17. April 2014



Drei Momente, die etwas Bemerkenswertes hatten. Und immer mit der S-Bahn zu tun. Am Montag war es, dass ich morgens gegen neun Uhr in die S-Bahn am Hackeschen Markt einstieg. Es ist der Strang, der die Ost-City mit der West-City verbindet, grob gesagt, die Strecke, die Alexanderplatz und Bahnhof Zoo verbindet. Wer regelmäßiger Fahrgast ist, kennt sämtliche Darbietungen von Straßenmusikanten, die sich über Monate, Jahre wiederholen. Mit den ewig gleichen Liedern. Den Trupp von zwei bis drei Leuten, die auf einer Handkarre eine Art Karaoke-Apparat mit beträchtlichem Lautsprecher mitführen, aus dem dann die Rhythmusspur dröhnt, um die Tröten und Trompeten und den begleitenden Stimmungs-Gesang zu untermalen. In aller Herrgottsfrüh gibt es eine scheppernde Version von "When the Saints go Marching in" oder "Hit the Road, Jack", die nicht geeignet ist, um die Lebensgeister auf angenehme Art zu wecken. Zu Applaus oder Zugabe-Forderungen führt die Aufführung nicht. Nicht etwa, weil Berliner Fahrgäste griesgrämig oder unmusikalisch wären. Ich kann das beurteilen. Na ja. Die Welt ist rund und bunt und manchmal ein bißchen lärmintensiv. Gerade in den Morgenstunden, wenn man oft noch im Alpha-Zustand ist, wo man lieber mit geringfügiger Geräuschkulisse in den Tag gleiten will. Organisch in Zeitlupe erwachen, Halbschlaf-Traumfetzen vorsichtig in die Schublade legen... bitte keinen Krach. Ach.

Montag. Ich betrete den S-Bahn-Wagon. Entfernter, von hinten in der Mitte höre ich etwas, das ein bißchen klingt, wie Street Hassle. Ein anderes Stück, aber ähnlich. Dazu den Rhythmus einer sehr percussiv gespielten Gitarre. Das Cello macht etwas, das sehr treibend ist, ja hypnotisch. Es nervt überhaupt nicht. Ich registriere einen Mann in meiner Nähe, Ausschau haltend, wer da musiziert. Er holt sein Geld aus der Tasche und bewegt sich Richtung Musik. Ich vergesse, mein Buch aus der Tasche zu nehmen. Fahrgäste haben die Augen geschlossen, wippen. Keine Abwehr. Ein unsichtbares Starkstromkabel spannt sich rhythmisch vibrierend durch den fahrenden Raum. Neugier treibt mich weiter. Ich will das sehen. Von wem das kommt. Im Bereich vor den Türen, wo mehr Platz ist als im Gang, auf dem Fußboden, ein Mann Mitte Zwanzig im Schneidersitz. Die Augen geschlossen, der Beat entsteht auf den Saiten einer Westerngitarre. Dreadlocks. Ein fragiler, hellhäutiger Mensch. Neben ihm ein Cello und eine Frau, die es mit einem Ausdruck zwischen hingegebener Konzentration und erotisiertem Lächeln spielt. Grauschwarze Klamotten, trotzige Ausstrahlung. Keine Frisur. Wild, struppig, eigensinnig. Mitunter haut sie bei den Tönen ein bißchen daneben, aber mit großer Impulsivität, und sie bleibt im Flow, hält durchgängig die Spannung. Als ich auf Augenhöhe mit dem Cello bin, spüre ich die Vibration des großen Resonanzkörpers. Auf dem Boden zwei Mützen. Schwarz, schon gut gefüllt. Ein paar Schritte weiter finde ich einen Platz, von dem ich die beiden sehen kann. Das Stück dauert so lange wie meine Fahrt. Kurz vor Bahnhof Zoo Ende. Und dann Applaus. Ein nicht geringer Teil schenkt Beifall. Ich kann mich nur an ein einziges Mal in all den Jahren erinnern, dass jemand in der S-Bahn Applaus bekommen hat. Vor Jahren ein russischer Musiker mit einer Gitarre, der etwas Herzzerreißendes sang; auf Russisch. Da habe ich auch geklatscht. Mit ein, zwei Tränen in den Augenwinkeln. Es entscheidet sich in Sekunden, ob jemand den Nerv trifft. Wie einig wir uns sofort waren, wir zusammengeworfener Haufen von Fahrgästen in einer Berliner S-Bahn.

Ein anderer, mir erinnerbarer Moment am Abend. Im RBB ein Dokumentarfilm über den Berliner S-Bahn-Ring, der mit dem Bau der Mauer zerbrach, durch die Teilung zerstört wurde. Und, ich glaube 2002, nach über vierzig Jahren wieder geschlossen. Heil gemacht. Da war der Moment, als die S-Bahn-Züge aus beiden Richtungen immer näher aneinanderrückten, um endlich wieder verbunden zu werden. Es war eine derart bildhafte Wiedervereinigung, die mich fassunglos auf den Fernseher starren ließ. Da hätte ich gerne ein Taschentuch in Reichweite gehabt. Den Rotz dann mit dem Handrücken abgewischt. Die Dokumentation widmete sich jeder Station des Berliner Rings, die Kamera spazierte in die Straßen rundherum, zeigte Sehenswürdigkeiten und Menschen, die dort zuhause sind.

Und seit gestern, am S-Bahnhof Hackescher Markt, brennen auf der rechten Seite vom Treppenabsatz Kerzen. Weiße Lilien schmücken die Mauer und den Boden, wo sonst immer ein, zwei Obdachlose residierten. Einer saß im Rollstuhl. Oft waren es auch mehr als zwei, man traf sich dort, sie tranken gemeinsam und stritten sich auch ab und zu recht laut. Jetzt sind da nur noch Kerzen und die Blumen. Gestern wie heute. Daneben auf dem Boden ein Zettel, auf dem geschrieben steht: Bitte nicht wegnehmen, ein Freund von uns ist hier gestorben. Es sieht feierlich aus. Ein Altar für jemanden, dessen Heimat zwei Quadratmeter vom S-Bahnhof Hackescher Markt waren. Wer bekommt schon eine Gedenkstätte in Berlin Mitte. Wenn auch nur für ein paar Tage. Irgendwie grandios, trotz der Umstände. Drei Eindrücke, die ich nicht vergessen will.

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