12. Dezember 2015



Mein ekstatischster Moment in dieser Woche war die Ekstase eines anderen Menschen. Ich ging am Abend die Gipsstraße entlang, Richtung Joachim, von der Rosenthaler Straße kommend. Es war längst dunkel, vielleicht neunzehn Uhr. Die Straßenlaternen und Schaufenster leuchteten. Kurz bevor man rechts in die Joachimstraße abbiegen kann, gibt es auf der rechten Seite in der Gipsstraße ein Turnschuhgeschäft. Nur Leute meiner Generation oder älter, reden von Turnschuhen, ich weiß. "Sneakers" wird heute bevorzugt gesagt, sonst wirkt man altbacken, das möchte man natürlich nicht. Jedenfalls ist dieses Turnschuhgeschäft sehr modisch und wirkt nicht wie ein Laden für Sportartikel. Es ist mehr so eine Anlaufstelle für modebewusste Leute, die extravagante Turnschuhmodelle als Accessoire betrachten und vielleicht auch besondere Modelle sammeln. Wie heißt der Laden bloß. Ich war sogar schon einmal drin und habe Turnschuhe gekauft, die mir schon mindestens vier oder fünf mal beim Vorbeilaufen im Schaufenster aufgefallen waren. Ich bin rein, habe sie anprobiert und gekauft. Und zwei Tage später war ein Artikel in der Daily Mail mit einem Foto von Mick Jagger, wie er bei einer bekannten jungen Sängerin als Gast bei ihrem Konzert erscheint - wer war die junge Frau - Taylor Swift glaube ich, die wird ja sehr umjubelt, derzeit - und er sang also ein Duett mit ihr und er hatte meine Turnschuhe an! Aber das wollte ich doch überhaupt nicht erzählen. Das war nicht mein ekstatisches Erlebnis aus zweiter Hand, ist ja auch viel länger her. Sicher wollen Sie jetzt wissen, welche Schuhe das sind, die Mick Jagger und ich neulich gekauft haben - Moment - - - Hier, bitte beachten Sie die Sohle. Und hier eine Art Aufnahme von mir mit dem gleichen Modell. Nun sollte man vielleicht auch noch die Mühe investieren herauszufinden, wie der Laden heißt, an dem ich immerhin jeden Tag mindestens ein- bis zweimal vorbeilaufe. Also gut, ich google auch das. Moment - - - oh - die sind ja auch toll - - - uh - , ja also dieses Geschäft. Aber was ich doch eigentlich vermitteln wollte, war: ich laufe gestern an diesem Schaufenster vorbei und gucke so halb hin, alles wieder sehr schön präsentiert, auf eine unsportliche Art dekoriert, die auch mich anspricht, man hat mehr den Eindruck von einem stylishen Schuhgeschäft mit eben sehr hip präsentierter Auslage. Das habe ich schon durchaus realisiert. Aber dann kommt ein Mann - wahrscheinlich jünger als ich (so Väter von jüngeren Kindern sind ja überwiegend jünger als ich) mir entgegen, und noch irgendein Erwachsener, ich glaube, ein anderer Mann, und ein Kind, ein Mädchen, ungefähr zwischen sieben und neun Jahren alt. Grob geschätzt. Man schlendert so einher, als das Mädchen plötzlich einen ekstatischen Schrei ausstößt. Jedes andere Adjektiv wäre untertrieben. Es war so ein Laut, den man bei erwachsenen Menschen einem orgiastischen Erleben zuordnen würde. Bei Kindern nennt man das dann eher verniedlichend "jauchzen". Also das Kind hat demzufolge einen Jauchzer von sich gegeben. Gefolgt von dem fassungslos begeisterten Ausruf: "ROT!!! COOOOL!!!!!". Ja, ja. Sicher doch, das Schaufenster war mit roten Lampen beleuchtet, es war also rot ausgestrahlt. Unsereiner, wir Älteren, gehen da ganz cool und unberührt darüber hinweg, aber so eine Sieben- oder Acht- oder Neunjährige, der ist das göttliche Bewusstseinsstadium noch nicht abhanden gekommen, dass ein rot ausgeleuchtetes Schaufenster mit Turnschuhen, das Potenzial in sich trägt, über die Schönheit der Farbe Rot in einen Freudentaumel zu geraten. Und das meine ich ohne jede Ironie. Ich habe das Gesicht des kleinen Mädchens gesehen. Man kann nur von Verzückung sprechen. Und ich habe auch das Gesicht des Vaters gesehen. Im ersten Moment irritiert, dann sehr amüsiert. Am Ende beglückt. Er fing an zu kichern, so mäandernd in Richtung quieken. Er wusste in dem Moment wieder, dass dieses Kind an seiner Seite, durch seine ewig neue Betrachtung der Welt, ein beständiger Denkzettel ist, die Welt eben wie neu zu betrachten, immer wieder neu. Ich war zwar nun nicht gerade perplex, aber gleichwohl erfreut. Es war eine reine Freude. Ein wirklich schöner Moment. Und im Grunde ein Gottesdienst. Was ich mir darunter vorstelle. Aufregendes, rotes elektrisches Licht in einem Schaufenster mit tief empfundener Begeisterung zu ehren. Das Glück, zu sehen. Das Glück zu sehen.

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