30. April 2018
Durch mehrere Anmerkungen über ihre Begegnungen mit Gustav Mahler kam ich auf Berta Zuckerkandl und ihr Buch "Österreich Intim";, das ich gerade unterwegs lese. Hier Auszüge aus dem Kapitel über Stefan Zweig
»STEFAN ZWEIG 1915 – 1929 Es wäre für die Leser dieses Tagebuchs verlockend, Intimes aus dem Leben eines der meistgelesenen Autoren zu erfahren. Doch hier fühle ich eine unüberwindliche Hemmung; ich bin mit Stefan Zweig seit 1915 befreundet und würde gern von ihm erzählen, doch ist es mir, als stünde ich da plötzlich vor einer verbotenen Tür. Stefan Zweig hatte sich mit einem Stacheldraht umgeben, der den Zugang zu seinem Inneren verwehren soll. Seine beinahe krankhafte Scheu vor jeder Berührung mit der Außenwelt grenzte an Neurasthenie*. Wenn ich Begegnungen, Gespräche, Worte, die ich nicht vergessen habe, hier aufzeichnen wollte, würde Zweig dies als ein brutales Zerreißen des Stacheldrahtes empfinden. Und doch: Beim Rückblick auf Österreichs Geisteswelt kann man an diesem hervorragenden Repräsentanten nicht vorübergehen. Leider muss man alles Persönliche, das eigentlich für ein Porträt Stefan Zweigs unentbehrlich wäre, ausschalten. (...)
Die Frage nach den Widersprüchen im Wesen Stefan Zweigs beschäftigte mich schon seit Jahren. Ich stellte sie einem Freund, mit dem ich in Briefwechsel stand und dessen Urteil mir wertvoll ist. Er antwortete mir nach einiger Zeit.
Liebe Freundin,
es ist vermessen und gefährlich, in die Seele eines schöpferischen Geistes eindringen zu wollen. Da kann einem allerhand Ungemütliches begegnen. Sprechen wir lieber von anderen Dingen. Ich habe unser letztes Gespräch nach der Vorstellung des Burgtheaters nicht vergessen. Sie erzählten mir von Ihrem Freund, dem berühmten französischen Schauspieler, der am Abend seines Auftretens gleichgültig in der Garderobe sitzt, Patiencen legt, ein billet doux** beantwortet, Witze erzählt – und eine Minute später auf der Bühne die erschütterndste Wirkung erzielt. Der ebenso große Wiener Darsteller dagegen hatte gerade an dem Abend, als unser Gespräch stattfand, seltsam versagt, wie es schon öfter geschehen war. Dabei verbringt er den ganzen Tag vor seinem Auftritt in tiefer Selbstversenkung. Nun: seine Wirkung war unsicherer, abhängiger von unberechenbaren Störungen der Außenwelt als die des französischen Kollegen, der sozusagen auf kaltem Weg den Siedepunkt erreicht. So geht es auch großen Dichtern. Es gibt solche, die sich ihre Geschöpfe aus dem Herzen reißen, mit ihnen Qualen leiden, an ihnen zugrunde gehen, die an ihrem Werk verbrennen – wie Hofmannsthal... Und solche, die ihre Geschöpfe sozusagen sezieren, um sie dann durch geistige Einsicht wiedererstehen zu lassen. Ein Dichter dieser Art steht über seinen Gestalten und er verbrennt auch nicht an Ihnen. Doch es mag sein, dass er durch sie auf andere Weise zugrundegeht.
Vielleicht habe ich nun Ihre Frage irgendwie beantwortet.
Ihr B. «
*) Neurasthenie wird im Deutschen häufig als „reizbare Schwäche“ bezeichnet. Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht.
**) Das Billet-doux (französisch billet doux ‚Liebesbrief‘, wörtlich etwa ‚süßer Zettel‘) war im 17., 18. und im 19. Jahrhundert ein kurzes Schriftstück, das dazu diente, unauffällig eine Liebeserklärung an eine Person abzugeben.
»STEFAN ZWEIG 1915 – 1929 Es wäre für die Leser dieses Tagebuchs verlockend, Intimes aus dem Leben eines der meistgelesenen Autoren zu erfahren. Doch hier fühle ich eine unüberwindliche Hemmung; ich bin mit Stefan Zweig seit 1915 befreundet und würde gern von ihm erzählen, doch ist es mir, als stünde ich da plötzlich vor einer verbotenen Tür. Stefan Zweig hatte sich mit einem Stacheldraht umgeben, der den Zugang zu seinem Inneren verwehren soll. Seine beinahe krankhafte Scheu vor jeder Berührung mit der Außenwelt grenzte an Neurasthenie*. Wenn ich Begegnungen, Gespräche, Worte, die ich nicht vergessen habe, hier aufzeichnen wollte, würde Zweig dies als ein brutales Zerreißen des Stacheldrahtes empfinden. Und doch: Beim Rückblick auf Österreichs Geisteswelt kann man an diesem hervorragenden Repräsentanten nicht vorübergehen. Leider muss man alles Persönliche, das eigentlich für ein Porträt Stefan Zweigs unentbehrlich wäre, ausschalten. (...)
Die Frage nach den Widersprüchen im Wesen Stefan Zweigs beschäftigte mich schon seit Jahren. Ich stellte sie einem Freund, mit dem ich in Briefwechsel stand und dessen Urteil mir wertvoll ist. Er antwortete mir nach einiger Zeit.
Liebe Freundin,
es ist vermessen und gefährlich, in die Seele eines schöpferischen Geistes eindringen zu wollen. Da kann einem allerhand Ungemütliches begegnen. Sprechen wir lieber von anderen Dingen. Ich habe unser letztes Gespräch nach der Vorstellung des Burgtheaters nicht vergessen. Sie erzählten mir von Ihrem Freund, dem berühmten französischen Schauspieler, der am Abend seines Auftretens gleichgültig in der Garderobe sitzt, Patiencen legt, ein billet doux** beantwortet, Witze erzählt – und eine Minute später auf der Bühne die erschütterndste Wirkung erzielt. Der ebenso große Wiener Darsteller dagegen hatte gerade an dem Abend, als unser Gespräch stattfand, seltsam versagt, wie es schon öfter geschehen war. Dabei verbringt er den ganzen Tag vor seinem Auftritt in tiefer Selbstversenkung. Nun: seine Wirkung war unsicherer, abhängiger von unberechenbaren Störungen der Außenwelt als die des französischen Kollegen, der sozusagen auf kaltem Weg den Siedepunkt erreicht. So geht es auch großen Dichtern. Es gibt solche, die sich ihre Geschöpfe aus dem Herzen reißen, mit ihnen Qualen leiden, an ihnen zugrunde gehen, die an ihrem Werk verbrennen – wie Hofmannsthal... Und solche, die ihre Geschöpfe sozusagen sezieren, um sie dann durch geistige Einsicht wiedererstehen zu lassen. Ein Dichter dieser Art steht über seinen Gestalten und er verbrennt auch nicht an Ihnen. Doch es mag sein, dass er durch sie auf andere Weise zugrundegeht.
Vielleicht habe ich nun Ihre Frage irgendwie beantwortet.
Ihr B. «
*) Neurasthenie wird im Deutschen häufig als „reizbare Schwäche“ bezeichnet. Neurasthenie gehörte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht.
**) Das Billet-doux (französisch billet doux ‚Liebesbrief‘, wörtlich etwa ‚süßer Zettel‘) war im 17., 18. und im 19. Jahrhundert ein kurzes Schriftstück, das dazu diente, unauffällig eine Liebeserklärung an eine Person abzugeben.
g a g a - 30. April 2018, 10:31
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