25. Dezember 2014






Durch den Regen ohne Regenschirm, zum Griensteidl. Vom Hofburghof durchs Michaelertor, quer über den Michaelerplatz, zum Palais Herberstein. Da wo eine brünette Wiener Lili Marleen an der Laterne steht, mit blutrotem Barett. Schon mal gehört "Griensteidl". Gesehen sowieso, ich war ja nicht zum ersten mal am Michaelerplatz, sondern zum zweiten Mal. Schon eine Profi-Touristin! Und als solche kann man auch einmal vor dem Regen ins Griensteidl flüchten. Das nehme ich gerne noch mit. Also wir. Schön warm drin, kaffeehausmäßige Möblierung, wie man es sich ungefähr vorstellt. Eine ältere Dame, die Bedienung für unseren kleinen Tisch, nah der Eingangstür mit Blick auf die rechte Kuppel vom Michaelertrakt (wenn ich mich umdrehe), nimmt patent die Bestellung auf. Sie wirkt, als ob sie zum Inventar gehört und kurz vor der Rente steht. Ganz unwienerisch bestelle ich einen Irish Coffee, weil ich Lust auf ein bißchen Alkohol, aber auch Kaffee habe. Dem Kaffee "Maria Theresia" traue ich da noch nicht ganz, weil er mit einem Orangenlikör gemacht ist und ich keine Freundin von Likören außer Eierlikör bin. Duke bestellt einen Gespritzten. Überhaupt bestellt er recht wenig Kaffee, wenn wir in Kaffeehäusern sind, fällt mir auf. Ich schaue mich um und habe es mittlerweile ausgefuchst heraus, ohne geringstes Aufheben (der Kamera) ein Potpourri von Bildern zu machen, die sich nicht nur auf den Radius unserer marmornen Tischplatte erstrecken. In der Getränkekarte habe ich fasziniert und auch ein bißchen überrascht von der beeindruckenden Geschichte des Kaffeehauses gelesen, wer so alles aus- und eingegangen ist. Und ein bißchen bin ich innerlich verwundert, dass davon eigentlich nichts in der Atmosphäre zu liegen scheint. Es wirkt gutbürgerlich aufgeräumt und eher patinafrei, ein Café für adrette ältere Damen und Herrschaften und Hofburg-Reisende aus aller Herren Länder. Aber dass hier einmal Karl Kraus vor sich hingedacht haben soll, will sich mir nicht so ganz erschließen. Offenbar gab es grundlegende Renovierungen, denke ich noch, und die feudale Lage wird im Laufe der Jahrzehnte, um nicht von Jahrhunderten zu reden, zu einer Modifikation des Publikums geführt haben. Vielleicht war es früher ja einfach bohèmehafter und erschwinglicher und hat Künstler und Literaten angezogen. Es ist so ein ähnliches Gefühl, wie es mich beim Café Central beschlichen hat. Ich kann mir beim Griensteidl beim besten Willen nicht vorstellen, dass man mehrere Stunden dort verbringt und dabei gar ein Roman Gestalt annimmt.




Auch ist Rauchen nicht gestattet. Das läuft dem ja schon allein zuwider. Ein echter Literat neigt zum Tabak. Ich sehe das immer gerne. Obwohl ich selber selten rauche. Mir gefällt aber das Ritual, gerade im Kaffeehaus. Die Gedanken müssen sich in kreisförmigen Rauchwölkchen unter den kugeligen Milchglas-Lampen auflösen dürfen. Mein alkoholisierter irischer Kaffee hat gut geschmeckt und ich habe mich derweil an dem Anblick des zeitungslesenden Herrn mit den grauen Schläfen gefreut, der sich die ganze Zeit als vollendetes Klischee-Kaffeehaus-Motiv in meiner Sichtachse befunden hat. Mit großer Ruhe und Konzentration hat er die Zeitung studiert. Nachdem wir alle Eindrücke in uns aufgenommen hatten, und die Getränke so gut wie getrunken waren, kam ungerufen unsere patente Bedienung und hat mit humoriger Ansprache angekündigt, dass sie abkassieren muss, weil sie Schichtende hat. Leider kann ich mich überhaupt nicht an den genauen Wortwechsel erinnern, aber daran, dass wir uns amüsiert haben. Man kann sagen, die Dame hatte Mutterwitz. Es hat schon gepasst, mit dem Abkassieren, weil dann auch stark der Abend dämmerte und ich innerlich schon woanders unterwegs war.





Ich wollte an dem allerletzten Abend noch eine richtige Kaffeehaus-Legende besuchen, also eine spürbare. Das Griensteidl war ja nicht großartig geplant, es lag so schön da. Und nun, ein gutes halbes Jahr später, daheim in Berlin, begreife ich, warum ich die in der Getränkekarte erwähnte, traditionsschwangere Geschichte des Griensteidl so gar nicht fühlen konnte. Im Planet Vienna stehen immer recht unverblümte Dinge, stelle ich fest. Denn dort lese ich:




"Fast hundert Jahre war das Café Griensteidl verschwunden und vergessen, bis es 1990 im Palais Herberstein wiedereröffnet wurde. Ähnlich wie das Central fand das Griensteidl in der Schalterhalle einer Bank sein neues Quartier, doch vom alten Charme dürfte heute kaum mehr etwas zu spüren sein, obschon man sehr darum bemüht war, das Lokal möglichst authentisch mit allen Schikanen einzurichten, die ein typisches Wiener Kaffeehaus ausmachen. Optisch hat man das sicherlich erreicht, doch bis auf einige alte Wiener Damen, die ein Champagnerfrühstück oder einfach einen Kaffee geniessen, lässt das Kaffeehaus den Besucher kaum etwas von Wiener Urigkeit spüren. Vielmehr besuchen das Lokal Touristen, die in gutem, aber falschem Glauben sind, nun ein Stück altes Wien kennen gelernt zu haben."






Und im Wikipedia erfährt man dann die gesamte Historie, die eben in gewissermaßen fragmentarischer Eleganz, charmant zur Begrüßung in der Karte steht, ohne unnötig plump darauf hinzuweisen, dass an dieser allerersten Adresse am Michaelerplatz zwei, annähernd hundert Jahre lang überhaupt kein Kaffee ausgeschenkt worden ist, und schon gar keine Literatur zusammengedacht. Abgesehen von blumig formulierten Geschäftsbedingungen zur Kontoführung. Die Legende des seinerzeit im Volksmund keck als „Café Größenwahn“ titulierten Lokals rührt also aus einer sehr arg versunkenen Zeit, so lese ich:





"Das Griensteidl war im späten 19. Jahrhundert ein berühmtes Künstlerlokal. Das Kaffeehaus befand sich am Michaelerplatz im Palais Dietrichstein, gegenüber dem alten Burgtheater und der Hofburg. Das Café Griensteidl, 1847 von dem vormaligen Apotheker Heinrich Griensteidl eröffnet, wurde rasch ein Treffpunkt Wiener Literaten. Später verkehrten Persönlichkeiten von Franz Grillparzer bis Schönerer hier. Das Café war auch ein Hauptquartier der Arbeiterbewegung und ihrer Führungsfiguren, u. a. Victor Adler und Friedrich Austerlitz. Besonders berühmt wurde es als Sammelplatz der Autoren des Jung-Wien. Zu den Schriftstellern, die hier verkehrten, gehörten Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, der junge Rudolf Steiner sowie der junge Karl Kraus. Im Januar 1897 wurde das Gebäude, in dem sich das Café befand, im Zuge der Neugestaltung des Michaelerplatzes abgerissen. Am 25. Januar 1897 war im Illustrierten Wiener Extrablatt zu lesen: „Die treuen Stammgäste feierten den Untergang des Locales mit einem großartigen Leichenschmaus. Nach Mitternacht waren sämtliche Vorräthe an Speis und Trank vergriffen und es wurden nur noch Ohrfeigen verabreicht. Sonst war die Stimmung famos.“ Die Ohrfeige hatte Felix Salten Kraus für eine Passage der demolirten Literatur verpasst, was Schnitzler in seinem Tagebuch mit den Worten vermerkte: „gestern abends hat Salten im Kaffeehaus noch den kleinen Kraus geohrfeigt, was allseits freudig begrüßt wurde." ( ... )





Die beeindruckende Gästeliste vom alten Griensteidl umfasste also unter anderen Peter Altenberg, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Arnold Schönberg, Hugo Wolf, Rudolf Steiner, Stefan Zweig und viele andere mehr. Ich habe nur die erwähnt, die mir selbst auf Anhieb etwas sagen, ohne dass ich recherchieren müsste, um wen es sich handelt. Das ist also das Geheimnis und die Erklärung. Aber nichtsdestotrotz muss ich Planet Vienna abermals recht geben, wenn dort versöhnlich vermerkt wird: "Ein Besuch im Griensteidl lohnt sich auf jeden Fall. Wer nicht weiss, dass das Kaffeehaus was Neues ist, das auf Alt macht, der wähnt sich hier an einem sehr wienerischen Ort. So kann man hier ein durchaus schönes Ambiente geniessen. Allein die Lage am Platz mit der Michaelerkirche und dem monumentalen Michaelertor ist einmalig." Ganz genau. Allein der Blick auf den Michaelertrakt mit den Hofburgkuppeln lohnt einen kleinen Besuch. Man sollte schon einmal den schönen Blick durchs Fenster gehabt haben. Lieber ein vor einem Vierteljahrhundert neuauferstandenes Kaffeehaus im immerhin auch schon bald hundertzwanzig Jahre alten Neubau des Palais Herberstein, als eine langweilige Schalterhalle für Bankgeschäfte. Schon eine begrüßenswerte Wiedergeburt. Und immerhin war für sieben Jahre lang die Redaktion vom Standard direkt über dem neuen Griensteidl. Ein bißchen spirituelle Reinigung und geistige Belebung, nach all den Bankschalterjahren. Da soll man nicht jammern. Lieber ein Kaffeehaus-Plagiat mehr und ein Bankschalter-Original weniger am Michaelerplatz. Und außerdem gibt es ja zum Glück noch ein paar Kaffeehäuser mit beeindruckend ungebrochener Tradition und richtiger Patina. Wovon ich mich gleich danach überzeugen konnte.




: : alle Wiener Geschichten : :

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