 mit Walter Sedlmayr, Elmar Wepper und Uschi Glas zum Beispiel. Da wollte ich nie hin, obwohl ich die Sendung gerne geschaut habe. Die konnten in Sachen Heimatgefühl Harald Juhnke nicht das Wasser reichen. Für keine andere Stadt der Welt empfinde ich so. Obwohl ich architektonische Schönheit anerkennen kann. Aber woanders ist kein Teil von mir. Da ist nichts. Aber hier finde ich alles, worin ich mich wiedererkenne. Es ist der Geist von Uranus, die Selbstverständlichkeit, mit der man Eigenwilligkeit ausleben darf und dafür keinen Argwohn oder hochgezogene Augenbrauen erntet.

Am meisten fiel mir Mitte der Achtziger Jahre, als ich hierherkam, abgesehen von den viel breiteren Straßen als im Rest der Republik auf, dass sich Berliner mit konservativer Gesinnung schrägen kulturellen Strömungen gegenüber in einem Maß liberal verhielten, dass man sie in Bayern sofort als links verschubladet hätte. Das gefiel mir gut. Es gab in den Achtzigern einen S-Bahn-Abfertiger mit einer grasgrünen Irokesenfrisur, vorschriftsmäßig trug er dazu das dunkelblaue S-Bahn-Jackett. Wenig später konnte man gewagte blaue und pinkfarbene Kurzhaarfrisureneperimente bei Damen in der Altersgruppe von 20 bis 50 sehen, die ein bißchen Farbe in ihren Büroalltag bringen wollten. Das sah nicht immer schick und elegant aus, aber meistens lustig. Jedenfalls habe ich immer noch viel Freude an den Eingeborenen. Wenn in der S-Bahn zwei Bauarbeiter oder Handwerker erzählen, was sie nach Feierabend vorhaben, spitze ich die Ohren und freue mich, dass ich das hören darf. Mir ist eigentlich völlig schnurz, was sie da reden, Hauptsache, sie berlinern ordentlich. So richtig schlimm. Da geht mir das Herz auf. Wie früher, wenn Harald Juhnke mit den Damen vom Grill gescherzt hat. Da war ich zuhause. Keine Ahnung was das ist. Aber ein schönes Gefühl. Na ja, auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn. Wenigstens ist das Heimatproblem gelöst. Und die anderen Sachen kommen später. Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.

05. Dezember 2010

Meine Segenswünsche gehen heute an Frau Sofia Heck zum 108. und an Herrn Johannes Heesters zum 107. Wiegenfest. Ein wenig keck ist das schon von Sofia Heck, wenn sie Jopi als jungen Spund bezeichnet. Aber sie ist schließlich die Ältere und hat immer noch Lumpereien im Kopf. Herzlichen Glückwunsch.

Es singt für Sie Johannes Heesters den Titel "Mein Mädel ist nur eine Verkäuferin".

05. Dezember 2010



13. Oktober 2010. Der Tag, als ich ein paar Sachen in mein Atelier brachte, auf den Malermeister wartete, der die Fensternasen streichen wollte und mich tief schnitt. Mit dieser zerbrochenen Scherbe einer Scheibe eines Bilderrahmens, die mir aus den Händen glitt. Die tiefe Narbe am linken Zeigefinger ist gut verheilt. Nur wenn ich sie berühre, ist die Stelle empfindlicher als andere. Eine kleine Irritation. Die Zellen haben sich anders sortiert, gruppiert, orientiert, als sich die Wunde schloss. Eine innere Narbe. Es wird eine Weile spürbar bleiben. Auch wenn man es nicht sieht. Die Bilder enstanden, bevor ich mich verletzte. Seit dem war ich nur einmal wieder dort. Um die Fenster zu schließen. Kein weltbewegender Eintrag. Nur damit die Bilder ein bißchen Geschichte kriegen. Und so einfach war es nicht, die Sachen dort hin zu bringen. Seit der blöden Rechtschreibreform bin ich total verunsichert, was man zusammen und auseinander schreibt. ich war früher so souverän. Das ärgert mich. "Dort hin zu bringen" oder dorthin zu bringen? oder dorthinzubringen? Ich bin ganz durcheinander und habe auch längst die Lust verloren, im Duden nachzuschauen, das ist mir alles zu blöd, zudem es bei manchen Sachen jetzt mehrere mögliche Schreibweisen gibt. Damit sollte man sich nicht aufhalten. Also bitte keine hilfreich gemeinten Belehrungen. Es ist mir langsam schnurzpiepegal. Es ist doch völlig in Ordnung, wenn man eine Variante wählt, die irgendwann in den letzten fünfzig Jahren als richtig galt. Ich wollte jetzt aber auch keinen Eintrag über die Rechtschreibreform verfassen. Es gibt eben nichts, was ewig gleich bleibt. Bevor man anfängt zu faseln, sollte man den Blogeintrag beenden und speichern und veröffentlichen. Geht ja nicht um den Literaturnobelpreis. Wobei ich die Wahl der letztjährigen Preisvergabe nicht nachvollziehen kann. Wurst. Egal.

04. Dezember 2010




Eva-Maria Hagen



Sollte man sich in aller Größe anschauen. Ich mag sie sehr gern. Dieses Weib. Ihre Urgewalt. Und ihre Zartheit. Unter den Malerinnen ist sie mir sowieso die Liebste. Ich schreibe nur ganz klein, dass sie sehr aufgeregt war. Aber auch das ist an ihr sympathisch. Wenn ich mit Mitte Siebzig noch so die Beine schmeißen kann wie Eva-Maria, ist nichts zu befürchten. Den Surabaya Johnny singt sie mal eben so, aus dem Handgelenk. Sie ist wunderbar, auch wenn sie am frühen Nachmittag die Seiten in ihrem Buch nicht so schnell finden konnte, wie sie wollte. Sie erwähnte, was für eine ungewohnte Zeit es sei, um auf der Bühne zu stehen. Ich sehe ihr alles nach und ziehe unter allen Umständen meinen Hut. Ganz tief.

04. Dezember 2010

GAGA VOREVA. Frau Nielsen war am zehnten Oktober vor Eva in Laune und hat auf die Schnelle beim Verlassen der Wohnung zwei Fotos gemacht. Ich hatte lange geschlafen, lange gefrühstückt, mochte mich und machte mich, Windschutzbrille auf der Nase, Kamera in der Hand, in Vorfreude und Mantel auf den Weg, um einen schönen Nachmittag mit meiner Freundin Sabine bei Eva-Maria Hagen im Berliner Schlossparktheater zu verbringen. Man muss die Gunst der Stunde nutzen, denn auch ich bin nicht jeden Tag in der Laune, fotografiert zu werden. Ganz im Gegenteil. Ich hasse es, fotografiert zu werden. Außer von Peter Lindbergh. Oder Herb Ritts. Ach so, der ist ja schon tot. Na ja, auf jeden Fall ist fotografiert werden prinzipiell eine schlimme Sache, sofern der Fotograf sich nicht die Mühe macht, die Lichtverhältnisse und meinen Schädel ausreichend zu studieren und in wohlbedachter Weise, Lichtquelle und Objekt zu koordinieren. Das Ergebnis sollte bitte gleichzeitig äußerst schmeichelhaft und authentisch sein. Das sollte eigentlich möglich sein. Schließlich kann ich das auch.

Unlängst wieder schwierige Erfahrung gemacht. Eine menschlich sehr nette Fotografin hat überschwänglich versucht, mich mit Komplimenten zu motivieren, aber ich ahnte, das wird nichts. Wenn mir schon jemand sagt, ich soll das Kinn 5 Millimeter weiter nach vorne recken ("Ja! So ist schön, so ist super! Ganz, ganz toll!") und dann noch bitte den Kopf noch um ungefähr zehn Grad nach rechts drehen ("Ja! So! So ist es fast schon perfekt! Jetzt wieder ein bißchen mehr nach links, nur ein bißchen!") und dabei auf ihre Nasenspitze gucken ("Ja! Fast! Jetzt war gerade schön!"). Man kommt sich vor wie im Geometrieunterricht. Sie war sehr begeistert von ihren Bildern. Ich merkte schon, als die Fotos entstanden, dass das Licht zu flächig gesetzt war, um nicht zu sagen flach. Platt frontal, so leicht von oben, damit alle Linien im Gesicht schön verschwinden, und zwar gnadenlos. Bloß keine Schatten unter den Augen oder sonstwo, oder andere interessante Charakter- oder Lebensspuren. Ich habe ja nichts dagegen, wenn diese Nasolabialfalten etwas gemildert werden, aber das war einfach langweiliger Murks. Nach solcherlei Erfahrungen wird mir regelmäßig übel, wenn die fertigen Bilder mein verkrampftes Gefühl bestätigten. Dabei war sie sehr nett und bemüht und hat, wie bereits erwähnt, nicht mit Komplimenten gespart. Kurz trat der Gedanke an mich heran, dass das möglicherweise System hat.

Prinzipiell habe ich nichts gegen superlative, auf andere möglicherweise übertrieben wirkende Adjektive einzuwenden, wenn von mir die Rede ist. Aber es sollte schon ehrlich gemeint sein. Sie wirkte eigentlich auch recht vertrauenswürdig, aber ich fühlte mich an dem Tag gar nicht superlativ, eher so mittel. Ich war und bin nicht auf Kommando locker und sage das auch vorher, daher traue ich dem Braten nicht, wenn mir jemand trotz dieser Vorwarnung die geringsten Anweisungen gibt. Ich will meinen Kopf so halten, wie ich ihn eben halte und auch meine Schultern nicht unnatürlich nach hinten biegen, schließlich bin ich keine Schaufensterpuppe. Ich will auf einem Foto aussehen, wie ich mich fühle und nicht wie jemand denkt, wie die Nullachtfuffzehn-Körperspannung im Oberkörper sein müsste. So ein Scheißdreck. Wir haben uns bei einem Foto von ungefähr Hundert darauf geeinigt, dass sie es nicht wegschmeißen muss. Das war eigentlich eher ein Akt der Versöhnlichkeit meinerseits, damit die Frau nicht die totalen Komplexe kriegt. Sie tat mir leid. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich bei keinem Bild in ihren Jubel einstimmen konnte. Das Bild wurde dann noch vom Assistenten, der interessanterweise nicht in den Jubel einfiel (und dadurch im unmessbaren Bereich in seiner Kompetenz stieg), gephotoshopt und mir einige Zeit später auf einer CD übergeben. Er hat noch was an den Augen gemacht, wie ich hörte, irgendwie aufgehellt.

Als ich die CD in den Rechner schob, und die Bilddatei öffnete, wurde mir wieder schlecht. Der Bereich meines Gehirns, der für schlimme Erinnerungen zuständig ist, wurde aktiviert und ich erinnerte mich an die Zeit mit ca. elf, als ich riesige Minderwertigkeitskomplexe hatte. Unter anderem wegen meiner Zahnlücke, wegen der ich als Kind oft und gerne gehänselt wurde (und die ich heute übrigens nicht mehr schlimm finde, sogar im Gegenteil). Vielleicht wäre das Bild ja auch weniger unbrauchbar, wenn das Licht nicht so eindimensional gesetzt gewesen wäre. Ich weiß, dass man ganz gute Fotos von mir machen kann, wenn ich breit lache. Ich lache nämlich auf dem Bild. Und das muss man erstmal schaffen, ein Bild auf dem jemand lacht, so zu machen, dass man sich eigentlich nur auf eine unattraktive Art albern findet. Ein breites Lachen ohne Sinn. Das war es nämlich. Ich hatte keinen sonderlichen Grund, so zu lachen und versuchte es nur, um mich kooperativ zu zeigen. Ich wollte nicht als zickige Spielverderberin dastehen und der enthusiastischen Frau mit der Kamera diesen kleinen Gefallen tun. Dazwischen lachte ich dann auch mal natürlich, nämlich als ich ihr sagte, dass es viel besser funktionieren würde, wenn sie mir die Anweisung gäbe, auf keinen Fall zu lachen. Das würde die Wahrscheinlichkeit unermesslich erhöhen. Und dann musste ich lachen. Da hat sie aber leider gerade nicht abgedrückt. Dumm gelaufen. Der Datenträger wurde mit Unterstützung meiner Haushaltsschere entsorgt.

Das Herz und Hirn beim Einfangen eines Menschen ist, dass man eine schöne Atmosphäre hinbekommt und das Objekt der Begierde gut beschäftigt ist. Und sei es nur mit anderen Gedanken. Dieser Mensch, den man fotografieren will, muss sich so richtig fühlen dürfen, wie er von sich und von Natur aus gedacht ist. Mit dieser ureigenen, seltsamen Art, den Kopf vielleicht immer ein kleines bißchen schief zu halten. Und jederzeit, falls es sich ergeben sollte, darf gelacht werden. Nicht, weil es eine dahingehende Anweisung gegeben hat, sondern weil man ein heiteres Gespräch führt. Zum Beispiel darüber, wie furchtbar es sein kann, fotografiert zu werden. Alles andere ist Quatsch mit Soße.



Hochachtungsvoll
Gaga Nielsen

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P.P.P.S. gibt zig...
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