25. Mai 2021
Aus meinem goldenen Notizbuch XLI. 24. Mai 2021, auch Balkon.
Der Tod in Venedig. Im vergangenen Dezember bestellte ich mir dieses vermeintlich überaus bekannte Werk von Thomas Mann. Wenn ich es anderen gegenüber erwähnte, stellte sich meist heraus, dass viele den Titel kannten oder Viscontis Film gesehen hatten, daher zuweilen das Adagietto von Mahlers Fünfter damit verbinden konnten, jedoch das zugrundeliegende Buch nie gelesen hatten. Ebensowenig wie ich.
Eine private Konversation, in der ein Vergleich mit Aschenbach eine Rolle spielte, erweckte in mir den Wunsch der Lektüre. Als es angekommen war, verschönerte ich zunächst den mir zu schlicht erscheinenden Einband, der mir nicht angemessen erschien. Dann begann ich erwartungsfroh mit dem ersten Kapitel. Ich war enttäuscht, sehr enttäuscht. Und verärgert. Ich empfand unendlich viele Beschreibungen als unnötig verschachtelt, hölzern und umständlich, ja unvirtuos und erkennbar gedrechselt. Die Hauptfigur erschien träge, freud- und leblos. Aschenbach war noch lange nicht in Venedig, mir riss der Geduldsfaden. Dafür war ich nicht bereit, meine kostbare Lebenszeit zu opfern.
Ich war konsterniert und las zur Unterfütterung der Plausibilität meines Eindrucks, absichtsvoll Kritiken im unteren Bewertungsbereich, wo Unverständnis über die hohe Einstufung des Werkes geäußert wurde. Ich fühlte mich verstanden. Der Eindruck wuchs, dass es nicht das beste Werk von Mann zu sein schien, da einige Kritiken das Buch in Relation zu anderen Werken Manns setzten und es dabei nicht sehr gut abschnitt. Ich legte es beiseite und bedauerte, dass der von mir liebevoll verzierte Einband nicht mit dem Inhalt zu korrespondieren schien.
Dann aber ergab sich die Lektüre, die ich gestern beschrieb. Wälsungenblut war fünf Jahre früher entstanden und ich fand dort Gefallen an Manns Sprache, die mir in Wälsungenblut elegant und raffiniert und inspiriert erschien, ganz anders als jene ersten Seiten vom Tod in Venedig. Ich konnte mit dem empfundenen Gefälle nicht meinen Frieden machen. Nach einer Weile nahm ich das Buch erneut zur Hand und entschied, die mühseligen und mir unendlich ereignislos und langweilig erscheinenden Passagen bis zur Ankunft in Venedig zu ersparen. Ich blätterte vorwärts, bis Aschenbach am Lido eintrifft und es sich im Hotel kommod macht. Und siehe da, sobald die entscheidende Begegnung mit Tadzio stattgefunden hatte, bekam ich Lust weiterzulesen. Ab da überblätterte ich nichts mehr und fand an mehreren Passagen echten Gefallen. Sie versöhnten mich mit dem Buch. Ich will aus diesen Passagen zitieren.
S. 48
"(...) Oder war er einfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer Liebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren, Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen."
S. 82
"(...) Amor fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten. So dachte der Enthusiasmierte; so vermochte er zu empfinden. Und aus Meerrausch und Sonnenglast spann sich ihm ein reizendes Bild. Es war die alte Platane unfern den Mauern Athens, — war jener heilig-schattige, vom Dufte der Kirschbaumblüten erfüllte Ort, den Weihbilder und fromme Gaben schmückten zu Ehren der Nymphen und des Acheloos. Ganz klar fiel der Bach zu Füßen des breitgeästeten Baums über glatte Kiesel; die Grillen geigten. Auf dem Rasen aber, der sanft abfiel, so, daß man im Liegen den Kopf hoch halten konnte, lagerten Zwei, geborgen hier vor der Glut des Tages (...)"
S. 107
"(...) Aschenbach saß an der Balustrade und kühlte zuweilen die Lippen mit einem Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im Glase funkelte. Seine Nerven nahmen die dudelnden Klänge, die vulgären und schmachtenden Melodien begierig auf, denn die Leidenschaft lähmt den wählerischen Sinn und läßt sich allen Ernstes mit Reizen ein, welche die Nüchternheit humoristisch aufnehmen oder unwillig ablehnen würde."
Der Tod in Venedig. Im vergangenen Dezember bestellte ich mir dieses vermeintlich überaus bekannte Werk von Thomas Mann. Wenn ich es anderen gegenüber erwähnte, stellte sich meist heraus, dass viele den Titel kannten oder Viscontis Film gesehen hatten, daher zuweilen das Adagietto von Mahlers Fünfter damit verbinden konnten, jedoch das zugrundeliegende Buch nie gelesen hatten. Ebensowenig wie ich.
Eine private Konversation, in der ein Vergleich mit Aschenbach eine Rolle spielte, erweckte in mir den Wunsch der Lektüre. Als es angekommen war, verschönerte ich zunächst den mir zu schlicht erscheinenden Einband, der mir nicht angemessen erschien. Dann begann ich erwartungsfroh mit dem ersten Kapitel. Ich war enttäuscht, sehr enttäuscht. Und verärgert. Ich empfand unendlich viele Beschreibungen als unnötig verschachtelt, hölzern und umständlich, ja unvirtuos und erkennbar gedrechselt. Die Hauptfigur erschien träge, freud- und leblos. Aschenbach war noch lange nicht in Venedig, mir riss der Geduldsfaden. Dafür war ich nicht bereit, meine kostbare Lebenszeit zu opfern.
Ich war konsterniert und las zur Unterfütterung der Plausibilität meines Eindrucks, absichtsvoll Kritiken im unteren Bewertungsbereich, wo Unverständnis über die hohe Einstufung des Werkes geäußert wurde. Ich fühlte mich verstanden. Der Eindruck wuchs, dass es nicht das beste Werk von Mann zu sein schien, da einige Kritiken das Buch in Relation zu anderen Werken Manns setzten und es dabei nicht sehr gut abschnitt. Ich legte es beiseite und bedauerte, dass der von mir liebevoll verzierte Einband nicht mit dem Inhalt zu korrespondieren schien.
Dann aber ergab sich die Lektüre, die ich gestern beschrieb. Wälsungenblut war fünf Jahre früher entstanden und ich fand dort Gefallen an Manns Sprache, die mir in Wälsungenblut elegant und raffiniert und inspiriert erschien, ganz anders als jene ersten Seiten vom Tod in Venedig. Ich konnte mit dem empfundenen Gefälle nicht meinen Frieden machen. Nach einer Weile nahm ich das Buch erneut zur Hand und entschied, die mühseligen und mir unendlich ereignislos und langweilig erscheinenden Passagen bis zur Ankunft in Venedig zu ersparen. Ich blätterte vorwärts, bis Aschenbach am Lido eintrifft und es sich im Hotel kommod macht. Und siehe da, sobald die entscheidende Begegnung mit Tadzio stattgefunden hatte, bekam ich Lust weiterzulesen. Ab da überblätterte ich nichts mehr und fand an mehreren Passagen echten Gefallen. Sie versöhnten mich mit dem Buch. Ich will aus diesen Passagen zitieren.
S. 48
"(...) Oder war er einfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer Liebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren, Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen."
S. 82
"(...) Amor fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten. So dachte der Enthusiasmierte; so vermochte er zu empfinden. Und aus Meerrausch und Sonnenglast spann sich ihm ein reizendes Bild. Es war die alte Platane unfern den Mauern Athens, — war jener heilig-schattige, vom Dufte der Kirschbaumblüten erfüllte Ort, den Weihbilder und fromme Gaben schmückten zu Ehren der Nymphen und des Acheloos. Ganz klar fiel der Bach zu Füßen des breitgeästeten Baums über glatte Kiesel; die Grillen geigten. Auf dem Rasen aber, der sanft abfiel, so, daß man im Liegen den Kopf hoch halten konnte, lagerten Zwei, geborgen hier vor der Glut des Tages (...)"
S. 107
"(...) Aschenbach saß an der Balustrade und kühlte zuweilen die Lippen mit einem Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im Glase funkelte. Seine Nerven nahmen die dudelnden Klänge, die vulgären und schmachtenden Melodien begierig auf, denn die Leidenschaft lähmt den wählerischen Sinn und läßt sich allen Ernstes mit Reizen ein, welche die Nüchternheit humoristisch aufnehmen oder unwillig ablehnen würde."
g a g a - 25. Mai 2021, 23:41
Das wirklich – p o e t i s c h-wirklich – Interessante am Tod in Venedig ist, daß viele Sätze tatsächlich gestellt, bisweilen sogar allzu geziert sind und, wie oft bei Mann, ein Bildungshintergrund nicht nur verwendet (was richtig und notwendig ist), sondern auch ausgestellt wird, nämlich bezeichnet im Sinn von „schauen Sie her, wie gelehrt ich bin“; es gibt also wahrhaftig Gründe genug, von dieser Novelle genervt zu sein. Hat man sie aber gelesen und das Bücherl wieder zugeschlagen, vergeht zwar vielleicht einige Zeit, doch dann, immer wieder, steigen ihre Atmosphäre, ihre Dringlichkeit (Aschenbachs – nämlich Manns selber – pädophile Not) und vor allem Schönheiten in einem (und, ecco, einer) auf, die lebenslang halten – nicht unähnlich Erinnerungen an Kindheit, da wir über die heutige Verbalisierungsfähigkeit noch nicht verfügten, ja sie nicht im entferntesten hatten. Will sagen: Manns Dichtung schreibt sich – anfangs unspürbar – in unser Unter- und Unbewußtes ein, und es ist sehr wohl möglich, daß unsere Widerstände gegen die Novelle daran einigen Anteil haben. – Ich bin mir bis heute nicht darüber klar, ob dieses subversiv psychische Geschehen von Mann poetisch kalkuliert worden ist; falls ja, zeugte es von einer ästhetisch genialen Methodik; falls nein, davon, daß eine Erzählung, hat sie nur Bedeutung genug, sich selbst ermächtigt, in uns zu bleiben. Beides, je für sich, wärer ein – Wunder.
GAGA NIELSEN 26. MAI 2021 UM 9:32
Kann ich alles sehr gut nachvollziehen. Ich habe den Eindruck, Mann war ganz nah an seinem Talent und innersten Kern, wenn er sich dem hingab, was man heute „flow“ nennt, das sind seine großen Momente. Ich vermute aber auch, dass die auf mich eher hölzern und auch wie hart erarbeitet wirkenden Passagen, die nicht so recht in den Fluss kommen wollen, seiner auferlegten Arbeitsdisziplin geschuldet sind. An manchen Bildern und Szenen scheint er sich unendlich abzuarbeiten, es will sich keine Eleganz im Satzbau einstellen. Und dann fließt es auf einmal und man ist nur noch ergriffen.
Volker Ludewig
Aschenbach wäre heute ein Prenzlberger Bi-Papa, der nie seine Prostata gefunden hat. Darauf eine Granatapfelschorle.
Gaga Nielsen
ich denke, Aschenbach würde heute in Schöneberg leben 😉
Eher noch in Friedenau. Oder er hätte eine kleine Villa in Dahlem.
Gaga Nielsen
Ja, auch das passte zu unserem heutigen Aschenbach, aber er würde sich sehr gut auskennen in Schöneberg! Er lebt ja auch in den Nächten und möchte Kontakte pflegen.
Verklärt Ihr ruhig... 😁
Gaga Nielsen
....wo seh ich (unangemessen) rosé?
Es war in Schöneberg im Monat Mai! 😁