04. August 2024
Notizen Karin. 1976, 1999, 2006, 2014, 2015, 2021, 2023. All die Jahre dazwischen sind vielleicht noch in Kartons auf einem Dachboden oder Keller (hoffe ich..) - oder entsorgt, weil der Wert (den sie nur für mich haben) nicht offensichtlich schien. Taschenkalender, Gratis-Zugaben, Werbegeschenke. Keine edlen Büchlein aus einer Papeterie.
Ich habe sie gestern aber in sehr edles Papier gebunden und beschriftet. Auf den ersten Blick banale, triviale Alltags-Notizen. Beim genaueren Hinsehen existentielle Dinge. In früheren Jahren waren es für sie auch kleine Haushaltsbücher, wo sie ihre Einkäufe und Ausgaben notierte. Damit hat sie in späteren Jahren aufgehört.
Dazwischen auf einmal eine private Notiz "Theater mit Hans". Und was er gesagt hatte. Da ging es nicht um ein gemeinsam besuchtes Theaterstück, sondern einen Streit, der sie so beschäftigt hatte, dass sie es festhielt. Was mich auch berührt, dass sie im September 1999 - ich glaube am 7. notierte: "1987 Urne Andi gekommen" Die Urne ihres Sohnes, meines Bruders, die überführt werden musste, da sein Autofunfall in der damaligen DDR passierte. Das Datum muss sich ihr so eingebrannt haben, dass sie es zwölf Jahre später einfach abrufen konnte und eintrug. Und darunter "Wäsche gew." und "nachmittags schön geregnet."
An anderer Stelle Kleinigkeiten wie "nachmittags herrliches warmes Wetter. Belians mit Rädern gekommen. Tranken außen Kaffee. Terrasse." Dann wieder eine Todesnotiz: "Tante Marie früh gestorben ca. 4.15 Krankenhaus." (Tante Marie... kannte ich sie?)
Und der Tod meines Vaters 2021, in ein neues kleines Notizheft, ließ sie den möglicherweise ersten Eintrag in dem ganzen Jahr machen. "Juni 2021. 7.6. Hans gestorben Nbg. Nordklinikum 6:30 Alles sehr schlimm! (...)" Im Anschluss an seinen Tod schrieb sie fortlaufend in das Heft, was im Zuge der Beisetzung geschah, auch wer da war oder verhindert war, wer Blumen geschickt hatte. Das half mir gestern beim Lesen noch einmal dabei, noch zwei weiteren Adressaten Trauerpost zu senden, die ich bisher gar nicht als nennenswerte Kontakte präsent hatte. Sie vermerkte auch immer exakt die Uhrzeiten, wann ich ankam oder wann wir telefonierten.
Ende 2022 erhielt sie als Weihnachtsgeschenk vom eng befreundeten Nachbarn einen neuen, großformatigen Notiz-Kalender für 2023. Darin hat sie nur ganze zwei Notizen gemacht. Ihre vielleicht letzte in einem Kalender, 9. Februar 2023, dass sie eine Unterschrift zur "Überlassung des Grundstücks" an ihren Enkel gemacht hatte. Vier Monate später hatten wir deswegen einen Termin beim Notar. Da konnte sie nicht selbst dabei sein. Ich musste dem auch zustimmen und reiste deswegen an, und wir besuchten sie danach, in ihrem letzten Zimmer. Ich hatte extra darum gebeten, den Termin auf ihren Geburtstag zu legen, was auch geklappt hatte.
Als ich die Büchlein gestern in feines Papier band, überkam mich Bedauern, dass ich ihr nie schöne Notizbücher geschenkt habe. Vielleicht dachte ich, das hätte sie ohnehin schon alles doppelt und dreifach und sie kann ja immer nur in eines schreiben. Oder mir war auch gar nicht bewusst, dass sie das immer noch pflegte. Ich hoffe, sie kriegt jetzt irgendwie mit, wie sehr ich ihre Notizen in Ehren halte.
Bei der Beisetzung meines Vaters vor drei Jahren, wir saßen in ihrer Küche, damals war sie noch in meinem Elternhaus, holte ich aus dem Fach in der Eckbank auch einen Notizkalender aus den Siebzigern, wo sie mir erlaubt hatte, auch einmal etwas hineinzuschreiben. Ich las es ihr vor. Sie lächelte. Und ich fragte sie auch, ob sie noch mehr solcher Kalender hat, weil es mich so sehr interessiert. Sie antwortete wahrscheinlich "ja, ja - bestimmt irgendwo." Für sie war das so eine alltägliche, beiläufige Sache wie Kaffeetrinken, nichts was sie als ein "Hobby" oder dergleichen bezeichnet hätte.
Aber für mich ist das jetzt wertvoller, als wenn in dem Karton eine goldene Halskette gewesen wäre. Viel, viel wertvoller. Diese knappen Notizen lösen einen Flashback nach dem anderen aus. Dinge, Namen, Orte, die ich längst vergessen hatte. Kindheitsbilder kommen hoch. Danke Mama für Deine kleinen Notizen, in denen Du mir so unendlich nah und gegenwärtig bist. Und immer bleibst.
g a g a - 4. August 2024, 16:19
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