23. september 2005
so schön im tod, dachte ich, als ich diese kreatur sah. der flügel strahlt noch voller spannkraft. bei toten menschen sucht der blick zuerst das gesicht. ein letztes geheimnis in den verlassenen zügen.
ich erinnere gerade einen bildband, den ich seit 1989 besitze. er trägt den titel 'der ewige schlaf : visages des morts' von rudolf schäfer. ein bildband mit schwarzweißportraits von verstorbenen, in der berliner charité aufgenommen, kurze zeit nach dem medizinisch festellbaren tod. selten später als eine stunde danach.
ich war aus verständlichen gründen in dieser zeit vielfältig damit befasst, dieses schwer greifbare thema auszuloten. so war es nur eine logische konsequenz, diesen bildband sehen zu wollen, zu erfahren. ich hatte ein wenig furcht, die seiten aufzuklappen und wählte einen augenblick, der eine ganze weile nach dem kauf des buches lag.
tote menschen in jedem alter. ein kleinkind. eine jüngere frau. alte menschen. ich versuchte zu ermessen, ob ich jemanden davon gemocht hätte. da waren spuren, wesenszüge zu erkennen, ein abglanz davon. wie ein fingerabdruck, aber die hand fehlte. ich empfand die starke unbeseeltheit beim anblick der gesichtszüge, die erkennbar zurückgelassene hülle.
die gesichter sind sanft gebettet, zu diesem frühen zeitpunkt ist der körper noch nicht erstarrt. in diesen aufnahmen sind durchaus keine kampfspuren des letzten momentes zu sehen. erleichterung liegt in vielen zügen. selbstvergessenheit. und leere.
einerseits empfand ich es als zu nah, da diese menschen nicht zu meinem leben gehörten, und ich fühlte, dass es mich irgendwie nichts anginge, sie so zu sehen. andererseits beruhigte mich dieser eindruck der unbewohnten gesichter, weil es ein zeichen für die reise war. ich erlebte das bei meinem großvater, dessen hand ich hielt, während er starb. plötzlich fühlte ich einen flüchtigen leicht vibrierenden energieschub und lichte weiche wärme, wie in einer säule senkrecht nach oben steigen. die hand welkte friedlich in meiner. ein sanfter moment, der mir viele ängste nahm. beinahe heiter.
tode sind so vielfältig wie lebensweisen. viele jahre später erlebte ich bestürzt mit, wie schwer die mutter meiner freundin starb. ich war nicht dabei, aber sie erzählte mir von höllenqualen, den schmerzhaft gequält durchwachten nächten, angstschreien und wimmern. sie konnte irgendetwas nicht loslassen. ein langer kampf. ich hätte das bei ihr nicht erwartet. eine frau, die trotz längerer krankheit einen schwarzhumorigen optimismus zu pflegen schien. ich hätte ihr von herzen einen leichten abschied gewünscht.
wenn sie mich kommen hörte, sagte sie zur begrüßung "die lachtaube ist wieder da". sie brachte mich mit ihren kuriosen sprüchen oft fürchterlich zum lachen. als junge frau muss sie ein heißer feger gewesen sein, ich kannte fotos und ein paar pikante geschichten. da saß diese kettenrauchende alte frau mit der amputierten strahlenverbrannten brust und ihrem koboldgesicht, umrahmt von weißgrauen löckchen vor mir und grinste.
wenn sie umständlich aufstand, um aufs klo zu gehen, kommentierte sie das gerne mit 'ich geh mal meine zitrone ausquetschen' und kicherte dazu ein bißchen. dann musste ich immer an lotti huber denken und ihr buch 'diese zitrone hat noch viel saft'. dieselbe generation. vielleicht ein code vergangener zeiten.
eigentlich habe ich im augenblick ganz und gar lebenszugewandte gedanken. nicht, dass ich mich vierundzwanzig stunden mit tod und friedhof befassen würde. obgleich diese letzten dinge sehr gegenwärtig in meinem bewusstsein ankern. ich empfinde zeit, vergänglichkeit sehr stark. da war heute diese kreatur auf dem fensterbrett. und ich wollte diese schönheit festhalten.
hier strömt gerade der duft einer pflanze, den ich noch niemals irgendwo roch. es ist eine zimmerpflanze, deren name mir nicht einmal bekannt ist. ich rettete sie vor dem mülleimer, jemand hatte sie ausgesetzt. jetzt treibt sie seltsam schöne blüten, nach vielen jahren. ich bin völlig überrascht. ich kam erst heute darauf, dass dieser exotische schwangere duft von ihr kommt. ihren blütenrispen. ein bißchen wie sandelholz, schwer zu beschreiben, strömende fruchtbarkeit.
g a g a - 23. September 2005, 21:37