05. April 2023
Was noch bemerkenswert, bedenklich, erwähnenswert war. Am Nachmittag gegen Drei vor der Haustür, wo meine Werkstatt ist. Am Baumstamm gegenüber der Tür, auf dem Gehsteig, lehnt hochkant ein alter, schmaler Heizkörper. Die Haustür steht auf. Ich mach sie zu. Gehe nach oben, ich höre Gerumpel. Zwei junge Männer wuchten ein Regal aus der Wohnung der alten Dame unter mir. Die Wohnungstür steht auf. Das ist kein Umzug. Hier wird ein Haushalt aufgelöst. Die alte Dame war sehr liebenswürdig, ich sah sie oft auf dem Balkon sitzen, und auch, dass sie schon etwas durchsichtig wirkte, filigran. Wir trafen uns selten im Treppenhaus, aber zuletzt hielten wir ein Schwätzchen. Sie dekorierte nämlich immer das Fensterbrett auf dem Treppenabsatz und ihre Eingangstür mit jahreszeitlichen Dekoteilen. Zu Weihnachten ein kleiner Elch und eine Schneekugel, Sterne. Zu Ostern eine kleine Schubkarre mit Ostereiern und ein Gießkännchen. Ganz süß. Die Sachen waren auf so einer kleinen Erhöhung in einer großen weißen Laterne arrangiert. Sie dekorierte mindestens vier mal im Jahr um. Aber zuletzt gar nicht mehr. Auf einmal war der Schrein weg. Ich dachte schon, sie ist nicht mehr in der Wohnung. Dann hörte ich vom Schornsteinfeger, dass sie krank wurde und zu ihrem Sohn ist. Keine Deko mehr vor der Tür. Jemand anders muss jetzt das Fensterbrett dekorieren, weil da ist immer noch welche. Als ich dann oben in meinem Atelier war, musste ich die Musik lauter aufdrehen, weil mich das Gerumpel traurig gemacht hat, die Vorstellung, dass da so ein Leben aufgelöst wird, die Hinterlassenschaften, Möbel auseinanderdividiert auf dem Sperrmüll landen oder sonstwo. Einfach so. Und ich überlegte, ob sie endgültig nicht wiederkommt, weil in einem Pflegeheim oder ob sie gestorben ist. Und es rumpelte weiter da unten. Und die Männer sahen so fröhlich aus. Ist ja Frühling. Sie können nichts dafür, ist ihr Job. Ich blieb gar nicht lang, rahmte nur zwei Bilder und fotografierte sie ab. Als ich die Treppe runterging, hing unten an der Wand gegenüber dem letzten Treppenabsatz eine Karte mit einer schnörkeligen Schrift. Ich holte die Brille aus der Tasche, ahnte schon, was es ist. An derselben Stelle, wo neulich die Todesanzeige von meinem Vermieter hing, war eine Trauerkarte angepinnt. Die alte Dame war gestorben. Am 13 März. Sie war am 21. November 1937 geboren. Also wurde sie fünfundachtzig. Das Datum der Beisetzung stand auch da, auf einem der Friedhöfe in der Nähe, dem St. Thomas-Friedhof, am 4. April um 10 Uhr. Also an dem Tag, wo ich es las. Aber es war schon Nachmittag. Ich überlegte, ob ich kurz zum frischen Grab gehe, aber das wäre ein Umweg gewesen, so ging ich zur U-Bahn und dachte immer wieder an sie. Und dass es niemals mehr Elch in der Laterne geben wird.
g a g a - 5. April 2023, 01:28
Sehr berührend geschrieben ❤️
Saskia Rutner
das habe ich auch so empfunden. Wunderschön und liebenswert, Gaga! Und traurig..💝