Ich versuche, den siebzehnten Mai zu erinnern, was nicht schwer ist.
So viele Bilder im digitalen Herzen und weit mehr. Ich versuche mich genau zu erinnern. Es war die letzte Reise-Etappe, der letzte Tag, vor unserer Rückkehr nach Berlin. Ein Montag, 17. Mai 2010. Ich erinnere mich, was an diesem Tag vor zwei Jahren war. Ich begegnete Cosmic in der Galerie Sakamoto. Wir kannten uns nicht. Der Rest ist Geschichte, unsere Geschichte. Eine Bildergeschichte, eine Filmgeschichte. Eine Geschichte von zwei Menschen, die sehr eigensinnig sind, und mit dem Eigensinn des anderen, den Außenstehende mitunter exzentrisch empfinden mögen, gut zurechtkommen. Vorsichtig formuliert. Wenn man tief stapelt, ist die Wucht geringer, wenn es einen Erdrutsch gibt.
Das schrieb ich gestern und lasse es gerade auf mich wirken. Erst einmal Kaffee. Gleißende Sonne auf dem Balkon, wo ich gerade allerdings nicht bin, weil ich gerne den Kontrast der Buchstaben beim Schreiben sehe. An einem heißen Tag wie diesem heute, schlüpft man aus dem Bett unter die Dusche und zieht sich nur die Kaffeetasse an. Vor dem Klapprechner auf dem Bodenkissen. Orangensaft, Erdbeeren, Schatten, weich. Vogelgezwitscher am Gipsdreieck. So versuche ich mich zu erinnern, die Tasten zu füttern.
Es begann damit, dass ich mich an die Geschichte erinnerte, die Cosmic mir aus seiner Kindheit erzählte. Er hatte mit Freunden ein Spiel, das einen verrückten Namen hatte. Es hieß Bumbadala. Das ist ein geheimes Wort, und bedeutet Afrika spielen. Ein paar kleine Jungs trafen sich auf den Feldern in Gerbrunn und zogen sich nackig aus und spielten Afrika! Im Sommer, wenn es heiß war. So wie heute. Sie versteckten sich schnell in den Maisfeldern, wenn ein Bauer näherkam und für den Fall, dass man flüchten musste, hatte man den Gürtel noch an, um den die Unterhose gewickelt war. Für den Notfall. Einmal kamen Flieger und flogen ganz tief über die Felder und die kleinen Afrikaner hatten Angst, dass sie entdeckt werden. Aber es ging gut aus. Afrika blieb unentdeckt!
Ich sah diese Bilder vor meinem inneren Auge und bekam große Lust, Afrika zu besuchen. Wie es wohl heute aussehen mag? Gut dreißig Jahre später? Ob man noch etwas von dem Zauber spüren würde? Wo das genau gewesen wäre, fragte ich. Und ob wir da nicht auch hinfahren könnten. In die Nähe von Würzburg, einen kleinen Ort am Rande der Stadt, da wo er aufgewachsen sei, bis die Familie nach Schweinfurt umzog. Gerbrunn heißt der Ort. Es sei schon ein Umweg, aber wir gucken mal. Gerade zu dem Zeitpunkt ergab sich ein geschäftlicher Anlass hinzufahren. Eine Besprechung und irgendeine wichtige Unterschrift. Da könnten wir doch auf dem Rückweg nach Gerbrunn, meint Cosmic. Ich freue mich. An Würzburg bin ich in meiner Kindheit ein paar mal vorbeigefahren, auf dem Weg zu den Großeltern, die nicht weit davon ein Haus hatten, und wo ich als Kind oft die Sommerferien verbrachte und im Main badete. Aber in Würzburg war ich nie.
Der siebzehnte Mai begrüßte uns mit strahlendem Sonnenschein. Solche schlichten, wahren Sätze schreiben Kinder in Schulaufsätzen. Cosmic hat heute einen Anzug an und wie er da so steht, mit seinem Drei-Tage-Bart und seiner Hilfiger-Sonnenbrille, die er schon zig mal für immer verloren glaubte, wie er da also so steht, im sonnigen Ebracher Hof, den Cappuccino nimmt, kommt er mir ein bißchen vor wie ein Agnelli-Erbe, der eine Nacht in Rom durchgefeiert hat. Und jetzt eine Spritztour in die Toskana. Ich bin dabei. An sanften Hügeln vorbei, Rapsfelder. Raps, soweit das Auge reicht. Gleißendes Gelb, mit der Sonne um die Wette. Weinberge. Gelbgrüne Toskana. Ich träume und schon sind wir da. Ein kurzer Halt, Cosmic springt aus dem Auto, um an einer Wohnungstür zu klingeln. Er möchte sich beim Freund seiner Schwester, der hier lebt und leidenschaftlich gerne kocht, erkundigen, wo man später gut essen könnte, am liebsten regionale Küche. Ich mache ein Foto, wie die beiden fachsimpeln, sie stehen im Wagenschlag, während ich auf dem Beifahrersitz warte. Das Bild ist nur noch in meinem Kopf, ich habe es gelöscht. Es war eigentlich sehr schön, das Licht... wie die beiden da so stehen. Aber ich kenne die kleinen Eitelkeiten und verstehe sie alle. Eine gewisse Silhouette, eine verkürzte Perspektive, die das eine oder andere Detail unvorteilhaft erscheinen lässt. Ich verstehe jede Befindlichkeit und diskutiere wenig. Dieses Bild hat keiner außer mir je gesehen. Aber ich kann es abrufen. Meine Festplatte im Kopf hat eine unerhörte Speicherkapazität.
In einer schönen Altbauwohnung in Würzburg. Fischgratparkett, Flügeltüren. Schöne Möbel. Viele Bücher, die blauweiß gestreifte Tapete in der Küche. Wie ein Strandkorb. Eine ganze Wand im Flur mit weißen Regalen, dicht bestückt mit CDs klassischer Musik. Ich denke, das ist so eine erlesene Auswahl, und diese Fülle... der Bewohner muss etwas mit Musik zu tun haben. Und tatsächlich, Raphael, Cosmics Geschäftspartner leitet neben den Kunstmarktgeschichten der beiden einen Chor. Die Sonne scheint immer noch, ein paar Wolken ab und zu, wir gehen auf den kleinen Balkon. Kaffee, Zigarette. Ich checke ein Video auf meiner Kamera, das ich am Abend in der Disharmonie aufnahm, ich muss es auf der Kamera schneiden, sonst kann ich es nicht herunterladen, es ist zu umfangreich. Es zeigt die Szene, als Cosmic mich auf die Bühne bat und von uns erzählte. Und wie er danach das Lied sang, vom Mond. Die beiden, Raphael und Cosmic lassen mich für eine Weile allein, um die Unterschrift zu erledigen. Ich habe alles, was ich brauche, einen Platz an der Sonne, meine Kamera und eine Tasse Kaffee. Die beiden waren nicht einmal eine Stunde weg und sind schon wieder zurück. Es stellt sich heraus, dass die vermeintlich fehlende Unterschrift bereits existierte, es also gar keine Notwendigkeit gab, nach Würzburg zu fahren. Aber wie gut... ohne diesen kleinen Irrtum hätten wir uns vielleicht gar nicht auf den Weg gemacht. Das sollte so sein, meint Cosmic später in einem Café in Gerbrunn.
Wir machen uns direkt auf den Weg. Gerbrunn, der Ort seiner Kindheit. Mindestens zwanzig Jahre war er nicht da. Ich bin auch ganz aufgeregt.
[Kleine Schreibpause in der Sonne.]
Ja – wo war ich... wo sind wir. Wir fahren direkt in das kleine Dorf, ohne Umwege in die Straße am Rande der Felder, wo er als kleiner Junge wohnte. Wir parken ganz in der Nähe des Hauses. Im Stückackerweg. Es ist ein einfaches, dreistöckiges Haus für mehrere Familien, in der oberen Wohnung mit Balkon auf die weiten Felder wohnte er mit Mama und Papa und den beiden Geschwistern. Die kleinste Schwester war noch nicht geboren. Ein paar Wolken haben den Himmel kurzzeitig verdunkelt, wir stehen vor der Garage. Das war das Fußballtor. Links davon kann man in den kleinen Garten gehen, der eigentlich nur ein Stück Rasen ist, das bis zu den Feldern reicht. Was für eine Weite. Wieder gelb. Wieder Raps. So weit das Auge reicht. Cosmics Blick streift nach oben, zu den Fenstern. Wir gehen wieder vor das Haus. Aus einem der offenen Fenster im Erdgeschoss schaut eine jüngere Frau, sie unterhält sich mit einer anderen Hausbewohnerin, die auf dem Treppenabsatz steht. Cosmic würde gerne noch einmal das Haus von innen sehen und erklärt, dass er hier vor vielen Jahren mit seiner Familie lebte. Ob das möglich sei? Aber ja.
Wir gehen hinein. Das Treppenhaus ist in sonnigem Gelb gestrichen. So war es auch früher schon, sagt Cosmic. Wir gehen eine Treppe tiefer, in den Keller, da gibt es eine kurze Erinnerung... irgendwas mit eingeschlossen sein... und da, an der Türschwelle, da ist die kleine Tochter vom Nachbarn in Scherben gefallen und hat sich die Knie ganz böse zerschnitten. Ja, da war das... Wir könnten ja vielleicht mal nach oben schauen, und klingeln? Warum nicht. An der Wohnungstür, ganz oben. Nach kurzem Klingeln nähert sich jemand der Tür und macht auf. Es ist eine Mama um die dreißig. Hinter ihr im Flur zwei kleine Jungs, Spielsachen auf dem Boden, ein Fußball. Cosmic erzählt, dass er hier gewohnt hat. Die Frau ist sehr freundlich und entschuldigt sich, dass sie uns nicht hereinbitten kann, weil sie gerade auf dem Sprung ist, der eine ihrer Jungs muss zum Fußballtraining. Wie alt er denn ist, fragt Cosmic. Elf. Siehst du, so alt war ich damals auch, sagt er. Es sieht noch alles so aus wie in seiner Erinnerung, kaum verändert, so weit man die Wohnung erahnen kann, beim Blick durch die Tür. Wir verabschieden uns und drehen uns um. Auf einem Treppenabsatz steht ein Gummibaum, ein Teil der Wand ist aus bunten Glassteinen. Wenn man durch den rosa Stein sieht, kann man in die Vergangenheit schauen, wie durch ein Kaleidoskop. Staunender Blick durch die Glasbausteine der Kindheit. Die Straße runter. Cosmic blickt zurück. Ich komme mit.
Nach rechts. Wo der Stückackerweg endet, und der Wald anfängt. Und die Felder. Afrika. Das kleine Waldstück, waren da alte Kabelrollen... ohne Kabel? Irgendsoetwas. Abenteuerspielplatz. Ich erinnere mich auch an solchen Tage und Plätze und Spiele in den Wäldern meiner Kindheit. Lager bauen, Feuerchen machen. Alles so ähnlich... Und auch ein Feldweg. Vielleicht wollte ich es auch deswegen so gerne sehen, weil ich an die Spiele im Wald und den Feldern meiner Kindheit dachte. So viele Ähnlichkeiten. Was Kinder eben spielen. Wir biegen in den Feldweg, am letzten Haus vorbei führt er leicht nach oben, bis zum Horizont. Der Himmel bricht auf. Cosmic erzählt noch einmal von den Flugzeugen. Und dem wichtigsten Ort, da oben, da hinten. Man sieht in der Ferne einen wild bewachsenen Hügel und da laufen wir jetzt hin. Das ist der Schutti. Der Schuttberg. Ein wildes Kinder-Königreich aus Schottersteinen und Sand und Erde. Damals noch nicht so wild und grün wie wir ihn jetzt sehen. Da oben konnte man machen was man wollte. Freies wildes Land. Schönster Spielplatz ohne Grenzen. Hier kam kein Bauer mehr hin, weil es keine Saat zu beschützen gab, zwischen Steinen und Geröll. Es ist ein Paradies. Ich denke an Island, an die Steinwüsten im Hochland, Sprengisandur, die Steinpiste. Es gibt noch Schotter und Geröll da oben, auf dem Schutti. Rundherum wilde Natur. Cosmic tanzt von einem Schotterberg zum anderen und schaut ins weite Land. Und erinnert sich. Weit zurück. Es ist, als wären wir am Ziel. Das ist der schönste Ort der Reise und dieser Nachmittag schenkt ihn uns mit tiefblauem Himmel. Stille und Wind, wie an einem Sonntag. Es ist ein Sonntag. Dieser Montag ist ein Sonntag. Daran gibt es nichts zu rütteln.
Das Bild, das sich mir zeigt, da im Osten oder ist es Süden... dieser Blick auf dieses gelbe Feld, eingebettet in saftiges gelbes Grün, irgendwo links ein altes Gemäuer, vielleicht ein Getreidespeicher. Das Bild erinnert mich an Vincent van Goghs Gemälde einer Landschaft bei Auvers. Ich habe einen Druck davon, in unrealistischen Farben, viel zu leuchtend, viel zu viel Gelb darin, viel zu viel Sommer darin. Van Goghs Original, das in der Münchner Pinakothek hängt, leuchtet viel weniger, die Farben verströmen nicht diese sommersatte Wärme, es ist viel blauer, das Original. Aber ich liebe diesen verfälschten Druck, der neben einer Tür hängt. Und immer wenn mein Blick diese Landschaft streifte, in den Wochen davor, träumte ich davon in dieser Landschaft zu sein. Durch diese Landschaft zu wandern. Ich bin kein Riesenfan von Vincent van Goghs Bildern und auch nicht von Kalenderdrucken. Aber dieses hat es mir angetan. Und da stand ich. Mittendrin in meinem Bild. In Auvers. In Gerbrunn. Es gibt das wirklich. Dabei dachte ich, dass ich vielleicht bei der Rückertwanderung darauf treffen würde, auf dieses Bild. Nicht annähernd. Ich musste nach Gerbrunn. Am siebzehnten Mai.
Auf meiner Kamera gibt es eine kurze Filmsequenz, die Cosmic zeigt, wie er über die Hügel tanzt. Ich sage tanzen, er würde vielleicht sagen stolpern. Aber ich sage tanzen. Du hast getanzt. Irgendwann wird man es sehen können. Geschnitten mit den Bildern meiner Kamerafahrt über die chronologischen Bilder unserer Zeit, wie sie da hingen, in der Disharmonie, unterlegt mit deinem
Neujahrsmorgen. Der Grobschnitt, der Gänsehaut verursacht... “Unter Hügeln und am Meer, harren Trümmer uns zu lehren, dass die Zeit in Kreisen mäht, und alles Irdische vergeht...“ und springst auf den Schuttberg und drehst dich um und schaust zum Himmel.
Du nimmst noch einen Stein und wir gehen den Weg zurück. Stückackerweg. Da an dem Mäuerchen habt ihr Sweet gehört. Ballroom Blitz. Mit deinem Kassettenrekorder. Und Luftgitarre gespielt. Und da, an dem Haus da hinten da ist der heilige Georg aufgemalt. Das Bild hat dich immer schon fasziniert. Georg, der Drachentöter. Dessen Namen du trägst. Und da rechts. Das Tapeten- und Gardinengeschäft, das gibt es noch... ob es auf ist? Sieht so geschlossen aus. Oh, ein Schild, wegen Krankheit... eine ältere Frau vor dem Haus, sie weiß Bescheid... das Geschäft hat schon seit einem Jahr nicht mehr auf. Wir gehen zum Auto zurück und tuckern ein bißchen kreuz und quer durch die kleine Siedlung. Überall Erinnerungsfetzen. Vorbei an einer modernen Kirche, da schau, rechts ein Café, da könnten wir einen Kaffee trinken, ja komm. Draußen in der Sonne, im Café, Blumentöpfe überall, da hinten eine alte Kirche, neben uns ein Maibaum. Schön, ich denke an Wales. Die kleinen Dörfer in Südengland, als ich auf den Spuren von Dylan Thomas war, vor zwanzig Jahren. Genau so. Sonntagsruhe überall. Cosmic entdeckt ein Buch über Gerbrunn an der Theke. Eine Heimatchronik. Beim Blättern fällt ihm eine Todesanzeige besonders auf. Georg Adam Hofmann, geboren am 31. Oktober 1799 in Gerbrunn, gestorben am 2. April 1867. Privatier. Es gibt ein bißchen Text um seine Verdienste, er hatte wohl eine gewisse Bedeutung und setzte sich für die Abschaffung eines Zinssatzes für die Bevölkerung ein. Ich habe mir nicht gemerkt, worum es ging, aber Cosmic betrachtete lange fasziniert die Anzeige. “Schau, er hat fast den gleichen Geburtstag wie ich, am 31. Oktober geboren. Und heißt auch Georg. Und das mit diesem Zinsgeld... das ist schon merkwürdig“. Cosmic beschäftigt das Zinsgeldsystem auch. Ich fotografiere ihn mit dem Buch und die Anzeige. Vielleicht gibt es das Buch ja zu kaufen? Ich frag mal. Die Bedienung sagt, da rechts ist gleich das Rathaus, da gibt es das. Das Rathaus hat leider schon zu. Was? Schon 19 Uhr? Das ist unglaublich. So lange sind wir schon unterwegs? Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Komm, lass uns noch eine rauchen und vielleicht noch einen Cappuccino...?
Auf vergessenen Wegen zurück mit dem Auto durch Gerbrunn, da schau, in dem Laden haben wir an Fasching immer Luftschlangen gekauft und da Eis... Cosmic ist ganz weit weg und doch ganz nah. Die Straße nach Würzburg. Er hat einen besonderen Ort im Auge, in seinem undurchschaubaren Hinterkopf. Da will er hin. Ja, das muss ich dir auch noch unbedingt zeigen. Den Schützenhof. Es geht beinah serpentinenartig nach oben. Ich bin sehr fasziniert von den Weinbergen mitten in der Stadt, beinah irreal. Sehr schön. Immer weiter nach oben. Es lohnt sich, du wirst es sehen, sagt Cosmic. Wir sind am Ziel. Über den Hügeln der Stadt, auf dem Nikolausberg. Es ist ein Biergarten mit einem unfassbar weiten Blick über das Maintal. Der Fluß mäandert zwischen Weinbergen, wenn man es nicht wüßte, könnte man denken, es ist der Rhein, irgendwo an der Loreley. Ein Ort, an dem Cosmic an vielen Sonntagen mit seiner Familie war. Man fuhr zum Essen hin, es gab Schnitzel und Pommes Frites und erfreute sich an dem schönen Ausblick. Und es gab einen Papagei in der Wirtstube und andere Tiere. Eine Ziege ist immer noch da, schau. Wir sitzen auf den rotlackierten Gartenstühlen, die gleichen Stühle und Tische wie früher. An einem Tisch an der Mauer kann ich weit das Maintal überblicken. Diesen Ort besuchen vor allem die Würzburger, sagt Cosmic, Touristen kennen das gar nicht. Cosmic trinkt ein Bier, ich nur Wasser, was ich mir eigentlich so gut wie nie bestelle, aber mir ist so. Wir wollen ja noch essen gehen. Es ist ein bißchen nieselig geworden und der Biergarten fast leer, der richtige Moment um zu gehen. Ein schöner Ort.
Bergabwärts, links, ah – da rechts da war doch ein Schwimmbad... das gibt es nicht mehr, interessant... Wir fahren in die Innenstadt, die Altstadt. Das empfohlene Restaurant hat heute am Montag Ruhetag, aber unweit am Marktplatz gefällt uns der Ratskeller. In einer Nische im Gewölbe studieren wir die imposante Karte mit regionalen Leckereien. Geld spielt heut keine Rolle, komm! Ich bin auf dem Silvaner-Trip und weiß auf jeden Fall schon, was ich trinke. Cosmic muss ja noch fahren und bestellt brav ein Spezi. Ich habe noch nie einen Autofahrer getroffen, der so gewissenhaft seinen Alkohol-Pegel überwacht. Ich bin stolz auf ihn Und was haben wir eigentlich gegessen? Ein Blick auf die online-Speisekarte bringt mir ein déjà vu bei „Bürgermeisterplatte Tournedo vom Rind und Schweinefilet mit Sc. Béarnaise und grüner Pfeffersoße, Bohnenbündchen und Berner Rösti“ und Cosmic hatte möglicherweise ein Schnitzel aber das darf hier nicht erwähnt werden, also überlesen Sie bitte diese unvegetarische Unpässlichkeit. In Wahrheit hat er natürlich nur den Kartoffelsalat gegessen und mir das Schnitzel überlassen. Ich brauche einfach Unmengen Fleisch! Der Ratskeller also... ja. Ich tauche in diesen Tag und was finde ich noch... Der Weg führte nicht direkt zurück nach Schweinfurt, sondern über einen schönen Umweg, nach Gaibach, wo das Aufnahmestudio von Sven Peks im „Alten Forsthaus“, einer idyllischen ehemaligen Ruine liegt. Dort wurde die poetrYclub-Platte „Goldene Zeit“ vor fünf Jahren gemischt. Leider ist keiner da. Aber in der Nähe, ist noch etwas Sehenswertes – die Konstitutionssäule von Gaibach, zu Ehren der bayrischen Verfassung errichtet. Die Sonne geht langsam unter, und ich kann mir vorstellen, warum das ein attraktiver Treffpunkt war, für die kids, damals. Ein bißchen
was rauchen, die Sonne untergehen sehen... wir kehren zurück. Und da ist noch dieser Baggersee von dem ich hörte. Es ist noch nicht dunkel, aber man ahnt es schon. Ein paar Enten und Schwäne auch irgendwo. Ein bißchen zu aufgeräumt, das Seeufer. Ein bißchen zu glatt, ein bißchen zu gerade. Kein Ruf der Wildnis. Mehr wie ein Parksee, den man nur anschaut, aber sich nicht in die Fluten stürzt. Wir haben so viel Schönes gesehen an diesem Tag. Wir brauchen keinen Baggersee.
Mephisto. Noch einmal... ich sehe auf dem Foto, auf den Bildern, diesen Stapel. Die A-Serie meiner Bilder, die ausgestellt waren. Diese 126 Bilder der
Cosmic-Gaga-Collection. Zwei Jahre, die wir mehr oder weniger miteinander verbrachten. Mal mehr, mal weniger. Aber immer intensiv. Ich hatte die Bilder nach dem Konzert in der Disharmonie vergessen, es gibt drei komplette Sätze. Und einen davon wollte Cosmic mir gerne abkaufen. Ich zögerte. Warum, soll unerwähnt bleiben, aber ich zögerte lange. Er sagte es zum ersten Mal, als er die Bilder nur auf Fotografien gesehen hatte. Dann wieder. Und wieder. Ich war hin- und hergerissen. Nach diesem Tag, auf dem Weg ins Mephisto, als ich das wiedergewonnene Paket auf der Fußmatte liegen sah, hob ich es auf. Nahm es mit. Und in dieser Bar fiel mir ein, dass ich ihm wenigstens eines schuldig war. Er war ja auf fast allen Bildern. Mehr als der Hälfte. Und er hatte als einziger richtig erraten, aus wievielen Bildern ich diese hundertsechsundzwanzig selektierte. Hundertsechsundzwanzig von Zweitausendirgendwas. Ich hab die Zahl wieder vergessen. Ein blödes Ratespielchen in einem facebook-Kommentar. Sag eine Zahl, sag ich. Cosmic: „Dreiunddreißig“. Ich ziehe die Postkarte mit der Nummer dreiundreißig aus dem Set.
Ein Bild, das ich sehr mag. Er auch. Er schwankte, nannte noch eine andere Nummer, sechsundsechzig. Auch schön. Mag ich auch sehr. Aber nimm die dreiundreißig. Die ist es. Ich kritzle eine Widmung auf die Rückseite. Und es ist so dunkel in der Bar, so schummrig, dass Cosmic nicht alles sofort entziffern kann. Vor allem die letzte Zeile, das unter dem Datum. Ich lese ihm vor. „SWC, 17. Mai 2010, (historisch(es Datum)“. Er schaut ein bißchen so ähnlich wie als er durch die Glasbausteine in Gerbrunn schaute, als ich ihm in Erinnerung bringe, das heute der siebzehnte Mai ist. Und auch vor zwei Jahren der siebzehnte Mai war. Und wir uns vor zwei Jahren begegneten. Ich weiß nicht genau, woher die glitzernde Stelle in deinem Augenwinkel kam. Aber meine, das weiß ich genau. „Komm, lass uns wenigstens noch ein gemeinsames Foto machen...“ Denn eine Nummer fehlte noch. Es ist die Nummer Hundertsiebenundzwanzig. 127 Augenblicke Ewigkeit.
[...alle Bilder vom 17. Mai...]