04. Juli 2010

Als ich das Bild bekam und zwei Freundinnen zeigte, meinten beide, es müsste unbedingt auf genau diese Ecke auf dem Sofa gestellt werden. Und das Kissen, das Gestreifte sollte ich ein wenig davor drapieren. Ich fand die Idee auch lustig und probierte es gleich aus. Aber aus irgendeinem Grund wollte Cosmic lieber in der Badewanne schlafen, als auf dem Sofa. Na ja. Jedem das Seine. Am Anfang bin ich immer ein bißchen erschrocken, wenn ich ins Bad gekommen bin, aber mittlerweile hab ich mich an ihn gewöhnt und zucke nicht mehr zusammen, wenn ich ihn da liegen sehe. Er ist ja auch ganz friedlich. Wer schläft, sündigt nicht! Im Übrigen Cosmics wichtigstes Steckenpferd, noch vor Schokolade, Pudding und Kuchen essen. Er betreibt sein Hobby sehr gewissenhaft und lässt es nie an Disziplin fehlen, wenn es darum geht, die Ruhephasen einzuhalten. Darin ist er mir ein großes Vorbild, an dem ich mich und auch jeder andere sich stets orientieren kann.



Nun der Tag mich müd gemacht, soll mein sehnliches Verlangen
Freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen
Hände lass von allem Tun, Stirn vergiss du alles Denken
Alle meine Sinne nun wollen sich in Schlummer senken
Und die Seele unbewacht will in freien Flügen schweben
Um im Zauberkreis der Nacht tief und tausendfach zu leben


(H. Hesse)

04. Juli 2010

Dienstag, 18. Mai 2010. Der Tag der Abreise, unsere Rückkehr nach Berlin. Ebracher Hof. Mein Blick fällt auf den großen Karton in der Ecke des Zimmers. Der große Karton, den ich vor Beginn der Reise als Eilsendung vorweg geschickt hatte, damit mein Fluggepäck nicht so schwer würde.

Unten im Karton Plakate, die den Abend ankündigten. Romantik Liebe Rebellion. Darauf ein großes Tuch aus Leinen, das ich manchmal als Hintergrund für die Projektionen benutze, wenn es im Raum keine geeignete Projektionswand gibt. Weißes Leinen. Cirka zwei Meter zwanzig mal zwei Meter achtzig. Zusammengelegt. Karrabinerhaken an den Ecken. Darauf, geschützt in luftgepolsterter Folie, der Beamer. Noch ein Tuch, schwarz. Manchmal muss man abdunkeln. Oder muss die Projektionsfläche vor einem Fenster spannen, das nicht ausreichend abzudunkeln ist. Dann lege ich zwei oder drei dieser großen Tücher übereinander. Ganz hinten das schwarze Tuch. Im Karvana war es so. Unser Konzert, im Sommer vor einem Jahr, begann als es draußen noch hell war. Ich spannte Tücher auf fast drei Metern Höhe, auf einer wackeligen Leiter balancierend. Klopfte mit einem Stein Nägel in die Wand. Stefan, groß wie ein Wikinger, stand interessiert daneben, grinste entspannt: "Ich finde, du machst das sehr gut!" Ich fiel nicht von der Leiter. Cosmic wurstelte unten mit Verstärker-Kabeln. Wir bauten eine improvisierte Bühne in einer Ecke des Karvana, einem Café in Friedrichshain auf. Erinnerungen.

Ich trug an jenem Abend ein rotes Barett und ein Rüschenhemd, auch rot, das dem sehr späten Elvis zur Ehre gereicht hätte. Aus irgendeinem Berliner Second Hand-Laden, in den Neunzigern gekauft. Als es noch Retro nach Gewicht gab. Wildleder-Shorts. Eine zerschnittene schwarze Veloursleder-Jeans. Schwarze Stiefel. Eine Nadelsteifen-Anzug-Weste über dem Las Vegas-Hemd. Ich erinnere mich oft, was ich anhatte.

Auf dem schwarzen Tuch im Karton lagen kleinere Plakate. Und zuletzt, ganz oben, die drei einzeln verpackten Sätze der Cosmic-Gaga Collection. Die A-Serie, die B-Serie, die C-Serie. Auf einer Seite des Kartons die Schachtel mit allen Kabeln, die ich brauche. Das Strom-Kabel für den Beamer. Ein Hub für die USB-Anschlüsse. Das Kabel für den Hub. Zwei USB-Kabel, um den Beamer mit meinem Rechner zu verbinden. Ein fünf Meter langes und ein extra kurzes. Das Kabel für den Ton kriege ich von Cosmic oder dem Veranstalter. Eine scheinbar langweilige Aufzählung von Kabeln. Kleiner Detailfetisch für mein eigenes Erinnern. Man schreibt ja auch für sich... Manchmal ist es durch die Raumsituation bedingt ungünstig, den Beamer auf dem Tisch neben dem Rechner zu haben, dann brauche ich eine lange Leitung zu meinem Notebook. Im Karvana war es so. Und immer Gaffa-Tape, um die Kabelstränge am Boden zu schützen, und damit es keine Stolperfallen gibt.

In der Schachtel mit den Kabeln liegt auch ein Feuerstein. Gefunden an einem Strand im Baltikum. Ersatz für einen Hammer, wenn man einen Nagel in die Wand schlagen muss. Das muss man eigentlich immer. Nägel sind immer dabei. Aufbewahrt in einer Streichholzschachtel vom Hotel Nizza in Frankfurt. Wenn ich einen Nagel mit dem Stein einschlage, blitzen die Funken. Insofern schön, weil ich mir seit langem einen Feuerstein gewünscht hatte und als ich diesen Stein fand, einfach nur weil er mir gut gefiel, wusste ich gar nicht, dass es ein Feuerstein ist. Bis ich den ersten Nagel damit in die Wand schlug. Feuerherz. Und Klammern in der Form von Spiralen, um die Bilder aufzuhängen. Hundertfünfzig Meter weiß-violette, gedrehte Kordel. Alles sollte schön aussehen. Besonders schön. Es gab auch noch ein dickes Päckchen mit den vier Plakatmotiven in der Größe von Handzetteln. Wir verteilten fast alle in der Stadt, an den Tagen vor unserem Konzert. Nur noch wenige waren übrig.

Jetzt, früh am Morgen am Tag der Abreise, fiel mein Blick also auf den Karton, in dem immer noch dieselben Sachen lagen, aber wüst durcheinander. Beim Abbau in der Nacht nach dem Konzert gepackt. Hastig. Ganz anders als beim Aufbau. Der ist zwar eilig, aber nicht hastig. Das ist ein Unterschied. In hingebungsvoller Eile baut man auf, in eiliger Hast baut man ab. Aber so durcheinander wie er jetzt war, wollte ich den Karton nicht mit nach Hause nehmen. Ich breitete den Inhalt auf dem Bett aus. Fand die Setlist. Ein ausgedruckter Screenshot der Dateien meiner Filme. Mit Änderungen, Durchstreichungen, Pfeilen, Anmerkungen. Noch war die Erinnerung frisch. Ich wusste, was die gekritzelten Anmerkungen zu bedeuten hatten. Ich nahm eines der kleinen Plakate und setzte mich mit verschränkten Beinen auf das breite Bett, wie ich es immer tue (ich bewohne in Hotels eigentlich nur die Betten) und schrieb die Set-List auf der Rückseite eines der kleinen Plakate noch einmal ab. So, wie der Ablauf wirklich war. Welchen Film ich bei welchem Song zeigte.

Mein Blick wanderte weiter zu den Fotografien. In beiden Serien fehlten Bilder. Einige hatte ich verschenkt. Ich vervollständigte die A-Serie mit Bildern aus der B-Serie. Ich nahm ein Lieblingsbild aus dem Stapel und schrieb etwas auf die Rückseite. Dann verpackte ich beide Stapel neu. Die A-Serie mit besonderer Sorgfalt. Und dann war da noch dieses Blatt, jener ausgedruckte Text Du bist mein Mond... Wir hatten beide unabhängig voneinander einen Ausdruck von diesem Text dabei, der sich nicht in dem Reclam-Buch findet. Meiner lag gefaltet in dem kleinen gelben Buch. Ich las diesen Text, um mich zu beruhigen, im Zug auf dem Weg nach Coburg. Jetzt nahm ich das Blatt aus dem Rückertbuch und schlug die Fotografie darin ein.

Es ist ein Bild von uns beiden. Am vierten Juli 2008 entstanden, in einer Galerie in Berlin Mitte. Projektgalerie Hofmann von Sell. In der Galerie stand ein Klavier und du spieltest zum ersten mal, zaghaft noch, "Ich weiß, diese Welt wird untergehen, doch mit dir ist selbst das wunderschön...“ Kaum einer der Vernissagenbesucher interessierte sich für die Bilder, als du das spieltest. Später irgendwann standen wir draußen, in der Nacht, Jan war auch dabei. Ich fotografierte erst euch beide und dann uns. Nur ein einziges Bild. Wie wir die Köpfe zusammensteckten und unverabredet gleichsam vertrauensvoll in die Kamera schauen. Das Bild hat mich immer sehr berührt. Wir kannten uns kaum, aber man erahnte bereits die mögliche Nähe. Wenn ich dieses Bild von uns sehe, verstehe ich die kleine Anna, die vor zwei Wochen bei einem Gartenfest deines Freundes Christian mit uns am Feuer saß, seine Tochter, da waren viele Gedanken in ihrem empfindsamen Kopf. Sie zögerte erst ein wenig und fragte dann in ihrer etwas schüchternen und doch mutigen Art, ob wir Geschwister seien oder irgendwie verwandt, weil wir uns ähnlich sehen würden. Ihr seht irgendwie gleich aus. Da ist so eine Ähnlichkeit...". Das sagte sie, die kleine Anna. Zehn Jahre alt vielleicht. Du sagtest, dass wir nicht richtig blutsverwandt seien aber... eben anders verwandt. Das fällt mir zu dieser Fotografie von uns ein. Ich schrieb noch deinen Namen auf den improvisierten Umschlag Hab ja alles fotografiert.

Ich legte meine anderen Sachen auf das Bett, alle T-Shirts, die ich dabei hatte, drei Kleider. Einiges darunter, das ich gar nicht getragen hatte. Ein ziemlich schräges Kleid mit einem Op Art Muster, irrwitzige Applikationen von Hunderten von kleinen Kreisen in schwarz und Weiß. Kann man gar nicht beschreiben. Bis heute noch ungetragen. Und da war die Papiertüte aus dem Weinladen, wo ich den schlimmen Wein gekauft hatte. Die DIN A 3 Plakate lagen auf dem Bett und mir fiel auf, dass es dieselbe Größe wie die Tüte ist. In dem Karton waren auch noch meine dicken Klebestifte und ich bastelte kurzerhand eine poetrYclub-Einkaufstüte. Die sah richtig echt aus. Total schön.



Von jedem Plakatmotiv und jeder Größe nahm ich eines und rollte sie ein, gebunden mit einem Stück der weiß-violetten Kordel. Dann packte ich das A-Päckchen in die Tüte und klammerte die Set-List und die Postkarte mit ein paar der Spiralklammern an die Tüte. Ich stellte die Tüte mal hierhin und mal dahin und machte Fotos und träumte vor mich hin und vergaß darüber fast die Zeit. Ich musste ja auch noch die anderen Sachen packen. Aber eines musste ich noch machen. Ich steckte die Romantik Liebe Rebellion-Tüte in eine große braune Tüte ohne Aufschrift und klebte sie oben ein bißchen zu, damit man nicht gleich sehen konnte, was darin ist. Das würde nur unnötige Fragen aufwerfen. So, fertig. Und jetzt die Klamotten. Geschafft. Ich bin bereit.

Das Zimmer mit der Nummer Fünf sieht wieder aus wie vorher. Ich hänge das wüste Acrylbild über dem Bett wieder von Hochkant auf quer, wie es vorher war. Mir gefiel es zwar nicht ausnehmend gut, aber Hochkant noch am ehesten. Ich nehme das flammende Tuch von der Lampe am rechten Nachttisch, das das Licht so warm machte. Es ist jenes rot und orange in der Sonne wehende Tuch aus meinem Hippolyta-Opus. Ich hatte die Vorhänge des Hotelzimmers halb zugezogen und nur ein wenig zur Seite gerafft. Jetzt hingen sie wieder ordentlich der Schwerkraft folgend. Obwohl dieses einzige Einzelzimmer mit breitem Bett sonst detailweise ein ungewöhnliches Interieur hatte. Es gab keinerlei Schränke, sondern nur gemauerte, weiß gekalkte Nischen mit eingelassenen Ablagebrettern und einer zwischen zwei Nischen eingelassenen Kleiderstange. Ich erkannte, dass alle meine Sachen, die hingen, schwarz waren. Das Bad hatte einen superschicken Eingang, eine riesige Schiebetür aus einem einzigen Spiegel, von der Decke bis zum Boden. Dunkler Holzfußboden. Der Blick aus dem Zimmer auf die Rittergasse. Nicht spektakulär, aber die Lage an sich schon, an einem zentralen Nerv in der Altstadt, in einem Renaissance-Gebäude, neben dem supermodernen Georg-Schäfer-Museum.

Ich deponierte mein Gepäck mit der geheimen Tüte in der Nische unter der Treppe am Empfang. Cosmic war in seinem Elternhaus, wo er zum Abschied mit seiner Familie noch einmal zu Mittag essen wollte. Danach würden wir gemeinsam zurück nach Berlin fahren. Ich überbrückte die Zeit, bis er kam, im Restaurant des Hotels und surfte ein bißchen durch's Netz. Unser Freund Yvelle hatte ein neues Video hochgeladen, in dem er sang, das schaute ich mir an und ließ die Bilder auf mich wirken, die ich in den letzten Tagen gemacht hatte. Die wenigen Filmsequenzen. Der Blick in den Himmel von Gerbrunn, deinen Himmel, dein Tanzen. this used to be my playground...

Die Hausdame (aka Zimmermädchen) winkt mir zu als sie mich da sitzen sieht und die beiden Mitarbeiterinnen vom Service signalisieren mir unablässig ihre Bereitschaft zu Diensten zu sein. Haben Sie noch einen Wunsch? Nein? Wirklich nicht? Ich vermute, dass die beinah ein bißchen zu begeisterte Bedienung irgendetwas mit dem Trinkgeld zu tun hat, das ich eine krumme Summe zu einer sehr geraden machend, aufrundenderweise gerade gab, als ich nach dem Frühstück die gesamte Hotelrechnung beglich. Beim Surfen finde ich doch tatsächlich eine Konzertkritik, in der ich erwähnt werde, in der Online-Ausgabe der Mainpost. Vielleicht hatten die Hotel-Mitarbeiter ja auch die Zeitung gelesen und nun war ich womöglich berühmt! Als ich gerade diesem Gedanken nachhänge, betritt Cosmic das Restaurant. Er kümmert sich um das Gepäck, verstaut es im Heck, während ich meinen Rechner herunterfahre und mit überschwänglichem Händeschütteln verabschiedet werde. Cosmic muss später darüber lachen. Er weiß inzwischen, dass das Trinkgeld nicht fürstlich, sondern königlich war. Während er auf das Mittagessen wartete, mailten wir blödsinnig hin und her

„(...) die Schulden beim Ebracher Hof habe ich unter Hinzufügung eines fürstlichen Trinkgeldes bereits beglichen, bitte fragen Sie nicht nach dem Gesamtbetrag. Ich vermute die aufgerundete Summe führte dazu, dass die freundliche Service-Mitarbeiterin noch freundlicher wurde und mir sogleich eine ganze Flasche des Getränkes meiner Wahl spendierte, da ich ja nun noch ein wenig länger verweilen werde, bis ich von Ihnen abgeholt werde!“

„(...) Sehr geehrte Madame Nielsen, ein königliches Trinkgeld ist die richtige Methode, um das Volk in Schweinfurt zu begeistern, ihre Herzen zu erschließen. Diese Gesten sind in unserer Gegend sehr selten, ist doch der Geiz das Vorherrschende, in aller Regel. Diese großzügige Geste wird also sicherlich dazu führen, daß Ihre Zeit in Schweinfurt nicht in Vergessenheit geraten wird. Solche Dinge sprechen sich unter dem Volk wie ein Lauffeuer herum. Selten wurde ein königlicher Besuch so positiv aufgenommen. Zuletzt war der Besuch des Königs Ludwigs des II mit ähnlicher Zustimmung ausgegangen, nun haben Sie diese schöne Tradition wieder aufgegriffen. Ich werde nun noch zum Müller gehen, um das frisch gemahlene Mehl zu bezahlen und dem Bäcker zukommen zu lassen. Morgen werden auf dem Marktplatz dann die Brotlaibe unter den Hungernden verteilt. Wir können also später getrost den Rückweg nach Berlin antreten, nicht ohne vorher noch eine Flasche von dem köstlichen Brand des Herrn Gößwein mit zu nehmen. Mit königlichem Gruße King George der Kosmische“

„(...) Wie recht Sie doch haben! Sagte ich ein fürstliches Trinkgeld? Ich muss mich revidieren - es war selbstverfreilich einer Königin würdig. Die Königskrone zu tragen fordert von uns solches! Das Volk dankt es einem auch umgehend und die Herzen fliegen der Königin zu! Gerade eben winkte mir eine Untertanin, die als Kammerzofe am Ebracher Hof ihr Tagwerk verrichtet zum Abschiedsgruße zu und wünschte beglückt und nochmals ihren Dank entrichtend eine gute Weiterreise. So ist's recht! Mit dem Segen des Volkes reist es sich wohlgemut! [ > Morgen werden auf dem Marktplatz dann die Brotlaibe unter den Hungernden verteilt.] Wie froh ich bin, dass Sie das richten! Ich käme ja doch nicht mehr dazu - die Staatsgeschäfte halten mich in diesen letzten Stunden in der königlichen Reichsstadt Schweinfurt derart auf Trab, dass ich froh bin, wenn ich zeitig fertig bin, wenn der Kutscher vorfährt! So ein köstlicher Brand wird meine Lebensgeister wecken, Sie werden es sehen! Entrichten Sie auch bitte Ihren königlichen Schwestern und den königlichen Hunden sowie dem Großkönig Siegfried meinen Abschiedsgruß! Gott zum Gruße wohlan! Gaga Königin von und zu Gaganien, Fürstin zu Berlin und Brandenburg"

Bevor wir die Stadt endgültig verlassen, wollten wir also noch einmal kurz in die Traumfüllung, ein kleiner Laden mit feinen Obstbränden, Essigen, Ölen und sonstigen Essenzen, von Hand abgefüllt. Cosmic hatte den Laden vor vielen Jahren mit seinem Feund Micha in die Welt gesetzt. Ich war schon gespannt. In großen Glasballons gab es hochprozentige Flüssigkeiten, Brände und jede Menge Geister. Ich wollte selbstverständlich jede Menge gute Geister von dieser Reise mitnehmen und entschied mich auf Cosmics Empfehlung für einen Trester, einen Wildpflaumenbrand und einen Geist aus gebrannten Haselnüssen, über dessen Aroma ich völlig aus dem Häuschen war und bin. Wie allerfeinstes Nougat. Micha war leider nicht da, aber Cosmic kannte auch die anderen Mitarbeiter und spielte kurzerhand Verkäufer und füllte das Gewünschte ab. Souverän schritt er hinter die Ladentheke und beschriftete alle Flaschen mit einem OH-Stift. Ich war gerührt, was er da gekritzelt hatte. Abschied. Die wirklich letzte Etappe in SWC. Auf die Autobahn nach Berlin.

Die ähnliche Strecke fuhr ich zuletzt irgendwann in den Achtzigern, noch vor Mauerfall. Seither nie mehr auf dieser Autobahn gewesen. Autobahnen kriegen auch nie so richtig Patina, da stellt sich nicht so richtig viel Sentimentalität ein. Das Wetter ist eher so gemischt, Wolken, mal Sonne, Wolken, mal Sonne. Kein Regen. Autobahnraststätte. Ein Kaffee. Weiter. Ich wühle in der kleinen CD-Sammlung im Handschuhfach. Handschuhfach? Heisst das wirklich so? Handschuhfach? Hat man da früher Handschuhe und weiter nichts drin abgelegt? So ein Wort, so geläufig, noch nie über den Sinn nachgedacht. Wenige CDs darin. Die poetrYclub-Platte liegt natürlich auch da. Und irgendwas von einer Singer Songwriterin, die ich überhaupt nicht kenne. Sting, John Lee Hooker, Klaus Schulze, Stadium Arcadium von den Chilies, die ich ja sehr mag. Im Radio ist kein erträglicher Sender zu finden.

Es gab sogar eine Musik-Cassette glaub ich oder verwechsle ich da was? Irgendwie Eric Clapton unplugged oder war es doch eine CD? Ich hätte gerne mit dir Layla beim Autofahren gehört, das andere Zeug von ihm ist mir zu - mir fehlt das richtige Wort... (unspezifisch... undifferenziert...) Aber bei Layla unplugged denke ich an eine Reise durch Arizona in einem Jeep Cherokee. Mit drei wilden Weibern. Layla, you've got me on my knees. Layla, I'm begging, darling please. Layla, darling won't you ease my worried mind... Und wir hörten diesen Song immer wieder. Irgendwo on the road zwischen dem South Rim des Grand Canyon und Marlboro Country, Monument Valley. Gut, Tears in Heaven ist auch schön. Ist das nicht auch auf der Scheibe? Aber irgendwie wollte man sich nicht durch das restliche weiße Blues-Gedudel von Herrn Clapton durcharbeiten. Vielleicht war die CD auch gebrannt und nicht beschriftet. Hab’s vergessen.

Ein bißchen John Lee Hooker, ein bißchen Sting, ach nö, lieber doch nicht, o.k. die Chilies, da weiß man was man hat. Als die Platte läuft, merke ich, wie differenziert meine Anlage zuhause dann doch offenbar ist und auch mein kleiner Player. Mir ist gerade beim Hören von Stadium Arcadium im Auto, als fehlten ganze Sphären, die ich sonst wahrnehme und mir einen heftigen Kick geben. Eine meiner Lieblingsplatten dudelt irgendwie unspektakulär durch. Ich zappe trotzdem hoffnungsvoll zu Hey, meinen Lieblingssong und er ist großartig wie immer. Schöne Autobahnkilometer. Und komm, ach, mach doch einfach die poetrYclub-Platte, mach Blüh wie die Blum... das ist so schön... Immer wieder. Ich hab eine der beiden tiefschwarzen Sonnenbrillen auf, die ich in Kauflaune bei meinem einzigen Alleingang durch die Schweinfurter Innenstadt erstand. Die andere werde ich auf der Ablage von Cosmics Chrysler vergessen. Später Klaus Schulze, überraschend sinfonisch. Irgendetwas daran erinert mich an Also sprach Zarathustra von Richard Strauss, hatte ich auf Vinyl...

Brandenburg. Jetzt kann man wieder mal Radiosender probieren, meint Cosmic. Was für ein Glückstreffer! Die beste Band der Welt, die auch wir ohne Vorbehalt abgöttisch lieben und verehren, singt „Junge“. Wir flippen ein bißchen aus, manche Textstellen kann ich auswendig. „Elektrische Gitarren und immer diese Texte Das will doch keiner hörn! Wie kommst du nach Hause, soviel schlechter Umgang! Wir werden dich enterben! Und immer deine Freunde, ihr nehmt doch alle Drogen! Und ständig dieser Lärm! (Achtung!!! Der absolute, ultimative Höhepunkt!!!) „Denk an deine Zukunft, denk an deine Eltern Willst du dass wir sterb'n?!?!?“ Wir lachen uns kaputt in unserem lustigen Auto und zünden in Gedanken eine Kerze für Farin, Bela und Rodrigo an. Leider kam danach nur noch der übliche Schrott und wir waren uns einig, dass es völlig ausreichend wäre, wenn es nur noch einen einzigen Radiosender geben würde, der nur Ärzte spielt.

Berlin. Messe-Zentrum. West-City. Cosmic verfährt sich ein bißchen, er ist so selten im Westen der Stadt. Aber Schilder nach Mitte gibt ja immer. Er ist eigentlich ganz schön müde, aber ich würde unheimlich gerne noch etwas Schönes essen gehen, ein bißchen das Ende unserer Reise zelebrieren. Und dann ist da ja noch die Tüte. Die möchte ich ihm eigentlich nicht einfach nur so im Kofferraum hinterlassen. Das wäre ja blöd. Richtig doof wäre das. Nein, das geht gar nicht. Ich hoffe, dass er doch schwach wird und erzähle ihm von einem vietnamesischen Teehaus, ganz neu, in der Rosenthaler Straße, gleich bei mir um die Ecke, das er noch nicht kennt. Ich war auch nur mal ganz kurz drin und hab gesehen, dass es sehr schön da ist. Und das Auto? Wo parke ich das Auto? Meine Ecke ist in der Hinsicht wirklich ein kleiner Problemfall, aber Cosmic wird bereits schwach und peilt „seinen“ persönlichen Parkplatz an. Die Ecke vorm Eingang vom Hackbarths. Eigentlich nicht wirklich zum Parken vorgesehen, aber nun ja!

Das Chén chè ist wunderbar. Das Essen, die in chinesische Seide gebundenen Karten, die Möbel, die ganze Atmosphäre. Ich kann mich kaum erinnern, bei asiatischem Essen je derart virtuos gezauberte Aromen serviert bekommen zu haben. Es gibt auch Wein. Einen guten Syrah aus Frankreich. Cosmic bestellt eine Schale mit Tee mit frischem Ingwer. Er schnieft ein bißchen. Da bahnt sich vielleicht was an. Ingwer ist da sehr gut. Dann der Nachtisch. Der Nachtisch. Mir fehlen die Worte. Ihm auch. Was ist das? Unglaublich, unfassbar delikat. Wir essen sprachlos seufzend, wie so oft über Kreuz. Da waren geröstete Sesamsamen und dieses warme weiche, weiße, nach Vanille und - -- ah.- was war das...? Noch ein Syrah für mich bitte... - - - ich besuche die Waschräume und finde mich in einem an stylishe Bilder in der Vogue von thailändischen Ayurveda-Spas erinnerndem Ambiente. Das Waschbecken ist offenbar aus der Schale einer riesigen Nuss gemacht, oder was ist das – ein Gehölz, wie eine etwas unförmige riesenhafte halbe Kokosnuss... Und wieder eine schwimmende Lotusblüte... So viel Liebe zum Detail. Wie schön. Und so nah. Ach Berlin...

Eine Zigarette im Garten. Es gibt einen Gong. Und ein Buddha steht da auch, glaub ich. Und noch mehr schwimmende Blüten in kleinen Schalen auf kleinen Tischen. Ein kleiner Brunnen. Schön da draußen. Es ist noch kein warmer Frühlingsabend, aber man kann es sich vorstellen, wie es erst sein wird, in einer lauen Nacht. Wir gehen wieder rein, zu unserem Platz an der Tür zum Garten. Da war ja noch was. „Ach ja... da fällt mir ein... ich wollte dir noch etwas zeigen“ sag ich. Und greife nach der braunen Tüte, die neben meinem Stuhl wartet. Und mache sie langsam auf. Dramaturgie ist wichtig! Ich ziehe die Romantik Liebe Rebellion-Tüte langsam aus der braunen Tüte heraus und stelle sie auf den Tisch. Cosmic guckt, wie man gucken muss, wenn man so etwas macht. Er darf selber schauen, was drin ist. Ganz unten liegt das Päckchen. Die A-Serie. Er schaut mich an. Ich hab ihn nur einmal wirklich weinen sehen, wegen seiner Mama. Und noch ein anderes mal ein bißchen. Und einmal hast du es mir geschrieben. Es ist ein schöner Augenblick, wie du da so vor mir sitzt und wegen einer Tüte weinst. Ich sage „Aber das ist doch eigentlich mein Part, ich bin doch sonst immer die Heulsuse“. Du lachst ein bißchen. Das wollte ich. "Hier, die A-Serie, die ist für dich. Du musst eine haben, es geht gar nicht anders. Auch wenn ich es erst nicht wollte, aber heute morgen dachte ich, als ich die Bilder auf der Bettdecke sah, sie gehören auch dir. Du bist auf fast jedem Bild zu sehen. Wer, wenn nicht du sollte sie haben." Ich glaube - nein, das ist kokett - ich weiß, du hast dich gefreut. Am Ende dieser Reise.


27. Juni 2010

Ich versuche, den siebzehnten Mai zu erinnern, was nicht schwer ist. So viele Bilder im digitalen Herzen und weit mehr. Ich versuche mich genau zu erinnern. Es war die letzte Reise-Etappe, der letzte Tag, vor unserer Rückkehr nach Berlin. Ein Montag, 17. Mai 2010. Ich erinnere mich, was an diesem Tag vor zwei Jahren war. Ich begegnete Cosmic in der Galerie Sakamoto. Wir kannten uns nicht. Der Rest ist Geschichte, unsere Geschichte. Eine Bildergeschichte, eine Filmgeschichte. Eine Geschichte von zwei Menschen, die sehr eigensinnig sind, und mit dem Eigensinn des anderen, den Außenstehende mitunter exzentrisch empfinden mögen, gut zurechtkommen. Vorsichtig formuliert. Wenn man tief stapelt, ist die Wucht geringer, wenn es einen Erdrutsch gibt.

Das schrieb ich gestern und lasse es gerade auf mich wirken. Erst einmal Kaffee. Gleißende Sonne auf dem Balkon, wo ich gerade allerdings nicht bin, weil ich gerne den Kontrast der Buchstaben beim Schreiben sehe. An einem heißen Tag wie diesem heute, schlüpft man aus dem Bett unter die Dusche und zieht sich nur die Kaffeetasse an. Vor dem Klapprechner auf dem Bodenkissen. Orangensaft, Erdbeeren, Schatten, weich. Vogelgezwitscher am Gipsdreieck. So versuche ich mich zu erinnern, die Tasten zu füttern.

Es begann damit, dass ich mich an die Geschichte erinnerte, die Cosmic mir aus seiner Kindheit erzählte. Er hatte mit Freunden ein Spiel, das einen verrückten Namen hatte. Es hieß Bumbadala. Das ist ein geheimes Wort, und bedeutet Afrika spielen. Ein paar kleine Jungs trafen sich auf den Feldern in Gerbrunn und zogen sich nackig aus und spielten Afrika! Im Sommer, wenn es heiß war. So wie heute. Sie versteckten sich schnell in den Maisfeldern, wenn ein Bauer näherkam und für den Fall, dass man flüchten musste, hatte man den Gürtel noch an, um den die Unterhose gewickelt war. Für den Notfall. Einmal kamen Flieger und flogen ganz tief über die Felder und die kleinen Afrikaner hatten Angst, dass sie entdeckt werden. Aber es ging gut aus. Afrika blieb unentdeckt!

Ich sah diese Bilder vor meinem inneren Auge und bekam große Lust, Afrika zu besuchen. Wie es wohl heute aussehen mag? Gut dreißig Jahre später? Ob man noch etwas von dem Zauber spüren würde? Wo das genau gewesen wäre, fragte ich. Und ob wir da nicht auch hinfahren könnten. In die Nähe von Würzburg, einen kleinen Ort am Rande der Stadt, da wo er aufgewachsen sei, bis die Familie nach Schweinfurt umzog. Gerbrunn heißt der Ort. Es sei schon ein Umweg, aber wir gucken mal. Gerade zu dem Zeitpunkt ergab sich ein geschäftlicher Anlass hinzufahren. Eine Besprechung und irgendeine wichtige Unterschrift. Da könnten wir doch auf dem Rückweg nach Gerbrunn, meint Cosmic. Ich freue mich. An Würzburg bin ich in meiner Kindheit ein paar mal vorbeigefahren, auf dem Weg zu den Großeltern, die nicht weit davon ein Haus hatten, und wo ich als Kind oft die Sommerferien verbrachte und im Main badete. Aber in Würzburg war ich nie.

Der siebzehnte Mai begrüßte uns mit strahlendem Sonnenschein. Solche schlichten, wahren Sätze schreiben Kinder in Schulaufsätzen. Cosmic hat heute einen Anzug an und wie er da so steht, mit seinem Drei-Tage-Bart und seiner Hilfiger-Sonnenbrille, die er schon zig mal für immer verloren glaubte, wie er da also so steht, im sonnigen Ebracher Hof, den Cappuccino nimmt, kommt er mir ein bißchen vor wie ein Agnelli-Erbe, der eine Nacht in Rom durchgefeiert hat. Und jetzt eine Spritztour in die Toskana. Ich bin dabei. An sanften Hügeln vorbei, Rapsfelder. Raps, soweit das Auge reicht. Gleißendes Gelb, mit der Sonne um die Wette. Weinberge. Gelbgrüne Toskana. Ich träume und schon sind wir da. Ein kurzer Halt, Cosmic springt aus dem Auto, um an einer Wohnungstür zu klingeln. Er möchte sich beim Freund seiner Schwester, der hier lebt und leidenschaftlich gerne kocht, erkundigen, wo man später gut essen könnte, am liebsten regionale Küche. Ich mache ein Foto, wie die beiden fachsimpeln, sie stehen im Wagenschlag, während ich auf dem Beifahrersitz warte. Das Bild ist nur noch in meinem Kopf, ich habe es gelöscht. Es war eigentlich sehr schön, das Licht... wie die beiden da so stehen. Aber ich kenne die kleinen Eitelkeiten und verstehe sie alle. Eine gewisse Silhouette, eine verkürzte Perspektive, die das eine oder andere Detail unvorteilhaft erscheinen lässt. Ich verstehe jede Befindlichkeit und diskutiere wenig. Dieses Bild hat keiner außer mir je gesehen. Aber ich kann es abrufen. Meine Festplatte im Kopf hat eine unerhörte Speicherkapazität.

In einer schönen Altbauwohnung in Würzburg. Fischgratparkett, Flügeltüren. Schöne Möbel. Viele Bücher, die blauweiß gestreifte Tapete in der Küche. Wie ein Strandkorb. Eine ganze Wand im Flur mit weißen Regalen, dicht bestückt mit CDs klassischer Musik. Ich denke, das ist so eine erlesene Auswahl, und diese Fülle... der Bewohner muss etwas mit Musik zu tun haben. Und tatsächlich, Raphael, Cosmics Geschäftspartner leitet neben den Kunstmarktgeschichten der beiden einen Chor. Die Sonne scheint immer noch, ein paar Wolken ab und zu, wir gehen auf den kleinen Balkon. Kaffee, Zigarette. Ich checke ein Video auf meiner Kamera, das ich am Abend in der Disharmonie aufnahm, ich muss es auf der Kamera schneiden, sonst kann ich es nicht herunterladen, es ist zu umfangreich. Es zeigt die Szene, als Cosmic mich auf die Bühne bat und von uns erzählte. Und wie er danach das Lied sang, vom Mond. Die beiden, Raphael und Cosmic lassen mich für eine Weile allein, um die Unterschrift zu erledigen. Ich habe alles, was ich brauche, einen Platz an der Sonne, meine Kamera und eine Tasse Kaffee. Die beiden waren nicht einmal eine Stunde weg und sind schon wieder zurück. Es stellt sich heraus, dass die vermeintlich fehlende Unterschrift bereits existierte, es also gar keine Notwendigkeit gab, nach Würzburg zu fahren. Aber wie gut... ohne diesen kleinen Irrtum hätten wir uns vielleicht gar nicht auf den Weg gemacht. Das sollte so sein, meint Cosmic später in einem Café in Gerbrunn.

Wir machen uns direkt auf den Weg. Gerbrunn, der Ort seiner Kindheit. Mindestens zwanzig Jahre war er nicht da. Ich bin auch ganz aufgeregt. [Kleine Schreibpause in der Sonne.]

Ja – wo war ich... wo sind wir. Wir fahren direkt in das kleine Dorf, ohne Umwege in die Straße am Rande der Felder, wo er als kleiner Junge wohnte. Wir parken ganz in der Nähe des Hauses. Im Stückackerweg. Es ist ein einfaches, dreistöckiges Haus für mehrere Familien, in der oberen Wohnung mit Balkon auf die weiten Felder wohnte er mit Mama und Papa und den beiden Geschwistern. Die kleinste Schwester war noch nicht geboren. Ein paar Wolken haben den Himmel kurzzeitig verdunkelt, wir stehen vor der Garage. Das war das Fußballtor. Links davon kann man in den kleinen Garten gehen, der eigentlich nur ein Stück Rasen ist, das bis zu den Feldern reicht. Was für eine Weite. Wieder gelb. Wieder Raps. So weit das Auge reicht. Cosmics Blick streift nach oben, zu den Fenstern. Wir gehen wieder vor das Haus. Aus einem der offenen Fenster im Erdgeschoss schaut eine jüngere Frau, sie unterhält sich mit einer anderen Hausbewohnerin, die auf dem Treppenabsatz steht. Cosmic würde gerne noch einmal das Haus von innen sehen und erklärt, dass er hier vor vielen Jahren mit seiner Familie lebte. Ob das möglich sei? Aber ja.



Wir gehen hinein. Das Treppenhaus ist in sonnigem Gelb gestrichen. So war es auch früher schon, sagt Cosmic. Wir gehen eine Treppe tiefer, in den Keller, da gibt es eine kurze Erinnerung... irgendwas mit eingeschlossen sein... und da, an der Türschwelle, da ist die kleine Tochter vom Nachbarn in Scherben gefallen und hat sich die Knie ganz böse zerschnitten. Ja, da war das... Wir könnten ja vielleicht mal nach oben schauen, und klingeln? Warum nicht. An der Wohnungstür, ganz oben. Nach kurzem Klingeln nähert sich jemand der Tür und macht auf. Es ist eine Mama um die dreißig. Hinter ihr im Flur zwei kleine Jungs, Spielsachen auf dem Boden, ein Fußball. Cosmic erzählt, dass er hier gewohnt hat. Die Frau ist sehr freundlich und entschuldigt sich, dass sie uns nicht hereinbitten kann, weil sie gerade auf dem Sprung ist, der eine ihrer Jungs muss zum Fußballtraining. Wie alt er denn ist, fragt Cosmic. Elf. Siehst du, so alt war ich damals auch, sagt er. Es sieht noch alles so aus wie in seiner Erinnerung, kaum verändert, so weit man die Wohnung erahnen kann, beim Blick durch die Tür. Wir verabschieden uns und drehen uns um. Auf einem Treppenabsatz steht ein Gummibaum, ein Teil der Wand ist aus bunten Glassteinen. Wenn man durch den rosa Stein sieht, kann man in die Vergangenheit schauen, wie durch ein Kaleidoskop. Staunender Blick durch die Glasbausteine der Kindheit. Die Straße runter. Cosmic blickt zurück. Ich komme mit.



Nach rechts. Wo der Stückackerweg endet, und der Wald anfängt. Und die Felder. Afrika. Das kleine Waldstück, waren da alte Kabelrollen... ohne Kabel? Irgendsoetwas. Abenteuerspielplatz. Ich erinnere mich auch an solchen Tage und Plätze und Spiele in den Wäldern meiner Kindheit. Lager bauen, Feuerchen machen. Alles so ähnlich... Und auch ein Feldweg. Vielleicht wollte ich es auch deswegen so gerne sehen, weil ich an die Spiele im Wald und den Feldern meiner Kindheit dachte. So viele Ähnlichkeiten. Was Kinder eben spielen. Wir biegen in den Feldweg, am letzten Haus vorbei führt er leicht nach oben, bis zum Horizont. Der Himmel bricht auf. Cosmic erzählt noch einmal von den Flugzeugen. Und dem wichtigsten Ort, da oben, da hinten. Man sieht in der Ferne einen wild bewachsenen Hügel und da laufen wir jetzt hin. Das ist der Schutti. Der Schuttberg. Ein wildes Kinder-Königreich aus Schottersteinen und Sand und Erde. Damals noch nicht so wild und grün wie wir ihn jetzt sehen. Da oben konnte man machen was man wollte. Freies wildes Land. Schönster Spielplatz ohne Grenzen. Hier kam kein Bauer mehr hin, weil es keine Saat zu beschützen gab, zwischen Steinen und Geröll. Es ist ein Paradies. Ich denke an Island, an die Steinwüsten im Hochland, Sprengisandur, die Steinpiste. Es gibt noch Schotter und Geröll da oben, auf dem Schutti. Rundherum wilde Natur. Cosmic tanzt von einem Schotterberg zum anderen und schaut ins weite Land. Und erinnert sich. Weit zurück. Es ist, als wären wir am Ziel. Das ist der schönste Ort der Reise und dieser Nachmittag schenkt ihn uns mit tiefblauem Himmel. Stille und Wind, wie an einem Sonntag. Es ist ein Sonntag. Dieser Montag ist ein Sonntag. Daran gibt es nichts zu rütteln.



Das Bild, das sich mir zeigt, da im Osten oder ist es Süden... dieser Blick auf dieses gelbe Feld, eingebettet in saftiges gelbes Grün, irgendwo links ein altes Gemäuer, vielleicht ein Getreidespeicher. Das Bild erinnert mich an Vincent van Goghs Gemälde einer Landschaft bei Auvers. Ich habe einen Druck davon, in unrealistischen Farben, viel zu leuchtend, viel zu viel Gelb darin, viel zu viel Sommer darin. Van Goghs Original, das in der Münchner Pinakothek hängt, leuchtet viel weniger, die Farben verströmen nicht diese sommersatte Wärme, es ist viel blauer, das Original. Aber ich liebe diesen verfälschten Druck, der neben einer Tür hängt. Und immer wenn mein Blick diese Landschaft streifte, in den Wochen davor, träumte ich davon in dieser Landschaft zu sein. Durch diese Landschaft zu wandern. Ich bin kein Riesenfan von Vincent van Goghs Bildern und auch nicht von Kalenderdrucken. Aber dieses hat es mir angetan. Und da stand ich. Mittendrin in meinem Bild. In Auvers. In Gerbrunn. Es gibt das wirklich. Dabei dachte ich, dass ich vielleicht bei der Rückertwanderung darauf treffen würde, auf dieses Bild. Nicht annähernd. Ich musste nach Gerbrunn. Am siebzehnten Mai.



Auf meiner Kamera gibt es eine kurze Filmsequenz, die Cosmic zeigt, wie er über die Hügel tanzt. Ich sage tanzen, er würde vielleicht sagen stolpern. Aber ich sage tanzen. Du hast getanzt. Irgendwann wird man es sehen können. Geschnitten mit den Bildern meiner Kamerafahrt über die chronologischen Bilder unserer Zeit, wie sie da hingen, in der Disharmonie, unterlegt mit deinem Neujahrsmorgen. Der Grobschnitt, der Gänsehaut verursacht... “Unter Hügeln und am Meer, harren Trümmer uns zu lehren, dass die Zeit in Kreisen mäht, und alles Irdische vergeht...“ und springst auf den Schuttberg und drehst dich um und schaust zum Himmel.



Du nimmst noch einen Stein und wir gehen den Weg zurück. Stückackerweg. Da an dem Mäuerchen habt ihr Sweet gehört. Ballroom Blitz. Mit deinem Kassettenrekorder. Und Luftgitarre gespielt. Und da, an dem Haus da hinten da ist der heilige Georg aufgemalt. Das Bild hat dich immer schon fasziniert. Georg, der Drachentöter. Dessen Namen du trägst. Und da rechts. Das Tapeten- und Gardinengeschäft, das gibt es noch... ob es auf ist? Sieht so geschlossen aus. Oh, ein Schild, wegen Krankheit... eine ältere Frau vor dem Haus, sie weiß Bescheid... das Geschäft hat schon seit einem Jahr nicht mehr auf. Wir gehen zum Auto zurück und tuckern ein bißchen kreuz und quer durch die kleine Siedlung. Überall Erinnerungsfetzen. Vorbei an einer modernen Kirche, da schau, rechts ein Café, da könnten wir einen Kaffee trinken, ja komm. Draußen in der Sonne, im Café, Blumentöpfe überall, da hinten eine alte Kirche, neben uns ein Maibaum. Schön, ich denke an Wales. Die kleinen Dörfer in Südengland, als ich auf den Spuren von Dylan Thomas war, vor zwanzig Jahren. Genau so. Sonntagsruhe überall. Cosmic entdeckt ein Buch über Gerbrunn an der Theke. Eine Heimatchronik. Beim Blättern fällt ihm eine Todesanzeige besonders auf. Georg Adam Hofmann, geboren am 31. Oktober 1799 in Gerbrunn, gestorben am 2. April 1867. Privatier. Es gibt ein bißchen Text um seine Verdienste, er hatte wohl eine gewisse Bedeutung und setzte sich für die Abschaffung eines Zinssatzes für die Bevölkerung ein. Ich habe mir nicht gemerkt, worum es ging, aber Cosmic betrachtete lange fasziniert die Anzeige. “Schau, er hat fast den gleichen Geburtstag wie ich, am 31. Oktober geboren. Und heißt auch Georg. Und das mit diesem Zinsgeld... das ist schon merkwürdig“. Cosmic beschäftigt das Zinsgeldsystem auch. Ich fotografiere ihn mit dem Buch und die Anzeige. Vielleicht gibt es das Buch ja zu kaufen? Ich frag mal. Die Bedienung sagt, da rechts ist gleich das Rathaus, da gibt es das. Das Rathaus hat leider schon zu. Was? Schon 19 Uhr? Das ist unglaublich. So lange sind wir schon unterwegs? Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Komm, lass uns noch eine rauchen und vielleicht noch einen Cappuccino...?



Auf vergessenen Wegen zurück mit dem Auto durch Gerbrunn, da schau, in dem Laden haben wir an Fasching immer Luftschlangen gekauft und da Eis... Cosmic ist ganz weit weg und doch ganz nah. Die Straße nach Würzburg. Er hat einen besonderen Ort im Auge, in seinem undurchschaubaren Hinterkopf. Da will er hin. Ja, das muss ich dir auch noch unbedingt zeigen. Den Schützenhof. Es geht beinah serpentinenartig nach oben. Ich bin sehr fasziniert von den Weinbergen mitten in der Stadt, beinah irreal. Sehr schön. Immer weiter nach oben. Es lohnt sich, du wirst es sehen, sagt Cosmic. Wir sind am Ziel. Über den Hügeln der Stadt, auf dem Nikolausberg. Es ist ein Biergarten mit einem unfassbar weiten Blick über das Maintal. Der Fluß mäandert zwischen Weinbergen, wenn man es nicht wüßte, könnte man denken, es ist der Rhein, irgendwo an der Loreley. Ein Ort, an dem Cosmic an vielen Sonntagen mit seiner Familie war. Man fuhr zum Essen hin, es gab Schnitzel und Pommes Frites und erfreute sich an dem schönen Ausblick. Und es gab einen Papagei in der Wirtstube und andere Tiere. Eine Ziege ist immer noch da, schau. Wir sitzen auf den rotlackierten Gartenstühlen, die gleichen Stühle und Tische wie früher. An einem Tisch an der Mauer kann ich weit das Maintal überblicken. Diesen Ort besuchen vor allem die Würzburger, sagt Cosmic, Touristen kennen das gar nicht. Cosmic trinkt ein Bier, ich nur Wasser, was ich mir eigentlich so gut wie nie bestelle, aber mir ist so. Wir wollen ja noch essen gehen. Es ist ein bißchen nieselig geworden und der Biergarten fast leer, der richtige Moment um zu gehen. Ein schöner Ort.



Bergabwärts, links, ah – da rechts da war doch ein Schwimmbad... das gibt es nicht mehr, interessant... Wir fahren in die Innenstadt, die Altstadt. Das empfohlene Restaurant hat heute am Montag Ruhetag, aber unweit am Marktplatz gefällt uns der Ratskeller. In einer Nische im Gewölbe studieren wir die imposante Karte mit regionalen Leckereien. Geld spielt heut keine Rolle, komm! Ich bin auf dem Silvaner-Trip und weiß auf jeden Fall schon, was ich trinke. Cosmic muss ja noch fahren und bestellt brav ein Spezi. Ich habe noch nie einen Autofahrer getroffen, der so gewissenhaft seinen Alkohol-Pegel überwacht. Ich bin stolz auf ihn Und was haben wir eigentlich gegessen? Ein Blick auf die online-Speisekarte bringt mir ein déjà vu bei „Bürgermeisterplatte Tournedo vom Rind und Schweinefilet mit Sc. Béarnaise und grüner Pfeffersoße, Bohnenbündchen und Berner Rösti“ und Cosmic hatte möglicherweise ein Schnitzel aber das darf hier nicht erwähnt werden, also überlesen Sie bitte diese unvegetarische Unpässlichkeit. In Wahrheit hat er natürlich nur den Kartoffelsalat gegessen und mir das Schnitzel überlassen. Ich brauche einfach Unmengen Fleisch! Der Ratskeller also... ja. Ich tauche in diesen Tag und was finde ich noch... Der Weg führte nicht direkt zurück nach Schweinfurt, sondern über einen schönen Umweg, nach Gaibach, wo das Aufnahmestudio von Sven Peks im „Alten Forsthaus“, einer idyllischen ehemaligen Ruine liegt. Dort wurde die poetrYclub-Platte „Goldene Zeit“ vor fünf Jahren gemischt. Leider ist keiner da. Aber in der Nähe, ist noch etwas Sehenswertes – die Konstitutionssäule von Gaibach, zu Ehren der bayrischen Verfassung errichtet. Die Sonne geht langsam unter, und ich kann mir vorstellen, warum das ein attraktiver Treffpunkt war, für die kids, damals. Ein bißchen was rauchen, die Sonne untergehen sehen... wir kehren zurück. Und da ist noch dieser Baggersee von dem ich hörte. Es ist noch nicht dunkel, aber man ahnt es schon. Ein paar Enten und Schwäne auch irgendwo. Ein bißchen zu aufgeräumt, das Seeufer. Ein bißchen zu glatt, ein bißchen zu gerade. Kein Ruf der Wildnis. Mehr wie ein Parksee, den man nur anschaut, aber sich nicht in die Fluten stürzt. Wir haben so viel Schönes gesehen an diesem Tag. Wir brauchen keinen Baggersee.

Mephisto. Noch einmal... ich sehe auf dem Foto, auf den Bildern, diesen Stapel. Die A-Serie meiner Bilder, die ausgestellt waren. Diese 126 Bilder der Cosmic-Gaga-Collection. Zwei Jahre, die wir mehr oder weniger miteinander verbrachten. Mal mehr, mal weniger. Aber immer intensiv. Ich hatte die Bilder nach dem Konzert in der Disharmonie vergessen, es gibt drei komplette Sätze. Und einen davon wollte Cosmic mir gerne abkaufen. Ich zögerte. Warum, soll unerwähnt bleiben, aber ich zögerte lange. Er sagte es zum ersten Mal, als er die Bilder nur auf Fotografien gesehen hatte. Dann wieder. Und wieder. Ich war hin- und hergerissen. Nach diesem Tag, auf dem Weg ins Mephisto, als ich das wiedergewonnene Paket auf der Fußmatte liegen sah, hob ich es auf. Nahm es mit. Und in dieser Bar fiel mir ein, dass ich ihm wenigstens eines schuldig war. Er war ja auf fast allen Bildern. Mehr als der Hälfte. Und er hatte als einziger richtig erraten, aus wievielen Bildern ich diese hundertsechsundzwanzig selektierte. Hundertsechsundzwanzig von Zweitausendirgendwas. Ich hab die Zahl wieder vergessen. Ein blödes Ratespielchen in einem facebook-Kommentar. Sag eine Zahl, sag ich. Cosmic: „Dreiunddreißig“. Ich ziehe die Postkarte mit der Nummer dreiundreißig aus dem Set. Ein Bild, das ich sehr mag. Er auch. Er schwankte, nannte noch eine andere Nummer, sechsundsechzig. Auch schön. Mag ich auch sehr. Aber nimm die dreiundreißig. Die ist es. Ich kritzle eine Widmung auf die Rückseite. Und es ist so dunkel in der Bar, so schummrig, dass Cosmic nicht alles sofort entziffern kann. Vor allem die letzte Zeile, das unter dem Datum. Ich lese ihm vor. „SWC, 17. Mai 2010, (historisch(es Datum)“. Er schaut ein bißchen so ähnlich wie als er durch die Glasbausteine in Gerbrunn schaute, als ich ihm in Erinnerung bringe, das heute der siebzehnte Mai ist. Und auch vor zwei Jahren der siebzehnte Mai war. Und wir uns vor zwei Jahren begegneten. Ich weiß nicht genau, woher die glitzernde Stelle in deinem Augenwinkel kam. Aber meine, das weiß ich genau. „Komm, lass uns wenigstens noch ein gemeinsames Foto machen...“ Denn eine Nummer fehlte noch. Es ist die Nummer Hundertsiebenundzwanzig. 127 Augenblicke Ewigkeit.

10-05-17 (92)

[...alle Bilder vom 17. Mai...]

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