25. Februar 2020
Heute Abend in der U 8 zwischen Hermannstraße und Weinmeisterstraße: drei bis vier Italienerinnen mittleren Alters (35 - 55) steigen zu, eine kollidiert mit meinem am Boden stehenden, an meine Bank angelehnten, gut in braune Pappe verpackten und verschnürten Bild im Format 70 x 70. Sie beugt sich zu dem Objekt, schaut es an, als wäre es ein Lebewesen und spricht voller Mitgefühl zu ihm: "Ooh, mi scusi, mi scusi!", begleitet von einer liebevollen Streicheleinheit. Mich hat sie dabei gar nicht angeschaut. Ich musste grinsen. Zwei Haltestellen später steigt ein dänisch sprechendes, sportlich und kultiviert wirkendes und groß gewachsenes Pärchen ca. Anfang Sechzig zu, nimmt auf der U-Bahn-Bank mir gegenüber Platz. Ich lese während der ganzen Fahrt ("Der Concierge: Vom Glück, für andere da zu sein" von Jürgen Carl, herzerwärmend). Dabei achte ich darauf, dass das Bild nicht kippelt und einigermaßen sicher an meiner Bank lehnt, halte es mit meinem linken Unterarm, der auf der Oberkante der Kartonverpackung wie auf einer Lehne ruht. Dann blättere ich das Buch schnell mit zwei Händen um, das Bild schwankt und fällt gegen die nebenliegende Sitzbank, kleiner Aufprall. Das dänische Pärchen unterbricht die angeregte Unterhaltung, starrt das gekippte Bild an, beide (vor allem sie): "Ohhh!!!!..!!!" Als könnte ein erheblicher Schaden entstanden sein, eine Verletzung, man rufe den Notarzt! Ich muss wieder grinsen, lache beinah, und winke beschwichtigend ab (weil ich weiß, wie bombensicher gepolstert und bruchsicher ich es verpackt habe), hole mit der linken Hand die gekippte Bildkante wieder zu mir und freue mich über dieses bemerkenswerte Mitgefühl meinem Päckchen gegenüber, von dem ja keiner genau weiß, was darin ist, nur ich weiß es. Noch nie hat jemand das Bild gesehen. Ich frage mich, ob es womöglich ein Eigenleben und eine Ausstrahlung hat, die sich geheimnisvoll durch den dicken Verpackungskarton arbeitet. Ich bekomme ein bißchen Respekt vor dem Bild. Morgen wird es wieder transportiert, diesmal von Mitte nach Charlottenburg. Ich berichte, sollten sich weitere Kollisionen und Unfälle begeben (sowie Mitgefühl).
g a g a - 24. Februar 2020, 00:07
26. Februar 2020 um 9:07
„Noch nie hat jemand das Bild gesehen.“
Das klingt aber jetzt sehr mystisch. Hat dieses Bild gar magische Kräfte, die es beim Ansehen entfaltet? Wird der Betrachtende verwandelt? Was hat es mit Dir gemacht, die es bereits gesehen hat? Ist es so gut verpackt, um die Menschen vor seiner Wirkung zu schützen?
Gaga Nielsen
28. Februar 2020 um 2:38
am folgenden Tag, als ich es wieder transportierte (unverändert verpackt), machte mir eine junge Frau in der überfüllten S-Bahn Platz für eine geschützte Ecke für mein Paket, wo sie vorher gut stand. Ich bat sie nicht darum. In Charlottenburg habe ich es ausgepackt und zuerst auf dem Boden in einem Raum angelehnt. Dann kamen Menschen daran vorbei und blieben stehen und nahmen möglicherweise telepathischen Kontakt auf. Ich war wieder nur Beobachterin. Dann habe ich es unbeobachtet gehängt. Es ist die erste Hängung von vielen weiteren. Das Bild ist ein Pionier und weniger wegen des Motivs bedeutungsvoll, als viel mehr wegen der neuartigen Reise, die es hinter sich hat. Ein Wegbereiter. Es hat ein 3-D-Format, sprich der Bildträger hat eine Tiefe von ca. 6 cm. Es ist vor allem weiß und matt gekalkt und weitere Elemente sind verchromt, auch etwas Gold kommt vor.
Ich kann deine konkreten Fragen nicht konkret beantworten. Ich weiß nicht, was die Bilder aus meiner Hand mit mir machen, wenn sie fertig sind. Meistens lebe ich einfach innig mit ihnen und sie führen mir materialisierte Zeit vor Augen. Lebensstunden, die ich mit ihnen verbracht habe. Sie stiften Sinn für mich, weil ich mich gerne von ihnen instrumentalisieren ließ und es seither etwas in der Welt gibt, das vorher nicht existierte.
(Das Bild heißt transition)
28. Februar 2020 um 11:11
Oh, so habe ich das noch nie betrachtet. Ich komme ja aus einer Kunstrichtung, die nicht greifbar ist. Im Augenblick ihres Entstehens ist sie bereits wieder vergangen. Bestenfalls entsteht beim Zuhörer etwas, das zwar nicht greifbar aber möglicherweise anhaltend ist. Ein Gefühl, ein Eindruck, eine Offenbarung, ein Erlebnis mit in die Zukunft weisendem Veränderungspotential. Ich kann mich erinnern, wie mich so manches Werk prägte und ich das ein oder andere Stück danach nie wieder hören wollte, weil es mich so unfassbar beeindruckt hat.
In der bildenden Kunst ging mir das ein oder zweimal im Museum ebenso. Das sind sehr feine Momente, die es sich zu erinnern lohnt. Die Werke konnte ich natürlich nicht verpacken und mitnehmen. Aber wer weiß, vielleicht wäre der Moment auch nicht reproduzierbar gewesen, weil das Bild nur Auslöser oder Trigger war und wie ein Samen auf den fruchtbaren Boden des momentanten Gefühls- und Erfahrungzustands fiel. Wer weiß das schon?
Gaga Nielsen
28. Februar 2020 um 23:46
Musik kann sehr greifbar sein, wenn sie im Tonstudio oder durch einen Mitschnitt verewigt wurde, und auch durch die Erinnerung natürlich… Ich finde es unfassbar phantastisch, dass man noch endlos nach dem Ableben eines Musikers oder virtuosen Sängers, dessen hervorragende Fähigkeit in derselben Form genießen kann, als hätte er oder sie die Aufnahme gerade vor wenigen Wochen gemacht und wäre noch unter den Lebenden. Für immer jung bleiben die Künste. Als Tondokument, als Filmdokument, als bildende Kunst oder Gedichtband, ein furioses architektonisches Meisterwerk, Kunstgewerbe auch, Mode. Die verewigten Künste sind das Schönste, was ein Mensch den anderen Menschen hinterlassen kann. Und wirklich am allertiefsten und nachhaltigsten berührt die Musik. Bildende Kunst kann aber ganz hervorragend auf einem schnellen direkten Weg die Tür zu einer anderen Perspektive auf die Welt, Welten öffnen, Déja Vus auslösen, so visionär wie experimentelle Klänge. Sie kann auch sentimental und emotional sein, die bildende Kunst, aber häufiger erlebe und verbinde ich damit ein visionäres Erleben, das Aufbruch ist, Zukunft und Hoffnung, nicht so sehr elegisch. Alle Künste sind wunderbar, man muss ihnen sehr viel Bedeutung und Zeit schenken, dann hat man eine gute Ausgangsposition, das Leben zu genießen.