23. November 2010
"Den stilistischen Ideen des Bauhauses verpflichtet zeigte sich das Speisehaus der Nationen mit seinen 38 für die verschiedenen Nationen bestimmten Speisesälen und Küchen. Die Modernität des Zweckbaus wurde durch die Einsenkung in das ansteigende Gelände -- ein Verfahren, das March schon beim Olympiastadion angewandt hatte -- in seiner Wucht gemildert und der umgebenden Landschaft harmonischer eingefügt."
Ein großes Auge aus der Luft. Haus Berlin hieß es ja eigentlich, das Speisehaus der Nationen. Kommt man dem unteren Wimpernbogen näher, eine weich geschwungene, rundumlaufende Veranda. Man wundert sich gleich, dass es keine Tische und Stühle gibt, kein Draußen-nur-Kännchen-Angebot, kein Kuchenbuffet, das man schon durch die offene Glastür glitzern sieht. Käsekuchen und Schwarzwälder Kirschtorte auf Papierspitzendeckchen, silberne Tortenheber. Was für ein schönes Café wäre das. Immer wieder sieht man statt Fensterscheiben Holzbretter. Samtig brauner Bretterverhau. Besonders im Innenhof, im Inneren des Auges. Da scheinen besonders viele Scheiben zu Bruch gegangen zu sein. Wahrscheinlich die billigste Variante, das Innere des denkmalgeschützten Prachtenwurfs vor Wind und Wetter zu schützen. Vor Einbruch, vor Verwüstung. Einst weiß verputzte Steinbänke. Ich lese die riesigen Banner mit den Leitsätzen (und meinem Lieblings-Leitsatz Nr. 6: "Du bist jung, schaffe dir schöne Erinnerungen!"), mit der Speisekarte, mit dem Lebensmittelverbrauch. So alt ist Ovomaltine schon. Ich dachte, das wäre ein Pulvergetränk aus den Siebzigern. Mein Bruder mochte das gerne. Ich nicht. Mir war es zu malzig und zuckrig. Ich mochte lieber Kaba und Nesquik. Und amerikanische Cerealien haben sie auch schon zum Frühstück gegessen, die Sportler. Bei Cerealien dachte ich wiederum lange Zeit, das Wort wäre eine dieser neueren Erfindungen der Werbeindustrie, um irgendwelchen neu zusammengeschusterten Lebensmitteln den Anstrich von wissenschaftlich geprüfter Qualität zu geben. Zu meiner Zeit hat man jedenfalls nicht von Cerealien geredet. Da gab es Kellog's Corn Flakes und Haferflocken und irgendwann später Fertig-Müsli. Bums, fertig. Und Joghurt ohne Drehwurm und probiotisches Gedöns. Aber ich schweife ab. Wenn ich die Bilder sehe, erkenne ich deutlich, dass ich dann irgendwann zu faul war, die Strecke auszumisten. Diese endlosen Wiederholungen dieses Speiseplan-Banners und der Bogen des Dachs vom Innenhof. Da hätten auch zwei Bilder gereicht. Na ja. Aber nun ist es drin. Hat auch was Hypnotisches mitunter. Nutzen Sie einfach die Gelegenheit zu einer morgendlichen Meditation über die schier unendlichen Möglichkeiten, das Licht in einer gewissen Ecke einer Steinbank einzufangen. Lange saß ich da. Schloss die Augen, blinzelte in die Nachmittagssonne. Noch war es warm. Ich zog meinen Ledermantel aus. Ich dachte, ein guter Platz für eine Rast, um meinen Proviant hervorzuholen. Und während ich im Speisehaus der Nationen aß, in aller Ruhe meine hartgekochten Eier und Äpfel und so weiter verdrückte, ließ ich den Blick schweifen. stellte ich mir vor, wie es damals war. Als die Fenster noch Scheiben hatten, alles neu war, modern und voller Leben. Das babylonische Sprachgewirr, das Klappern des Geschirrs und der Bestecke.
Diese aufgestellten alten Fotos im Innenhof rührten irgendetwas bei mir an. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kriege so eine ganz leichte Gänsehaut, wenn ich die bunten Gesichter der vielen Völker sehe, so guter Dinge an gut gedeckten Tischen, mit dem Geist von Völkerverständigung im Herzen. Ganz naiv, ganz friedlich. In guter Absicht. Es hätte alles so friedlich bleiben können. Da war auch die Begegnung mit jenem Fotografen, die ich erwähnte. Und mit der vorbeiwandernden Gruppe, die aber erst nach einer guten halben Stunde kam. So lange saß ich da in der Sonne und schaute, was sie da trieb, auf den alten Wänden, dem alten Putz.
Elstal VII Speisehaus der Nationen
g a g a - 23. November 2010, 22:43
Dieser Strang erhärtet diesen Verdacht:
http://werbewahn.net/2007/01/28/cerealien/
Ich finde den Ausflug auch spannend zu beschreiben, weil man das Gefühl hat, in einem nebulös versunkenen Areal herumzustochern. Normalerweise sind Pilgerstätten aus dieser Epoche nicht mein vorrangiges Interesse. Gerade weil man auch von Berlinern nie davon hört, interessierte es mich umso mehr. Ich stieß durch einen Zufall darauf. Mir war keineswegs präsent, dass da ja noch irgendwo in Nähe zu Berlin ein olympisches Dorf schlummern musste. Darüber dachte ich nie nach. Ich erhielt eine Mitteilung einer geänderten Privat-Adresse, aber die Postleitzahl war nicht kompatibel mit der Angabe Elstal. Daher versuchte ich über das Internet herauszubekommen, wie die formale Postanschrift zu dieser Postleitzahl lauten müsste. Es ist Wustermark. Bei dieser Nachforschung fiel mir in den Suchergebnissen wiederholt der Begriff "Olympisches Dorf von 1936" auf und meine Neugier war geweckt. Zwei Tage später fuhr ich hin. So kam das.