23. März 2011
Ende letzter Woche antwortete ich einer Freundin, wir haben uns sehr lange nicht gesehen, auf eine nachfragende Mail, in der sie mir einen Gruß sandte. Wie ich es in der letzten Zeit meistens mache, versuchte ich mich dafür zu entschuldigen, dass ich mich im Moment nicht in der Lage fühlte, mich zu treffen, mit anderen. Besser gesagt, es ist für mich tatsächlich einfacher, flüchtigen Bekannten bei einer Feier wie vorgestern im Einstein zu begegnen, die kein ernsthaftes, aufrichtiges und vertrauensvolles Gespräch von einem erwarten. Nichts muss erklärt werden, erzählt werden. Obwohl es dadurch auch banal ist, ist es angenehmer, dass an nichts gerührt wird...
(...) Du bist also immer noch da, und ich hab dich immer noch nicht dort besucht. Viel ist passiert, viel Aufregendes und auch viel Trauriges. Im Moment bin ich sehr zurückgezogen, auch wegen des furchtbaren Unglücks in Japan, das uns ja alle betrifft und noch viel mehr betreffen wird, sehr traurig. Ich staune, dass man bei manchen Menschen das Gefühl hat, sie glauben, dass sie aufgrund der Entfernung nicht betroffen sind. Als ob die Strahlung nicht durch die Gewässer und die Wolken und den Regen über die Erde verteilt wird. Ich muss auch gerade ein paar private Verluste verarbeiten, über die es mir schwer fällt zu sprechen. Deswegen bin ich nicht so recht in Stimmung zum Plaudern, was aber nicht immer so bleiben wird. (...)
Das schrieb ich ihr unter anderem. Ich musste gerade daran denken, dass es tragisch ist, wenn man gerade damit beschäftigt war, unter anderem herauszufinden, welche Nahrung man idealerweise für den eigenen Organismus wählt, um Belastungen und Abwehrreaktionen möglichst gering zu halten, trotz der vielfältigen Mutationen, Manipulationen in der Erzeugung. Und nun stehen wir alle vor der Frage, wie wir die schleichende Kontamination der Nahrung und des Wassers mit der im Augenblick noch nicht ganz für uns greifbaren Radioaktivität aus dem Unglücksherd in Japan umgehen. Wie kann man die Gewässer der Welt schützen, diese unfassbar große Verkettung. Die Wolken, der Regen, die Winde. Das Grundwasser. Es gibt ja keine Schutzmauer. Kann man den Erdboden des havarierten Kraftwerks unterhöhlen und versiegeln, und wer soll das wann tun? Mit Beton und Sand von unten und oben, irgendwann, später, wenn schon alles durchtränkt davon ist, das ganze Land dort und über die Grenzen hinaus. Ach... Eine gigantische Käseglocke aus Blei darüber, zwei Kilometer hoch? Oder eine riesige Stahlröhre ins All, durch die die Strahlung abgeleitet wird, oder der Dreck ins Weltall katapultiert? Ins All, das Unendliche? Wie werden wir das nur wieder los. Ich glaube, durch dieses Unglück müsste auch der Letzte begriffen haben, dass die alten Brennstäbe sehr, sehr lange noch weiter aktiv sind, umso mehr, je geringer die künstliche Kühlung von außen ist. Das wird einem jetzt wie im Schulbuch vor Augen geführt. Ich kann den Satz "Reaktor XY hat wieder Strom" nicht mehr hören. Was hat denn da Strom? Da wurde irgendeine Starkstromleitung gelegt, die sich zwar lokalisiert "am" Reaktor XY befindet, aber nicht an ihn angeschlossen werden kann, weil da ja alles hinüber ist, wie wir mit jeder neuen Meldung lernen, wenn es auch nebulös verscheiernd offen gehalten wird. Bis jetzt konnte noch kein Reaktor-immanentes Kühlsystem wieder aktiviert werden, wenn ich das richtig herausgelesen habe. Aber das haben ja auch sicher schon andere außer mir begriffen, dass die Kühlversuche von außen der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein sind. Ach. Aber genug für heute jetzt dazu. Ich muss jetzt schlafen gehen, weil morgen früh aufstehen.
Gute Nacht aus Berlin.
g a g a - 23. März 2011, 23:59
Trackback URL:
https://gaga.twoday.net/stories/15742706/modTrackback