Selbstportrait, So, 7. Juni 1981, Kugelschreiber auf A 4-Papier
Da war ich Fünfzehndreiviertel. Ein Sonntagnachmittag, an dem ich nichts anderes zu tun hatte. Ich hörte wahrscheinlich Neil Youngs Platte Rust Never Sleeps oder eine andere von ihm und hatte mein kariertes Lieblingsflanellhemd an und setzte mich vor den Spiegel und schaute mich ernst an.
Das Bild ist mit Kugelschreiber auf einem einfachen weißen Blatt Papier in DIN A 4, wahrscheinlich von einem Schreibblock, gemalt. Ich habe es noch nie jemandem gezeigt. Im Grunde ein gemaltes Selfie. Das wäre mir früher peinlich gewesen, ich hätte das Gefühl gehabt, mich für eine solch unstatthaft eitle Betätigung entschuldigen zu müssen.
Aber ich wollte sehen, ob ich etwas entdecken könnte an mir, das ich bei einem Blick in den Spiegel nicht sehe. Wenn ich etwas zeichne, betrachte ich es grafisch, präge mir die Silhouette der einzelnen Teile ein und kopiere sie dann aus dem Gedächtnis auf das Papier vor mir. Es ist also ein recht pragmatischer, handwerklicher Vorgang, zunächst jedenfalls.
Ich glaube, ich war dann überrascht, dass ich so eine Melancholie ausstrahle, und das war auch wirklich so. Wenn ich nicht gerade gelacht oder gelächelt habe, wurde ich oft gefragt, ob ich traurig bin. Ich fand mich selbst von der Veranlagung her optimistisch, aber hatte tatsächlich oft Liebeskummer. Unglücklich oder ergebnislos verlaufende Verliebtheiten. Auch schon mit Fünfzehn.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auch wieder ein, um wen es da ging. Es war der beste Freund meines älteren Bruders, der uns oft besuchte, so lernte ich ihn kennen. Er war im Zimmer meines Bruders und sie spielten zusammen Gitarre. Er hatte eine Band, mein Bruder später auch, aber damals noch nicht. Dank Internet kann man ja herausfinden, was aus einem alten Schwarm geworden ist. Heute hat er ein Tonstudio und produziert vor allem andere.
Er hat damals ganz schön mit mir geflirtet, so ganz grundlos war meine Verliebtheit also nicht. Aber er hatte schon eine Freundin. Was ihn aber nicht abgehalten hat, sich mir gegenüber zu verhalten, als ob es sie nicht gäbe. Ich hab sie dann auch kennengelernt, weil es doch ein gemeinsamer Freundeskreis war, und habe nicht durchblicken lassen, dass mir ihr Liebster Avancen machte und sogar ein romantisches Lied zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich fand sie ganz okay. Sie hat das nie erfahren.
Mehr als im Auto mit heruntergekurbelten Scheiben durch den Sommer fahren und dabei laut Musik hören (vor allem die erste Platte von Lou Reed, mit Berlin und Wild Child) und durch den Wald Spazieren und ein bißchen Schmusen ist nicht passiert. Aber für mich war es viel. Eine Riesensache, gewaltig. Das war vor allem im Jahr vor diesem Bild, 1980. Ich war total verknallt. Und nicht zum letzten mal. An jenem Sonntagnachmittag im Juni 1981 war ich vermutlich schon etwas ernüchtert. Das sagt mein Blick.