16. Mai 2020

Gestern empfing ich diese Postkarte. Ich nahm sie wie immer ohne Lesebrille aus dem Postkasten und versuchte etwas zu erkennen. Die Schrift kam mir schon bekannt vor. Das Motiv, ein Gemälde, hielt ich vermutend für ein Bild von Degas, der ja bekanntlich zwei Lieblingsthemen hatte: Szenen aus der Welt des klassischen Tanzes und Damen im Badezimmer mit einem Frotteetuch oder Leinentüchlein, oder womit man sich eben früher abgetrocknet hat. Ich meinte hier eine Ballettszene zu erkennen, im linken Bereich zwei, drei Tänzerinnen im weißen Tütü und ganz links einen männlichen Zuschauer. Rechts eventuell die Bühnenrampe und weiteres Publikum. Oben in meiner Wohnung angelangt, setzte ich die Brille auf die Nase. Das Bild wurde kaum deutlicher. Ich war einerseits erfreut, dass sich das Motiv kaum geändert hatte, andererseits machte ich mir Gedanken, warum ich mir mittlerweile eine so ausgeprägte Seh-Unfähigkeit ohne Lese-Brille bescheinige.

Tatsächlich ist das Bild keineswegs von Degas, sondern von einem anderen durchaus renommierten Maler mit dem Namen Heinz Kreutz, den ich noch nicht kannte. Das Bild heißt "Hymne an das Licht, Violettes Bild" und ist aus dem Jahr 1958. Es handelt sich somit um keine Szene mit Tänzerinnen im Tüllröckchen, sondern um eine abstrakte Komposition. Ich habe dann etwas über den Maler recherchiert und festgestellt, dass er in ganz extrem unterschiedlichen Stilen gemalt hat. Es finden sich sehr viele streng grafische Motive mit klar abgegrenzten Farbflächen. Man würde nicht denken, dass es sich um denselben Maler handelt, der diese Komposition gemalt hat. Wirklich interessant - ich finde es sehr schön, auf mir bislang unbekannte Künstler gestoßen zu werden.

Ursprünglich wollte ich diesmal kein Foto von mir mit Postkarte machen, das kann in der Fülle auch etwas aufdringlich wirken, aber dann hat mich ein netter Kommentar bestärkt, dass es vielleicht doch schön für jemanden ist, der mir eine Karte geschickt hat, wenn ich den Erhalt mit einem Bild würdige. Ich zitiere mal aus meiner Antwort auf den Kommentar:
"Die Idee mit den Kartenfotos habe ich ein bißchen von Erpresserfotos von Entführten geklaut, die eine aktuelle Tageszeitung in die Kamera halten, als Beweis, dass sie den Tag, an dem die Zeitung erschienen ist, noch erlebt haben. Heute ist das ja kein Beweis mehr, wo sich alles digital hinbasteln lässt. Aber ich betone, dass es sich bei meinen Fotos nicht um Fotomontagen handelt. Ich lebe noch, und diesen Kommentar verfasst nicht mein körperloser Geist. Lange hatte ich ja gar keine Fotos von mir erstellt, aber in dieser besonderen Zeit kommt es mir doch hilfreich vor, um meinen Freunden zu zeigen, wie es auch in dieser Hinsicht um mich steht. Ich habe mich seit Ende Februar mit Niemandem privat getroffen."
g a g a - 16. Mai 2020, 02:43
16. Mai 2020 um 5:19
Eine wirklich feine Zuschrift!
arboretum
16. Mai 2020 um 11:57
Diese Beweisfotos mit Postkarte haben gleich mehrere Vorzüge, finde ich. Sie beweisen nicht nur, dass Sie noch leben, sondern auch, dass die Post einwandfrei arbeitet. Nicht zuletzt mögen sie vielleicht den ein oder anderen animieren, ebenfalls eine Karte zu schreiben.
Was ich aber an dem Ganzen doch sehr apart finde, ist die Vermählung von digitaler und analoger Kommunikation. Hochzeit von Bütten und Internet. Das macht die Welt ein bißchen vollkommener, wie ich finde. Its a match!
;-)