Helmut Krausser "TRENNUNGEN. VERBRENNUNGEN." Eselsohr Seite 151, Piper Taschenbuch
Leo und Iris verbrachten Sonntagnachmittage im Spätherbst gewöhnlich mit einer Netflix-Serie und Honig-Ingwer-Tee. Sie mußten oft lange suchen, bis sie eine Serie fanden, die beide gleichermaßen interessierte. Für Iris kam nichts mit Mord und Zombies und Fantasy in Frage, Leo hatte nichts für Sozialdramen und Comedy übrig. Irgendwie hatte man sich stets auf etwas geeinigt, das erträglich war, aber keinen von beiden wirklich begeisterte. An diesem Sonntag wurde Leo bewußt, daß sich eine gute Beziehung gar nicht so sehr im Bett wie vor dem Fernseher entscheidet. Irgendwann, überlegte er, werden die Kompromisse auf dem Mittelweg zuviel. Eine Begeisterung, die man mit dem Partner nicht teilen kann, schrumpft, wenn man sie quasi in sich hineinfressen muß. Sie liegt dann schwer im Magen, und statt Euphorie stellt sich das Gefühl ein, nicht verstanden, nicht beachtet zu werden. Hinzu kam, daß Iris aß. Nicht nur, daß sie vorhin im Café ihren ganzen Frühstücksteller, von diesem Alibi- Toast mal abgesehen, leergefuttert hatte, eben hatte sie vor dem Fernseher einen halben Liter Haselnuẞeis verdrückt, und jetzt holte sie sich auch noch getrocknete Feigen. Entweder war das, fand Leo, eine Kriegserklärung oder extrem unaufmerksam an einem Tag, an dem er sie, wenige Stunden zuvor, darum gebeten hatte, ein bißchen auf sich achtzugeben. Er reagierte, indem er nicht wie vorgesehen die siebte Staffel der Mad Men aufrief, sondern die erste Staffel der von ihm heißgeliebten Walking Dead. Die wollte er sich immer schon ein zweites Mal reinziehen. Iris machte große Augen.
g a g a - 13. Oktober 2023, 19:34
EVOLUTION II. Die goldenen Leitlinien. Gaga-Maluntergrund: Unternehmensberatungs-Klimbim Firmen-Leitlinien auf sieben Merktafeln; vier Tafeln 30 cm x 30 cm (maigrün, lilablassblau, cyan, schlumpfblau), drei Tafeln 30 cm x 50 cm (grasgrün, swimmingpoolblau, indigo), Acrylgold, Flambierbrenner, 28. Januar 2023, Staatliche Museen v. Gaganien, Sammlung Fasanenstraße.

g a g a - 12. Oktober 2023, 18:50
Böse kleine Hexe. Statt bei
Albans Event in der Dt. Oper, auf halbacht im Wohnzimmer. Wärmflasche im Rücken. Hab sie fast eine Stunde gesucht, so lange nicht gebraucht. Stöhne ab und zu. Fenster ist gerade nicht auf. Später zum Schlafengehen. Könnte neidische Nachbarn geben. Dabei hatte ich mich heute Morgen schon opernfein gekleidet, auch die Kamera eingesteckt, weil ich eh tagsüber in der Nähe in Charlottenburg war. Blöd. Ich hab auch ein geerbtes Wärmegel, aber das brennt mir auf der Haut. Lieber gute alte Wärmflasche.
g a g a - 11. Oktober 2023, 20:57
Zweite Hälfte Best of Kirchhoff "Die Liebe in groben Zügen"
S. 429, 430
Sie fuhr und fuhr, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg, die Autobahn fast voller als bei Tag, sie kam nicht voran, wie sie wollte, und sprach dafür vor sich hin, was sie wollte, alles, was sie sich in Wilfingers Büro verkniffen hatte oder auf das sie gar nicht gekommen war in seiner Gegenwart, aber jetzt kam. Warum war Schluss mit mir und den Mitternachtstipps, sagen Sie's einfach. Aber er sagte nur Scheiße, und nicht einmal das richtig. Also, warum nicht: Scheiße, Sie sind zu alt, Vila, bald dreiundfünfzig, aber unsere Zuschauer um diese Nachtzeit, die sind dreißig und jünger. Und sehen nicht irgendwelche Zeichen oder Dinge, die sie weiterzappen lassen, sondern Ihre konkreten Fältchen, wenn Sie es genau wissen wollen, am Hals, um die Augen, am Brustansatz, wo's zu den Titten geht, die Sie immer verstecken. Das ist wie Schmutz auf dem Schirm, wie Fussel auf einem sauberen Flatscreen. Das hätte er sagen können, und sie hätte ihn samt seiner Schreckensfrau und Hobbydesignerin nie zu ihrem Sommerfest eingeladen. Hat sie aber, obwohl alles so gemeint war, nur warum hat sie's dann? Weil er sie an ihren Vertrag erinnert hat auf seiner Silvesterparty, Und wissen Sie: Ob Sie nun vor der Kamera sind oder dahinter, Sie sind es mit einem festen Vertrag! Sagt er so, meint Renz. Ein paar Neujahrsworte zu einer festen Freien. Oder freien Festen, auch nur Worte. Dann lieber frei sein, aber festgehalten. Sie konnte Wilfinger nicht mehr ausladen, nur ertragen. Vila, wie jung Sie wirken!, noch ein Silvesterknaller. Aber was sagt dem Dreißigjährigen dann bei ihrem Anblick, dass er weiterzappen soll? Ihr Mund wohl kaum, auf den hat Wilfinger ständig gestarrt. Auch nicht die Frisur, ihre Nachfolgerin geht zum selben Friseur. Bleibt neben den Schmutzfältchen nur der Blick, das muss es sein, (...)
S. 435
Renz war ja mehr ein Gelegenheitsvater: wenn die Kleine erst ausgehen kann, wird alles nachgeholt, ein ewiger Spruch. Einen Scheiß hat er nachgeholt, als sie fünfzehn war. Zeit blieb nur für eine neue Serienheldin, seine Dorfschullehrerin Zeisig, auch noch ihre Idee, dieser zündende Name Stella Zeisig. Die sie sich jeden Mittwochabend beim ersten Glas Wein in einem Fernseher auf der Küchenkommode ansah, während Renz mit keiner Wimper zuckte, ihre Dummheit in Kauf nahm - wer keine Ahnung hat, der ist dumm. Zwei ganze Jahre lang war sie dumm. Sechsundzwanzig Folgen, je dreizehn in jedem Winter, mittwochs vor der Tagesschau: die Idiotinvilastunde. Er sah seine Geliebte, sie sah die Zeisig. (...) Nach der letzten Folge hatte die Heldin genug von Renz, und er ließ sich häuslich trösten, sie reisten noch einmal durch Marokko, (...) Ein Versöhnungstrip, sie machten es in jedem Hotel, neben dem Bett eine Wasserflasche (...) Es war seine Versöhnung, nicht ihre. Und in Erfoud, am Rand der Wüste, hat sie es aus ihm herausgeprügelt, sein gescheitertes Liebesding mit der Serienfotze: ihr Erlösungswort in der Sache. Renz heulte, und sie heulte mit. Und jetzt hängt sie an ihm, weil ihre Zeit in ihm steckt, ihre Tränen. Und genauso seine Zeit in ihr.
S. 525
Es gibt ein Sofa, einen Büchertisch, Bilder, die sie gemeinsam gekauft haben; die Sofakissen in den Farben Italiens, seiner alten Städte, das blasse Rot, blasse Gelb. Immer noch nackt, legt sie sich zwischen die Kissen. Jedes Buch auf dem Tisch, ein legendärer Titel, in diesem Sommer wird sie nichts davon lesen. Sie ist selbst am Kern des Lebens.
S. 587
Und Liebschaft, eins ihrer Zufluchtsworte. Wie Glück. Oder Schönheit. Nur war Schönheit für sie Bewegung, Bühls Gang, seine Gesten, seine Blicke, er konnte einen ansehen, als werde man getauft. Ich taufe dich im Namen des weiblichen Geistes, der kranken Sehnsucht, des Verlangens. Und Glück, das waren solche Taufen, die sich nicht fassen ließen, auch nicht hinterher.
S. 638
Mit dem Verschwinden des geliebten Anderen verschwindet immer auch eine Idee von Liebe, weil der Andere im Grunde nicht genug von ihr hält, weil er von sich selbst nicht genug hält. Also geht er samt der Idee, die er mit in die Welt gesetzt hat, verflüchtigt sich wie die Rücklichter eines Überholenden im Nebel.
S. 639
Renz räumt die Kabine auf, schon für den nächsten Sommer (...). Das Boot schwankt, und sie springt in den See, ihr Körper leuchtet beim Schwimmen, sie hat es auf einem Video gesehen, die Beine gehen auf und zu, immer wieder ihr Schoß, seine Aue: ein frühes Renzwort, schon lang außer Gebrauch, aber sicher noch in ihm. Und irgendwann vielleicht das Letzte, das er vor Augen hat, als Wort und Bild in einem, während die Augen schon nichts mehr sehen.
g a g a - 11. Oktober 2023, 01:09