Was geschah bei Karin in der Zeit zwischen Ende April 1958 und dem Kennenlernen meines Vaters im Herbst 1961? Ich nehme an, sie besuchte bis ca. 1960 die Handelsschule, traf Freundinnen, ging weiter viel ins Kino und Tanzen und las gerne Zeitschriften, Romane, aber auch gerne die Tageszeitung, und träumte weiter von der großen Liebe, vom Heiraten und einem Kind, während sie noch daheim im Elternhaus wohnte und im Möbelgeschäft mitarbeitete. Anhand von Gruppenfotos kann ich deutlich sehen, dass sie die anderen Frauen überragte, nicht nur wegen der Stöckelschuhe. Sie steht fast ein wenig abseits auf dem Bild, das hinten beschriftet ist mit "Karins Schulfreundinnen bei Radpartie".
Ob es zusammengewürfelte Schulfreundinnen von früher waren, die sich wie bei einem Klassentreffen nochmals trafen? Ich sehe keine große Nähe untereinander. Hatte eine schon ein Kind? Aber das hätte ja zur Radpartie sicher nicht so einen Sonntagsanzug angezogen bekommen. Ich denke, der Junge gehörte zur Nachbarschaft, war oft bei Karin und ihren Eltern, die vielleicht mit auf ihn aufgepasst haben. Es ist manchmal von einem "Günterle" die Rede in Karins Tagebuch, und der artige Bub kommt noch auf anderen Fotos vor. Also eher kein Kind von einer der Freundinnen.
Eine der jungen Damen auf dem Foto ist mir impulsiv unsympathisch, die mit den Ringelpullover in der Mitte, die so breitbeinig steht. Der traue ich nicht über den Weg. Vielleicht ist das diese vorlaute Ursel, die Karin manchmal erwähnt, die offenbar auch Haare auf den Zähnen hatte. Aber sie hatte auch einen Plattenspieler und lud Ihre Klassenkameradinnen ein, neue Schallplatten zu hören, was vielleicht ein Grund war, sich mit ihr zu arrangieren, was sie beinah schon wieder sympathisch macht. Das sind wilde Mutmaßungen und Unterstellungen, aber vielleicht hab ich ins Schwarze getroffen. Auf alle Fälle handelt es sich bei den Aufnahmen hier gesichert durchweg um Fotos aus dem Jahr 1959.
Karin war fast sechzehn. Endlich steht einmal ein Jahr auf der Rückseite. Und zwei Fotos, wo sie dasselbe Kleid, nur ohne die Brosche trägt, und auch diesselbe Frisur hat, sind im Album genau datiert, mit 17. April 1959, dem 50. Geburtstag ihres Vaters André.
Auch hilfreich bei meiner Detektivarbeit, die Interessen von Karin aus der Zeit zu erhellen, bevor sie ihre Familie gründete und ich auf die Welt kam, ist das Auflage-Datum der Bücher, die sie kaufte und las. Ich habe ihre Taschenbuchausgabe vom September 1958 von Bonjour Tristesse. Die
Verfilmung kam Ende 1958 in die deutschen Kinos. Vielleicht hatte sie die Kino-Vorschau gesehen und sich vorab das Buch gekauft. Oder umgekehrt. Ich las es früh, wie auch andere ihrer Bücher, die sie sorgsam aufbewahrt hatte, so zum Beispiel "Süßer Vogel Jugend" von Tennessee Williams.
