10. Juli 2010



Ich frage mich, ob hier irgendeiner meiner Leser ahnt, wie schwer es ist, drei Personen so zu fotografieren, dass keiner Scheisse aussieht! Zwei ist schon nicht einfach, wenn man ihnen eine Beschäftigung gibt, geht es schon irgendwie. Aber drei, das ist wie einen Sack Flöhe hüten. Einer guckt ins Objektiv, einer guckt in die Luft. Der Dritte... kann man ja wegschneiden!.



Einer ist arschcool auf dem Bild, die anderen beiden merken gar nicht, dass gerade ein Foto gemacht wird und hampeln herum! Einer macht Turnübungen, man wärmt sich auf bis zum Anpfiff. Schließlich ist WM und man ist voll bei der Sache! Einer läuft aus dem Bild. Guck mal einer an.



Nun steht der große Stefan vorne und der kleine Matthias hinten, man denkt, es handelt sich um unterschiedliche Menschenrassen, Größenunterschied gefühlt zwei bis drei Meter. Es wird sich gereckt und gestreckt. Man tut was man kann, schließlich sollen coole Fotos entstehen! Sieht nur dummerweise komplett Kacke aus, dieses Gespreize! Aber zum Glück hat Frau Nielsen erste Hilfe im Fototäschchen, eine Flasche Côtes du Rhône! Die sollen erst mal was trinken, damit sich die Aufregung legt. Na bitte! Geht doch. Wie? Du willst den Hut nicht aufsetzen, Stefan? Ach, du trägst nie Hüte? Na und? Interessiert das irgendwen? Und Stefan, das T-Shirt, mit dem runden Ausschnitt unter dem Jackett, das sieht nicht aus. Schau, ich hab da was dabei, probier das mal an. Wie? Du magst Charlie Chaplin nicht? Wie bitte? Dann zieh es verkehrt rum an! Schwarz geht immer. Na also. Ja, und die Sonnenbrille! Stell dich nicht so an! Komm, nimm noch einen Schluck! Rauch eine! Rauch einfach, beschäftige dich! Mach, was du sowieso machen würdest, ja, check dein Eierfon!



Ist doch gut! Finde ich gut! Ja! Schon besser! Schön, super! Nein, Matthias, Augenklappe ist nicht uncool, Augenklappe ist cool. Glaub mir. Stefan probier doch mal die Mütze. Ja! Na und, ist doch egal, siehst du eben aus wie Klaus Meine, ist doch lustig! Haha! Findet Cosmic auch. Guck ihn dir an. Obercool mit seinem Zylinder. Der kann anziehen was er will.



Ja, das ist schön, genau! Macht ein bißchen was! Ja, super! Geht doch! Hey! Wow. Cool! Schön! Na Stefan, noch einen Schluck Wein? Komm, einer geht noch!



So ungefähr. Ist jetzt ein bißchen anders geworden, als der ursprünglich geplante, gepflegte Erlebnisbericht meines neulichen Foto-Schießens mit der poetrYclub-Bande, aber ich denke, man hat eine ungefähre Vorstellung. Nach Anfangsschwierigkeiten kam die Sache gewissermaßen ins Rollen. Und ein paar brauchbare Bilder sind bestimmt dabei. Mir ist dunkel, als hätte Stefan sogar gesagt, es hätte ihm richtig Spaß gemacht. Doch, hat er gesagt! Nur schade, dass er anschließend weder als Klaus Meine noch mit rotem Hut zum Pizzaessen gehen wollte. Aber das gewöhnen wir ihm noch ab bzw. bringen wir ihm noch bei. Ein bißchen Las Vegas hat noch keinem geschadet.



[ Hier alle Bandenfotos ]

27. Juni 2010

Ich versuche, den siebzehnten Mai zu erinnern, was nicht schwer ist. So viele Bilder im digitalen Herzen und weit mehr. Ich versuche mich genau zu erinnern. Es war die letzte Reise-Etappe, der letzte Tag, vor unserer Rückkehr nach Berlin. Ein Montag, 17. Mai 2010. Ich erinnere mich, was an diesem Tag vor zwei Jahren war. Ich begegnete Cosmic in der Galerie Sakamoto. Wir kannten uns nicht. Der Rest ist Geschichte, unsere Geschichte. Eine Bildergeschichte, eine Filmgeschichte. Eine Geschichte von zwei Menschen, die sehr eigensinnig sind, und mit dem Eigensinn des anderen, den Außenstehende mitunter exzentrisch empfinden mögen, gut zurechtkommen. Vorsichtig formuliert. Wenn man tief stapelt, ist die Wucht geringer, wenn es einen Erdrutsch gibt.

Das schrieb ich gestern und lasse es gerade auf mich wirken. Erst einmal Kaffee. Gleißende Sonne auf dem Balkon, wo ich gerade allerdings nicht bin, weil ich gerne den Kontrast der Buchstaben beim Schreiben sehe. An einem heißen Tag wie diesem heute, schlüpft man aus dem Bett unter die Dusche und zieht sich nur die Kaffeetasse an. Vor dem Klapprechner auf dem Bodenkissen. Orangensaft, Erdbeeren, Schatten, weich. Vogelgezwitscher am Gipsdreieck. So versuche ich mich zu erinnern, die Tasten zu füttern.

Es begann damit, dass ich mich an die Geschichte erinnerte, die Cosmic mir aus seiner Kindheit erzählte. Er hatte mit Freunden ein Spiel, das einen verrückten Namen hatte. Es hieß Bumbadala. Das ist ein geheimes Wort, und bedeutet Afrika spielen. Ein paar kleine Jungs trafen sich auf den Feldern in Gerbrunn und zogen sich nackig aus und spielten Afrika! Im Sommer, wenn es heiß war. So wie heute. Sie versteckten sich schnell in den Maisfeldern, wenn ein Bauer näherkam und für den Fall, dass man flüchten musste, hatte man den Gürtel noch an, um den die Unterhose gewickelt war. Für den Notfall. Einmal kamen Flieger und flogen ganz tief über die Felder und die kleinen Afrikaner hatten Angst, dass sie entdeckt werden. Aber es ging gut aus. Afrika blieb unentdeckt!

Ich sah diese Bilder vor meinem inneren Auge und bekam große Lust, Afrika zu besuchen. Wie es wohl heute aussehen mag? Gut dreißig Jahre später? Ob man noch etwas von dem Zauber spüren würde? Wo das genau gewesen wäre, fragte ich. Und ob wir da nicht auch hinfahren könnten. In die Nähe von Würzburg, einen kleinen Ort am Rande der Stadt, da wo er aufgewachsen sei, bis die Familie nach Schweinfurt umzog. Gerbrunn heißt der Ort. Es sei schon ein Umweg, aber wir gucken mal. Gerade zu dem Zeitpunkt ergab sich ein geschäftlicher Anlass hinzufahren. Eine Besprechung und irgendeine wichtige Unterschrift. Da könnten wir doch auf dem Rückweg nach Gerbrunn, meint Cosmic. Ich freue mich. An Würzburg bin ich in meiner Kindheit ein paar mal vorbeigefahren, auf dem Weg zu den Großeltern, die nicht weit davon ein Haus hatten, und wo ich als Kind oft die Sommerferien verbrachte und im Main badete. Aber in Würzburg war ich nie.

Der siebzehnte Mai begrüßte uns mit strahlendem Sonnenschein. Solche schlichten, wahren Sätze schreiben Kinder in Schulaufsätzen. Cosmic hat heute einen Anzug an und wie er da so steht, mit seinem Drei-Tage-Bart und seiner Hilfiger-Sonnenbrille, die er schon zig mal für immer verloren glaubte, wie er da also so steht, im sonnigen Ebracher Hof, den Cappuccino nimmt, kommt er mir ein bißchen vor wie ein Agnelli-Erbe, der eine Nacht in Rom durchgefeiert hat. Und jetzt eine Spritztour in die Toskana. Ich bin dabei. An sanften Hügeln vorbei, Rapsfelder. Raps, soweit das Auge reicht. Gleißendes Gelb, mit der Sonne um die Wette. Weinberge. Gelbgrüne Toskana. Ich träume und schon sind wir da. Ein kurzer Halt, Cosmic springt aus dem Auto, um an einer Wohnungstür zu klingeln. Er möchte sich beim Freund seiner Schwester, der hier lebt und leidenschaftlich gerne kocht, erkundigen, wo man später gut essen könnte, am liebsten regionale Küche. Ich mache ein Foto, wie die beiden fachsimpeln, sie stehen im Wagenschlag, während ich auf dem Beifahrersitz warte. Das Bild ist nur noch in meinem Kopf, ich habe es gelöscht. Es war eigentlich sehr schön, das Licht... wie die beiden da so stehen. Aber ich kenne die kleinen Eitelkeiten und verstehe sie alle. Eine gewisse Silhouette, eine verkürzte Perspektive, die das eine oder andere Detail unvorteilhaft erscheinen lässt. Ich verstehe jede Befindlichkeit und diskutiere wenig. Dieses Bild hat keiner außer mir je gesehen. Aber ich kann es abrufen. Meine Festplatte im Kopf hat eine unerhörte Speicherkapazität.

In einer schönen Altbauwohnung in Würzburg. Fischgratparkett, Flügeltüren. Schöne Möbel. Viele Bücher, die blauweiß gestreifte Tapete in der Küche. Wie ein Strandkorb. Eine ganze Wand im Flur mit weißen Regalen, dicht bestückt mit CDs klassischer Musik. Ich denke, das ist so eine erlesene Auswahl, und diese Fülle... der Bewohner muss etwas mit Musik zu tun haben. Und tatsächlich, Raphael, Cosmics Geschäftspartner leitet neben den Kunstmarktgeschichten der beiden einen Chor. Die Sonne scheint immer noch, ein paar Wolken ab und zu, wir gehen auf den kleinen Balkon. Kaffee, Zigarette. Ich checke ein Video auf meiner Kamera, das ich am Abend in der Disharmonie aufnahm, ich muss es auf der Kamera schneiden, sonst kann ich es nicht herunterladen, es ist zu umfangreich. Es zeigt die Szene, als Cosmic mich auf die Bühne bat und von uns erzählte. Und wie er danach das Lied sang, vom Mond. Die beiden, Raphael und Cosmic lassen mich für eine Weile allein, um die Unterschrift zu erledigen. Ich habe alles, was ich brauche, einen Platz an der Sonne, meine Kamera und eine Tasse Kaffee. Die beiden waren nicht einmal eine Stunde weg und sind schon wieder zurück. Es stellt sich heraus, dass die vermeintlich fehlende Unterschrift bereits existierte, es also gar keine Notwendigkeit gab, nach Würzburg zu fahren. Aber wie gut... ohne diesen kleinen Irrtum hätten wir uns vielleicht gar nicht auf den Weg gemacht. Das sollte so sein, meint Cosmic später in einem Café in Gerbrunn.

Wir machen uns direkt auf den Weg. Gerbrunn, der Ort seiner Kindheit. Mindestens zwanzig Jahre war er nicht da. Ich bin auch ganz aufgeregt. [Kleine Schreibpause in der Sonne.]

Ja – wo war ich... wo sind wir. Wir fahren direkt in das kleine Dorf, ohne Umwege in die Straße am Rande der Felder, wo er als kleiner Junge wohnte. Wir parken ganz in der Nähe des Hauses. Im Stückackerweg. Es ist ein einfaches, dreistöckiges Haus für mehrere Familien, in der oberen Wohnung mit Balkon auf die weiten Felder wohnte er mit Mama und Papa und den beiden Geschwistern. Die kleinste Schwester war noch nicht geboren. Ein paar Wolken haben den Himmel kurzzeitig verdunkelt, wir stehen vor der Garage. Das war das Fußballtor. Links davon kann man in den kleinen Garten gehen, der eigentlich nur ein Stück Rasen ist, das bis zu den Feldern reicht. Was für eine Weite. Wieder gelb. Wieder Raps. So weit das Auge reicht. Cosmics Blick streift nach oben, zu den Fenstern. Wir gehen wieder vor das Haus. Aus einem der offenen Fenster im Erdgeschoss schaut eine jüngere Frau, sie unterhält sich mit einer anderen Hausbewohnerin, die auf dem Treppenabsatz steht. Cosmic würde gerne noch einmal das Haus von innen sehen und erklärt, dass er hier vor vielen Jahren mit seiner Familie lebte. Ob das möglich sei? Aber ja.



Wir gehen hinein. Das Treppenhaus ist in sonnigem Gelb gestrichen. So war es auch früher schon, sagt Cosmic. Wir gehen eine Treppe tiefer, in den Keller, da gibt es eine kurze Erinnerung... irgendwas mit eingeschlossen sein... und da, an der Türschwelle, da ist die kleine Tochter vom Nachbarn in Scherben gefallen und hat sich die Knie ganz böse zerschnitten. Ja, da war das... Wir könnten ja vielleicht mal nach oben schauen, und klingeln? Warum nicht. An der Wohnungstür, ganz oben. Nach kurzem Klingeln nähert sich jemand der Tür und macht auf. Es ist eine Mama um die dreißig. Hinter ihr im Flur zwei kleine Jungs, Spielsachen auf dem Boden, ein Fußball. Cosmic erzählt, dass er hier gewohnt hat. Die Frau ist sehr freundlich und entschuldigt sich, dass sie uns nicht hereinbitten kann, weil sie gerade auf dem Sprung ist, der eine ihrer Jungs muss zum Fußballtraining. Wie alt er denn ist, fragt Cosmic. Elf. Siehst du, so alt war ich damals auch, sagt er. Es sieht noch alles so aus wie in seiner Erinnerung, kaum verändert, so weit man die Wohnung erahnen kann, beim Blick durch die Tür. Wir verabschieden uns und drehen uns um. Auf einem Treppenabsatz steht ein Gummibaum, ein Teil der Wand ist aus bunten Glassteinen. Wenn man durch den rosa Stein sieht, kann man in die Vergangenheit schauen, wie durch ein Kaleidoskop. Staunender Blick durch die Glasbausteine der Kindheit. Die Straße runter. Cosmic blickt zurück. Ich komme mit.



Nach rechts. Wo der Stückackerweg endet, und der Wald anfängt. Und die Felder. Afrika. Das kleine Waldstück, waren da alte Kabelrollen... ohne Kabel? Irgendsoetwas. Abenteuerspielplatz. Ich erinnere mich auch an solchen Tage und Plätze und Spiele in den Wäldern meiner Kindheit. Lager bauen, Feuerchen machen. Alles so ähnlich... Und auch ein Feldweg. Vielleicht wollte ich es auch deswegen so gerne sehen, weil ich an die Spiele im Wald und den Feldern meiner Kindheit dachte. So viele Ähnlichkeiten. Was Kinder eben spielen. Wir biegen in den Feldweg, am letzten Haus vorbei führt er leicht nach oben, bis zum Horizont. Der Himmel bricht auf. Cosmic erzählt noch einmal von den Flugzeugen. Und dem wichtigsten Ort, da oben, da hinten. Man sieht in der Ferne einen wild bewachsenen Hügel und da laufen wir jetzt hin. Das ist der Schutti. Der Schuttberg. Ein wildes Kinder-Königreich aus Schottersteinen und Sand und Erde. Damals noch nicht so wild und grün wie wir ihn jetzt sehen. Da oben konnte man machen was man wollte. Freies wildes Land. Schönster Spielplatz ohne Grenzen. Hier kam kein Bauer mehr hin, weil es keine Saat zu beschützen gab, zwischen Steinen und Geröll. Es ist ein Paradies. Ich denke an Island, an die Steinwüsten im Hochland, Sprengisandur, die Steinpiste. Es gibt noch Schotter und Geröll da oben, auf dem Schutti. Rundherum wilde Natur. Cosmic tanzt von einem Schotterberg zum anderen und schaut ins weite Land. Und erinnert sich. Weit zurück. Es ist, als wären wir am Ziel. Das ist der schönste Ort der Reise und dieser Nachmittag schenkt ihn uns mit tiefblauem Himmel. Stille und Wind, wie an einem Sonntag. Es ist ein Sonntag. Dieser Montag ist ein Sonntag. Daran gibt es nichts zu rütteln.



Das Bild, das sich mir zeigt, da im Osten oder ist es Süden... dieser Blick auf dieses gelbe Feld, eingebettet in saftiges gelbes Grün, irgendwo links ein altes Gemäuer, vielleicht ein Getreidespeicher. Das Bild erinnert mich an Vincent van Goghs Gemälde einer Landschaft bei Auvers. Ich habe einen Druck davon, in unrealistischen Farben, viel zu leuchtend, viel zu viel Gelb darin, viel zu viel Sommer darin. Van Goghs Original, das in der Münchner Pinakothek hängt, leuchtet viel weniger, die Farben verströmen nicht diese sommersatte Wärme, es ist viel blauer, das Original. Aber ich liebe diesen verfälschten Druck, der neben einer Tür hängt. Und immer wenn mein Blick diese Landschaft streifte, in den Wochen davor, träumte ich davon in dieser Landschaft zu sein. Durch diese Landschaft zu wandern. Ich bin kein Riesenfan von Vincent van Goghs Bildern und auch nicht von Kalenderdrucken. Aber dieses hat es mir angetan. Und da stand ich. Mittendrin in meinem Bild. In Auvers. In Gerbrunn. Es gibt das wirklich. Dabei dachte ich, dass ich vielleicht bei der Rückertwanderung darauf treffen würde, auf dieses Bild. Nicht annähernd. Ich musste nach Gerbrunn. Am siebzehnten Mai.



Auf meiner Kamera gibt es eine kurze Filmsequenz, die Cosmic zeigt, wie er über die Hügel tanzt. Ich sage tanzen, er würde vielleicht sagen stolpern. Aber ich sage tanzen. Du hast getanzt. Irgendwann wird man es sehen können. Geschnitten mit den Bildern meiner Kamerafahrt über die chronologischen Bilder unserer Zeit, wie sie da hingen, in der Disharmonie, unterlegt mit deinem Neujahrsmorgen. Der Grobschnitt, der Gänsehaut verursacht... “Unter Hügeln und am Meer, harren Trümmer uns zu lehren, dass die Zeit in Kreisen mäht, und alles Irdische vergeht...“ und springst auf den Schuttberg und drehst dich um und schaust zum Himmel.



Du nimmst noch einen Stein und wir gehen den Weg zurück. Stückackerweg. Da an dem Mäuerchen habt ihr Sweet gehört. Ballroom Blitz. Mit deinem Kassettenrekorder. Und Luftgitarre gespielt. Und da, an dem Haus da hinten da ist der heilige Georg aufgemalt. Das Bild hat dich immer schon fasziniert. Georg, der Drachentöter. Dessen Namen du trägst. Und da rechts. Das Tapeten- und Gardinengeschäft, das gibt es noch... ob es auf ist? Sieht so geschlossen aus. Oh, ein Schild, wegen Krankheit... eine ältere Frau vor dem Haus, sie weiß Bescheid... das Geschäft hat schon seit einem Jahr nicht mehr auf. Wir gehen zum Auto zurück und tuckern ein bißchen kreuz und quer durch die kleine Siedlung. Überall Erinnerungsfetzen. Vorbei an einer modernen Kirche, da schau, rechts ein Café, da könnten wir einen Kaffee trinken, ja komm. Draußen in der Sonne, im Café, Blumentöpfe überall, da hinten eine alte Kirche, neben uns ein Maibaum. Schön, ich denke an Wales. Die kleinen Dörfer in Südengland, als ich auf den Spuren von Dylan Thomas war, vor zwanzig Jahren. Genau so. Sonntagsruhe überall. Cosmic entdeckt ein Buch über Gerbrunn an der Theke. Eine Heimatchronik. Beim Blättern fällt ihm eine Todesanzeige besonders auf. Georg Adam Hofmann, geboren am 31. Oktober 1799 in Gerbrunn, gestorben am 2. April 1867. Privatier. Es gibt ein bißchen Text um seine Verdienste, er hatte wohl eine gewisse Bedeutung und setzte sich für die Abschaffung eines Zinssatzes für die Bevölkerung ein. Ich habe mir nicht gemerkt, worum es ging, aber Cosmic betrachtete lange fasziniert die Anzeige. “Schau, er hat fast den gleichen Geburtstag wie ich, am 31. Oktober geboren. Und heißt auch Georg. Und das mit diesem Zinsgeld... das ist schon merkwürdig“. Cosmic beschäftigt das Zinsgeldsystem auch. Ich fotografiere ihn mit dem Buch und die Anzeige. Vielleicht gibt es das Buch ja zu kaufen? Ich frag mal. Die Bedienung sagt, da rechts ist gleich das Rathaus, da gibt es das. Das Rathaus hat leider schon zu. Was? Schon 19 Uhr? Das ist unglaublich. So lange sind wir schon unterwegs? Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Komm, lass uns noch eine rauchen und vielleicht noch einen Cappuccino...?



Auf vergessenen Wegen zurück mit dem Auto durch Gerbrunn, da schau, in dem Laden haben wir an Fasching immer Luftschlangen gekauft und da Eis... Cosmic ist ganz weit weg und doch ganz nah. Die Straße nach Würzburg. Er hat einen besonderen Ort im Auge, in seinem undurchschaubaren Hinterkopf. Da will er hin. Ja, das muss ich dir auch noch unbedingt zeigen. Den Schützenhof. Es geht beinah serpentinenartig nach oben. Ich bin sehr fasziniert von den Weinbergen mitten in der Stadt, beinah irreal. Sehr schön. Immer weiter nach oben. Es lohnt sich, du wirst es sehen, sagt Cosmic. Wir sind am Ziel. Über den Hügeln der Stadt, auf dem Nikolausberg. Es ist ein Biergarten mit einem unfassbar weiten Blick über das Maintal. Der Fluß mäandert zwischen Weinbergen, wenn man es nicht wüßte, könnte man denken, es ist der Rhein, irgendwo an der Loreley. Ein Ort, an dem Cosmic an vielen Sonntagen mit seiner Familie war. Man fuhr zum Essen hin, es gab Schnitzel und Pommes Frites und erfreute sich an dem schönen Ausblick. Und es gab einen Papagei in der Wirtstube und andere Tiere. Eine Ziege ist immer noch da, schau. Wir sitzen auf den rotlackierten Gartenstühlen, die gleichen Stühle und Tische wie früher. An einem Tisch an der Mauer kann ich weit das Maintal überblicken. Diesen Ort besuchen vor allem die Würzburger, sagt Cosmic, Touristen kennen das gar nicht. Cosmic trinkt ein Bier, ich nur Wasser, was ich mir eigentlich so gut wie nie bestelle, aber mir ist so. Wir wollen ja noch essen gehen. Es ist ein bißchen nieselig geworden und der Biergarten fast leer, der richtige Moment um zu gehen. Ein schöner Ort.



Bergabwärts, links, ah – da rechts da war doch ein Schwimmbad... das gibt es nicht mehr, interessant... Wir fahren in die Innenstadt, die Altstadt. Das empfohlene Restaurant hat heute am Montag Ruhetag, aber unweit am Marktplatz gefällt uns der Ratskeller. In einer Nische im Gewölbe studieren wir die imposante Karte mit regionalen Leckereien. Geld spielt heut keine Rolle, komm! Ich bin auf dem Silvaner-Trip und weiß auf jeden Fall schon, was ich trinke. Cosmic muss ja noch fahren und bestellt brav ein Spezi. Ich habe noch nie einen Autofahrer getroffen, der so gewissenhaft seinen Alkohol-Pegel überwacht. Ich bin stolz auf ihn Und was haben wir eigentlich gegessen? Ein Blick auf die online-Speisekarte bringt mir ein déjà vu bei „Bürgermeisterplatte Tournedo vom Rind und Schweinefilet mit Sc. Béarnaise und grüner Pfeffersoße, Bohnenbündchen und Berner Rösti“ und Cosmic hatte möglicherweise ein Schnitzel aber das darf hier nicht erwähnt werden, also überlesen Sie bitte diese unvegetarische Unpässlichkeit. In Wahrheit hat er natürlich nur den Kartoffelsalat gegessen und mir das Schnitzel überlassen. Ich brauche einfach Unmengen Fleisch! Der Ratskeller also... ja. Ich tauche in diesen Tag und was finde ich noch... Der Weg führte nicht direkt zurück nach Schweinfurt, sondern über einen schönen Umweg, nach Gaibach, wo das Aufnahmestudio von Sven Peks im „Alten Forsthaus“, einer idyllischen ehemaligen Ruine liegt. Dort wurde die poetrYclub-Platte „Goldene Zeit“ vor fünf Jahren gemischt. Leider ist keiner da. Aber in der Nähe, ist noch etwas Sehenswertes – die Konstitutionssäule von Gaibach, zu Ehren der bayrischen Verfassung errichtet. Die Sonne geht langsam unter, und ich kann mir vorstellen, warum das ein attraktiver Treffpunkt war, für die kids, damals. Ein bißchen was rauchen, die Sonne untergehen sehen... wir kehren zurück. Und da ist noch dieser Baggersee von dem ich hörte. Es ist noch nicht dunkel, aber man ahnt es schon. Ein paar Enten und Schwäne auch irgendwo. Ein bißchen zu aufgeräumt, das Seeufer. Ein bißchen zu glatt, ein bißchen zu gerade. Kein Ruf der Wildnis. Mehr wie ein Parksee, den man nur anschaut, aber sich nicht in die Fluten stürzt. Wir haben so viel Schönes gesehen an diesem Tag. Wir brauchen keinen Baggersee.

Mephisto. Noch einmal... ich sehe auf dem Foto, auf den Bildern, diesen Stapel. Die A-Serie meiner Bilder, die ausgestellt waren. Diese 126 Bilder der Cosmic-Gaga-Collection. Zwei Jahre, die wir mehr oder weniger miteinander verbrachten. Mal mehr, mal weniger. Aber immer intensiv. Ich hatte die Bilder nach dem Konzert in der Disharmonie vergessen, es gibt drei komplette Sätze. Und einen davon wollte Cosmic mir gerne abkaufen. Ich zögerte. Warum, soll unerwähnt bleiben, aber ich zögerte lange. Er sagte es zum ersten Mal, als er die Bilder nur auf Fotografien gesehen hatte. Dann wieder. Und wieder. Ich war hin- und hergerissen. Nach diesem Tag, auf dem Weg ins Mephisto, als ich das wiedergewonnene Paket auf der Fußmatte liegen sah, hob ich es auf. Nahm es mit. Und in dieser Bar fiel mir ein, dass ich ihm wenigstens eines schuldig war. Er war ja auf fast allen Bildern. Mehr als der Hälfte. Und er hatte als einziger richtig erraten, aus wievielen Bildern ich diese hundertsechsundzwanzig selektierte. Hundertsechsundzwanzig von Zweitausendirgendwas. Ich hab die Zahl wieder vergessen. Ein blödes Ratespielchen in einem facebook-Kommentar. Sag eine Zahl, sag ich. Cosmic: „Dreiunddreißig“. Ich ziehe die Postkarte mit der Nummer dreiundreißig aus dem Set. Ein Bild, das ich sehr mag. Er auch. Er schwankte, nannte noch eine andere Nummer, sechsundsechzig. Auch schön. Mag ich auch sehr. Aber nimm die dreiundreißig. Die ist es. Ich kritzle eine Widmung auf die Rückseite. Und es ist so dunkel in der Bar, so schummrig, dass Cosmic nicht alles sofort entziffern kann. Vor allem die letzte Zeile, das unter dem Datum. Ich lese ihm vor. „SWC, 17. Mai 2010, (historisch(es Datum)“. Er schaut ein bißchen so ähnlich wie als er durch die Glasbausteine in Gerbrunn schaute, als ich ihm in Erinnerung bringe, das heute der siebzehnte Mai ist. Und auch vor zwei Jahren der siebzehnte Mai war. Und wir uns vor zwei Jahren begegneten. Ich weiß nicht genau, woher die glitzernde Stelle in deinem Augenwinkel kam. Aber meine, das weiß ich genau. „Komm, lass uns wenigstens noch ein gemeinsames Foto machen...“ Denn eine Nummer fehlte noch. Es ist die Nummer Hundertsiebenundzwanzig. 127 Augenblicke Ewigkeit.

10-05-17 (92)

[...alle Bilder vom 17. Mai...]

18. Juni 2010

"Der deutsche Kader braucht immer gleich ne Psychotherapie, wenn mal was in die Hose geht, anstatt Eier zu zeigen und sich zu sagen Neues Spiel, neues Glück! Und zwar innerhalb EINES Spieles. Das finde ich auf Dauer ein bißchen sissymäßig."

Noch so ein fb-Kommentar von Frau Nielsen. Von heute natürlich. Ich poste euch jetzt meine Kommentar-Highlights, so lange ich keine gescheiten neuen Blogeinträge verfasse, okay? (aber kommt bald wieder)

17. Juni 2010

Etwas Großes zu schenken
(der Welt)
bedeutet,
Etwas Großes zu denken
(auch sich selbst)


(nur so'n facebook-Kommentar v. Fr. Nielsen)

12. Juni 2010

Nicht les' ich in der Sterne Schicksalsbuch
Und doch glaub' ich, versteh ich solche Kunst
Nicht meld' ich von der Zeiten Glück und Fluch
Von Not und Seuchen und der Stunde Gunst
Auch der Minuten Lauf verkünd' ich nicht
Was jede bringt, ob Regen, Blitz und Winde
Von keiner großen Fürsten Zukunft spricht
Die Weissagung, die ich am Himmel finde
Aus deinen Augen schöpf' ich meine Kunde
(...)

William Shakespeare, XIV. Sonett
Übersetzung Max Josef Wolff, 1903

10. Juni 2010

Lustige Anfrage von Frau F., haben bestimmt viele von euch auch bekommen. Frau F. fragte im Auftrag eines Auftraggebers an, ob ich bereit wäre, in meinem Blog gegen Honorar Werbung zu platzieren. Natürlich bin ich bereit, für ein Schwimmbad voller Goldtaler in Entenhausen, ein Zipfelchen von meinem hübschen Blog herzugeben, sofern die Reklame sich geschmeidig in mein handgeklöppeltes Drumherum einfügt und ein tolles Produkt, das ich sowieso konsumiere, damit hofiert wird. Frau F. wollte mir aber nur 100 US Dollar im Jahr geben und leider auch nicht für was, was ich benutze, was ja doof ist. Deswegen hab ich ihr das geschrieben:

Liebe Frau F.,

ich bin leider etwas überfordert mit der Identifikation Ihrer Text-Werbung innerhalb der beispielhaft verlinkten Blogs. Bei diesen Beispielen findet sich mehrfach Werbung unterschiedlicher Art in den Seitenleisten. Aber insgesamt spricht mich das vom Layout her leider gar nicht an - das ist mir zu hektisch. Mein Blog hat vor allen Dingen den Anspruch der Welt-Poetisierung, auch in ästhetischer Hinsicht, da passt Ihr freundliches Angebot leider nicht hinein. 100 USD ist da schon ein bißchen wenig Schmerzensgeld.

Sicher werden Sie noch vielfach unter anderen Blogs fündig!

Wenden Sie sich gerne an mich, wenn Sie eine neue Idee in der Hinsicht haben, die ästhetisch und inhaltlich mit meinen Vorstellungen kompatibel ist. Ich bin in keinster Weise abgeneigt, Produkte zu hofieren, die ich gerne konsumiere. Zum Beispiel Veuve Cliquot ;-)

Viele Grüße aus Berlin

Gaga Nielsen



-------- Original-Nachricht --------
Datum: Wed, 9 Jun 2010 15:48:25 -0400
Von: "Susi F."
An: "Gaga Nielsen"
Betreff: Re: Ich habe eine Frage über Ihres Blog Gaga Nielsen

Sehr geehrte Frau Nielsen,

Vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Ja, dass ist unsere Website. Meine Kunde ist Vxxxxx (http://www.vxxxxx.de). Wir möchten einen Textlink auf einer der Unterseite platzieren. Wir können den Link in dem schon geschriebenen Text integrieren. Es gibt keinen Banner, keinen Button und kein Gewinnspiel, nur Text.

Hier gibt ein Paar Beispiele:
http://thepubliceyeblog.blogspot.com/2007/10/was-fotografinnen-brauchen-notizbcher.html
(Visitenkarten)
http://alexander-baumbach.de/2009/12/von-diskreditierungen-und-strafverfahren/
(Kalender)

Wir können 100 USD anbieten, um den Textlink für ein Jahr zu platzieren.

(...) Grußformel



Meine Antwort ist doch ganz okay, oder?

09. Juni 2010

Fortsetzung des kleinen Reisetagebuchs. Sonntag, 16. Mai 2010. Der neue Tag nach unserem Konzert in der Disharmonie bricht streng genommen bereits mitten in der Nacht an. Zu sieben Uhr dreißig ist Treffpunkt am Theater in SWC, Abkürzung für Schweinfurt City, wie ich lernen durfte. Wir haben Hoffnung, dass die Sonne die sich nach Lausbubenmanier allzu gerne versteckt, sich vielleicht an diesem hohen Tag, immerhin der Geburtstag Rückerts, für ein paar Stunden blicken lassen wird. Am Treffpunkt steht ein Bus parat, der schon sehr ordentlich mit überwiegend älteren Herrschaften besetzt ist. Der schätzungsweise cirka siebzigjährige Herr Schömburg, der die Wanderung anführen wird, auch ein großer Rückertfreund, begrüßt uns launig mit Handschlag. Auch die anderen Mitwanderer entbieten den hiesigen Gottesgruß. Die gutgelaunte Truppe scheint schon von früheren Geselligkeiten untereinander bekannt zu sein und hat allerhand zu plaudern.



Cosmic steuert auf den erwiesenen Vorzugsplatz, die noch unbesetzte Rückbank. Da es sich bei uns beiden um ordentlich gewachsene Menschen handelt, ist nunmehr kein Spielraum mehr auf der Bank. Ich ziehe mir die Schuhe aus und nutze den noch ebenfalls unbesetzten, vor mir befindlichen Zweier-Sitzplatz um die Beine etwas hochzulegen und damit den Blutkreislauf zu entlasten. Schließlich müssen Kräfte für die anstehende zwanzig Kilometer-Wanderung zu Ehren des großen Dichterfürsten gesammelt werden. Eine ältere Dame fragt nach, wie es dazu käme, dass wir beide diese Wanderung machen wollten. Cosmic erhellt seinen Bezug zu Rückert und fügt hinzu, dass er die erwähnten Vertonungen erst am Abend zuvor in der Disharmonie zu Gehör gebracht hat. Die Erwähnung der Disharmonie verursacht der Dame sichtliches Unbehagen, dem sie in deutlichen Worten Ausdruck verleiht. Die Macher wären früher ihre Nachbarn gewesen, als es noch an einem anderen Standort war und die hätten nie alles ordentlich aufgeräumt und laut war es auch immer. Oder so ähnlich. Cosmic verteidigt die jetzigen Veranstalter, dass es sich offenbar um eine Verwechslung handeln müsste, aber die Dame beharrt unerbittlich auf ihren unerquicklichen Erinnerungen.



Ich erinnere, dass heute der Geburtstag von Herrn Rückert sei und wir den Dichter heute ehren wollen und ich mich schon darauf freuen würde, wenn der Herr Schömburg vielleicht sogar ein Rückert-Gedicht zitieren würde. Die Dame entgegnet keck "Sie können ja ein Gedicht aufsagen!" Dem triumphierenden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, annehmend, dass von mir jungem Gemüse nichts derartiges zu erwarten sei. Sportlich und ohne Zeitverzug pariere ich schön betonend "Die Liebe saß im Mittelpunkt und blickte rings ins Ferne. Und wo von ihr ein Blick hinfunkt, erblüh'n am Himmel Sterne!" Mein doch recht kurzer Vortrag hat offenbar das Herz der Dame zum Erweichen gebracht, denn der nassforsche Gesichtsausdruck weicht einem zuerst überraschten und dann geradezu weichen, ja verklärtem Blick. "Oh... - - - " höre ich eine beinahe sprachlos entzückte Mitwandererin raunen "Wunderschön...! Das ist ja wunderschön. Seh'ns... und ich kenn nicht mal ein einziges Gedicht!"



Der Bus zuckelt los und nimmt noch hie und da weitere Wandersgesellen auf, darunter leider nicht unser erwarteter Dr. Kreutner, der große Vorsitzende der Rückert-Gesellschaft. Denn der habe gestern eine "ungute Bewegung" gemacht, erläutert Herr Schömburg, und sei deswegen unpässlich. Umso größer die Freude, als der Bus erneut an einer Landstraße hält und sich ein etwas jüngerer Wandersmann hinzugesellt. Ich habe diesen Kopf schon auf Cosmics facebook-Profil entdeckt. Der Kopf hat schon mal kommentiert und ein schwer psychedelisches Video verlinkt, welches mich mächtig beeindruckte. Es ist sein Freund Uli. Der Sohn unseres Wanderführers und ein guter alter Freund von Cosmic. Was für eine Freude. Er hat noch nie an einer der Wanderungen teilgenommen, die sein Vater nun schon seit vielen Jahren durchführt, aber heute war der Tag gekommen! Uli nimmt auf einer Sitzbank vor uns Platz und wir fangen an zu erzählen. Uli kommt mir gar nicht fremd vor, eigentlich wie jemand, den man schon immer kennt.



Halt! Eine Wallfahrtskirche. Alle aussteigen. Kirche zu. Alle einsteigen. Herr Schömburg weiß zu jeder Kirche, die auf unserem Weg liegt, viel zu erzählen. Und Bildstöcke! Gerade die Bildstöcke am Wegesrand mit Darstellungen von Heiligen und Ereignissen, an die man sich gerne zurückerinnert (Mildtätigkeit, Wunder, Heilung) gefallen Cosmic und mir ausnehmend gut und inspirieren uns zu synchronen Phantastereien, welchen Begebenheiten aus unserem Leben man Ehre mit dem einen oder anderen Bildstock in Berlin zollen könnte. Mir fällt zum Beispiel der ereignisreiche Tag ein, als ihm sein Freund Micha das Rückertbüchlein auf den Tisch legte und er sogleich drei Gedichte vertonte, alles an einem Nachmittag! Das wäre wahrlich einen Bildstock wert. Man könnte Cosmic an einem alten, gedrechselten Tisch sitzend darstellen, die in Lettern auf Papier manifestierte Gabe aus Freundeshand empfangend. Der Blick so leicht schräg nach oben, gen Himmel.



Der Himmel tut sich auf, wir wandern am Alt-Main entlang, wo das Flussbett noch nicht begradigt wurde. Herr Schömburg erzählt, dass er auch musiziert und dass jeder seinen eigenen Rückert hat. Der eine hat den Liebesfrühling-Rückert, der andere hat den Totenlieder-Rückert und wieder ein anderer hat wieder einen anderen Rückert. Der ehemalige Bürgermeister von Schweinfurt wandert auch mit und entpuppt sich als Vogelkenner. Eine Nachtigall will er erkannt haben und auf jeden Fall einen Pirol! Pschht! Tirilirilii macht der Pirol.



Wir wandern auf blumigen Wiesenwegen und Herr Schömburg erklärt, warum der alte Rückert Anno Dingenskirchen überhaupt diese lange Strecke gewandert ist. Er war eigentlich mit der Kutsche unterwegs, von Coburg Richtung Schweinfurt, auf dem Weg zu Weinlese im elterlichen Weinberg (wo sagenhaft, aber wahr Cosmics Elternhaus steht, wie bereits mitgeteilt) und in dieser Kutsche hatte er Gesellschaft von wohl circa drei Damen, die ihm zu viel dummes Zeug redeten. Bei Eltmann stieg er aus. Lieber ging er den weiten Weg allein auf Schusters Rappen, als das Geschnatter weiter zu ertragen, wie er später in einem Brief festhielt. Und so stieg er aus, und wanderte einmal und nie wieder diese Strecke. Zwanzig Kilometer ungefähr.



Wir wandern über Stock und Stein und Herr Schömburg erzählt mir eine ganze Menge. Ich bin beeindruckt, dass er von ein
er Sache mehr weiß, als Dr. Kreutner, der Vorsitzende der Rückertgesellschaft, nämlich, was es mit den Jahren um den Tod von Rückerts Frau Luise auf sich hat. Schreibtechnisch! Hat er nun seinen Schmerz über den Verlust in Zeilen gefasst oder ist er verstummt, wie Kreutner meinte, als ich ihn darauf ansprach? Herr Schömburg erzählt, in welcher antiquarischen mehrbändigen Ausgabe er späte Verse von Rückert aus dieser Zeit gelesen hat. Er beschriebe in einem Gedicht sogar ihr blasses Antlitz, ihr Totengesicht. Ich bin beeindruckt von unserem Wanderführer. Eine kleine Rast auf einer Waldlichtung am Fluss. Cosmic und ich haben weder Rücksäcke noch Proviant dabei, aber Uli schenkt uns einen Apfel, den er für uns mit seinem Taschenmesser teilt.



Die nächste Rast ist dann auch schon das Mittagessen in einem zünftigen Turnheim (oder wie man das nennt). Schnitzel und so Sachen sind auf der Speisekarte. An den Fenstern hängen Gardinen, die man früher Stores genannt hat. Und Wimpel. So Zeugs. Der Kaffee ist das Komplizierteste, weil die Maschine neu geliefert ist und die Bedienung erst die Betriebsanleitung lesen muss, aber sie hat es geschafft! Draußen ein Zigarettchen. Wir spielen Kung Fu Fighting auf dem Sportrasen und Cosmic, der Super-Handballer (früher) unterstellt mir einen Hang zu unkoordinierten Bewegungen. Ich wäre bestimmt so eine gewesen, die den Ball immer verhauen hat. Also irgendwo hingeworfen, wo er nicht hingehört. Ich bin empört, aber er hat Recht. Ich hab nicht gut geworfen, aber aus Faulheit, weil es mir schnurzpiepegal war. Ich und unkoordiniert! Frechheit! Das wird er noch büßen, mir solche schlimmen Sachen zu unterstellen, ich schmiede bereits an einem Racheplan.



Ich kann leider gar nicht sagen, wie die Kirchen auf unserem Weg alle geheißen haben, in denen wir waren, aber jede hat etwas für sich. In einer ist sogar Gottesdienst! Die Mitwandererin, die ich mit meinem Sprüchlein im Bus zu rühren vermochte, erkennt fachmännisch, dass eine Kommunion gegeben wird. Sehr schöne Kostüme sind zu sehen. Das kennt man ja von den Katholiken, aber man geht viel zu selten zu so einer Aufführung! Auch hat das Volk sehr schön und andächtig mitgesungen. Die Reihenfolge von den Kirchen weiß ich auch nicht mehr genau, aber das ist ja auch nicht so wichtig. In einer waren so Klosterfrauen-Gruften mit schöner Bildhauerei drauf. Zum Beispiel der Totenkopf vom FC Sankt Pauli!



Draußen auf dem Kirchhof war dann schöne Sonne und ich hab schöne Fotos von Uli und Cosmic gemacht, wo man gleich denkt, wir hatten dauernd schönes Wetter. Daran erinnert man sich gerne. Uli lacht sehr schön und Cosmic spielt Vogel flieg. Das ist mir erst aufgefallen, als ich die Fotos daheim angeschaut habe. Wie kann man so ein schönes Foto zufällig machen. Sachen gibt’s...



Nach einer Weile kommen wir sogar zu einem Quellsee mit einer unterirdischen Höhle und einem Flüsschen, wo das Gestein ganz orange war, weil viel Eisen drin ist. Glaub ich. Manche haben Kneipp-Badekur gespielt aber wir hatten keine Lust die Schuhe und die Strümpfe auszuziehen. Die Sonne war auch gerade wieder weg und Cosmic setzt sich die Kapuze auf und sieht aus wie Merlin, der jeden Baum beim Vornamen kennt. Dann hat er die Sonne wieder herbeigezaubert und wir waren auf einem Lehrpfad, wo so Sachen zum Natur lernen aufgebaut waren. Eine Biberburg und lauter Baumstämme aus verschiedenen Hölzern. Da konnte man draufhauen und den Unterschied hören, wie hart Eichenholz ist im Gegensatz zu Weide oder Pappel. Das haben fast alle gemacht, den Hammer geschwungen und draufgehauen. Cosmic auch. Ich hab nur zugeschaut. Zu faul! Weiter geht die Wanderung (wanderwanderwander). Eine Weile ist Cosmic ganz vorne, als wollte er die Gruppe anführen, Uli und ich trödeln hinterher, sehen ihn und den Rest der Gruppe nur noch in der Ferne und erzählen uns Geschichten von früher. Er von seinen Ausbüchsereien nach Indien und Berlin, ich erzähle ihm Indianergeschichten.



Wir kommen zu einem Schloß, das Cosmic und mir super gefällt. Ich mache gleich Fotos, wo man einwandfrei sieht, dass Cosmic der geborene Schloßherr ist, ja wie dafür gemacht. Bei keinem anderen aus der Wandergruppe könnte man denken, dass ihm das Schloss gehört, aber die Art schon alleine, wie familiär Cosmic auf das Schloßportal zugeht. Das kann kein Zufall sein! Sicher ist Reinkarnation im Spiele!



Nach dem Schloßbesuch waren wir noch in einer Kirche, die rund war, mich aber trotzdem nicht beeindruckt hat und dann noch ein jüdisches Viertel und dann in eine Gastwirtschaft. Cosmic, Uli, sein Papa Schömburg und ich setzen uns draußen in die späte Nachmittagssonne und trinken einen Haufen Cappuccino. Herr Schömburg isst Wurstsalat und trinkt dazu ein Bier. Wir machen lustige Fotos, auf einem winkt Uli in die Kamera, damit es richtig schön nach Ausflug und Erinnerungsfoto ausschaut. Das hat auch einwandfrei geklappt, wie man sieht.



Die Wandergesellschaft im Inneren der Gastwirtschaft findet kein rechtes Ende mit der Kaffeetrinkerei und Cosmic muss dem Herumgetrödel ein Ende bereiten, weil wir schließlich alsbald zurück nach Schweinfurt müssen, um pünktlich zu unserer Essenseinladung zu kommen. Es gibt Spargel und einen Nachtisch, der Cosmic schon in Gedanken in Aufruhr versetzt. Also los jetzt.

Schnell umziehen! Die erdverkrusteten Schuhe aus und saubere Sachen an! Zu Füßen des Beifahrersitzes liegt die Tüte mit den drei Flaschen Wein, die ich als Mitbringsel zum Essen gekauft habe. Eine Notfallaktion am Tag vorher, dem Samstag als wir zur Probe unseres Auftritts aufbrachen. Schnell! Ein Weinladen! Wo? Hier! Okay! Ich steig schnell aus, bin gleich zurück! Laden schon zu, klopf klopf, macht auf. Wie nett! Sehe gar nicht gleich, dass ich in einem italienischen Weingeschäft gelandet bin. Unwirsch bemängle ich das ausschließlich aus Weinen italienischer Herkunft bestehende Sortiment. Die Frage nach dem besten Weißwein, zu Spargel passend und bitte möglichst überhaupt nicht fruchtig, gerne Richtung Grüner Veltliner oder Vinho Verde (spritzig, trocken), wird abschlägig beschieden. Das würde ja gar nicht zum Spargel passen. Ich hoffe immer noch, dass so ein kleiner Einzelhändler fachmännische Kenntnisse haben könnte und ich nur wieder unbelehrbar auf meinen Vorurteilen herumreiten will, zeige mich also in der Not willig und verlasse mit drei verschiedenen Flaschen italienischer Rebsäfte seiner Empfehlung das Geschäft. Cosmic berichte ich den misstrauenerregend günstigen Preis für drei Flaschen des geforderten „besten Weins“. Sicher alles nur Vorurteile! Und gibt es nicht Menschen, die freiwillig Wein aus Italien trinken? Eben!

Wir kommen an. Als Cosmic einparkt, erkenne ich seinen Bruder, der uns durch die Scheibe zuwinkt. Er ist mit seiner kleinen Familie gekommen, die auch gerade aus dem Auto aussteigt. Aus dem Wohnzimmer dringt Fussballbegeisterung in die Küche. Ein wichtiges regionales Spiel, die Mannschaftsaufstellung habe ich leider vergessen. Cosmics Schwestern wuseln in der Küche herum, um allen ein schönes Mahl zu zaubern. Ich bin ganz angetan von den schönen Wackersteinen auf den Töpfen, in denen sich der Zaubernachtisch nach Mama-Rezept befindet. Kartoffeln müssen noch geschält werden und die Sauce Hollandaise! Oder war es Bernaise? Auf jeden Fall muss Cosmic mithelfen. Das macht er sehr gut. Nach Anleitung seiner kleinen Schwester rührt er vorsichtig die Soße, die wenig später auf dem schön gedeckten Tisch steht. Der Wein wird geöffnet. Mir ist ein wenig bang. Die Farbe ist schon etwas misstrauenserregend. Dieser gelbliche Farbton lässt nichts Gutes befürchten. Aha. So schmeckt also ein Wein, der nach Ansicht des Verkäufers zum Spargel zu empfehlen wäre. Mir fehlen zwar die Worte, aber mutig bekenne ich, dass es sich bei dem mitgebrachten Tropfen nicht um ein Getränk handelt, das ich weiter zu trinken gedenke. Nicht dass der Wein ausgesprochen schlecht wäre, wahrscheinlich sogar recht vollmundig, sofern man im Einzelfall auf einen beerig lieblichen Tropfen mit einer ausgeprägten Natursüße aus sein sollte. Erlösung naht. Cosmics Papa hat noch eine offene Flasche Riesling griffbereit. Der Abend ist gerettet! Und danach einen schönen Julius-Spital Silvaner. Der Spargel ist genauso wunderbar wie die Kartoffeln, der zarte Schinken, und die Sauce Bernaise oder Hollandaise. Der österreichische Nachttisch Mohr im Schlafrock Hemd nach Mama-Rezept befindet sich auf dem deutschen Drogenindex.



Der Abend endet auf der lauschigen Terrasse mit einem Pfeifchen und einem Zigarettchen und noch einem und dem wunderbaren Silvaner und Papa und Cosmic und Schwester und Schwester und Bruder und Schwägerin und Nichte und Neffe und Sebastian und einem Geburtstagsständchen über’s Telefon nach New York. Nicht nur Friedrich Rückert hat an diesem Tag Geburtstag. Woran erkennt man, dass der Mond zu- oder abnimmt, fragt Cosmics Papa in die Runde. Und erklärt den gegensätzlichen Bogen sehr schön mit zwei lateinischen Begriffen, was zu veritabler himmlischer Verwirrung führt. Aber schön! Der Abend. Ich glaube, den Hunden hat er auch gefallen. Doch ganz bestimmt. Und mir sowieso.

alle Bilder.

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