27. November 2025

Heute Morgen in der S-Bahn las ich weiter in Ruth Rehmanns "Illusionen" von 1959. Im nachfolgenden Auszug (S. 206 - 207) geht es darum, wie die neunzehnjährige lebenshungrige Therese, die bei einem Versicherungskonzern in einer deutschen Großstadt als Schreibkraft auf Probe arbeitet, am Sonntag zur Kirche geht und wie sie die Predigt von der Kanzel und die Gemeinde wahrnimmt. Hat mich gefangen. Vergleichbare Empfindungen habe ich auch in Erinnerung. Fortlaufende Gewissheit: "Das ist Literatur."

"Dann sprach nur noch eine Stimme, die bald nicht mehr ausreichte, um alles zusammenzuhalten, und die Gemeinde bröckelte langsam auseinander. Jeder kroch in seine persönliche Haut, seinen Kragen, Mantel und Schuh zurück. Therese fühlte sich verlassen und ausgesetzt, spürte eine Abkühlung der Atmosphäre, eine zerstreuende Bewegung der Köpfe und Schultern. Schweifende Blicke, müßig wandernde Gedanken zickzackten mit eingeschlossenen Fliegen und schwirrenden Lichtstrahlen durch das gewölbte Schiff, trafen und überkreuzten sich und verfilzten zu einem vielfädigen verworrenen Gespinst, in das die Stimme des Predigers vergeblich eingriff, um zu ordnen, zu strählen, auszurichten: eine einzige Stimme tastend im Labyrinth vielstimmigen Schweigens, er sagte ja selbst, daß das meiste auf den Weg fiel, daß es auf Steine und unter Dornen fiel, von Vögeln gefressen wurde, verdorrte, erstickte, die Chancen waren wahrhaftig gering und er machte sich offenbar keine Illusionen, aber versuchte es trotzdem, das war ja sein Beruf, Therese rutschte auf dem harten Holz herum, schlug ein Bein über das andere, fragte sich, was sie eigentlich hier sollte und blickte mitleidig zu dem Pfarrer auf, der schwarze Krähenflügel über die Kanzelbrüstung schwang, seine Botschaft ausrief, anbot, und keiner nahm es ihm ab, denn die Sache war längst bekannt.



Unermüdlich suchte er nach Inseln guten Landes im Meer schleimräuspernder, schlafatmender, frühstückssatter Unaufmerk-samkeit und stach mit spitzem Zeigefinger wahllos hinab: »Dich meint er und dich«, die Angestochenen bewegten nervös die Stirnhaut: Schlafende, die eine Fliege vertreiben. Sie wollten ihre Ruhe haben und auch Therese wurde von Müdigkeit überwältigt beim Anblick der reihenweis ausgerichteten unbewegten Rücken, Schultern, Hälse, Haare und Hüte. Sie versuchte zu zählen, gab es auf und schloß die Augen. Die mühsame Stimme strömte an ihrem Ohr vorbei, sie fing hie und da einen Fisch, der bunter erschien, betrachtete ihn bis er ergraute, warf ihn zurück und der Strom schwemmte ihn fort. Auch Papa und Mama hielten darauf, von Zeit zu Zeit in die Kirche zu gehen, aber man merkte ihnen nichts an, obwohl sie sich beim Mittagessen über die Predigt unterhielten. Mama sagte: »Wir könnten uns wirklich öfter da sehen lassen.« Sie versprach sich etwas von »sehen lassen«."

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