19. April 2012



Große Hamburger Straße. So oft laufe ich da gar nicht lang, obgleich so nah. Man hat ja so seine festen Anlaufpunkte, die Wege von da nach da, wenn man nicht spazieren geht und das ist meistens der andere Bogen, unterhalb vom Gipsdreieck, Richtung Rosenthaler und Sophienstraße. Ist eigentlich nur sinnvoll, das für jemanden zu erwähnen, der eine grobe Vorstellung von dieser Ecke von Berlin Mitte hat, vom sogenannten Scheunenviertel. Die meisten Berlin-Besucher, man kann eigentlich seit gut zehn Jahren sagen: Alle kennen den Hackeschen Markt und die Oranienburger Straße. Da kommt man auch schon mal beim Flanieren in die Große Hamburger Straße. Ich laufe auch sehr gerne da in der Nachbarschaft herum, besonders wenn ich nicht in Eile bin, oder wenn ich Richtung Museumsinsel will, oft nur, um einen anderen Weg als den gewohnten zu nehmen. Um die innere Landkarte aufzufrischen. Und um mich zu erinnern, was für atmosphärische Ecken da zu Füßen meiner Bleibe liegen. Wenn man einen Sinn für Patina und bauliche Details hat, kann man preisgünstig sehr schöne Augenblicke haben. Solche wie die, für die man eine Städtereise nach Paris macht oder Wien oder eben nach Berlin.



Und wenn ich dann begreife, immer wieder aufs Neue, dass es mich nur die Entscheidung kostet, einen kleinen Schlenker auf meinen alltäglichen Wegen zu machen, bin ich sehr dankbar. Man sollte die Wirkung von der Grundstimmung eines Stadtteils auf die eigene Verfassung niemals unterschätzen. Es gibt ja inzwischen sogar Studien, dass Glück ansteckend wirken soll. Wenn man in einem Haus oder in einer Straße mit einer Überzahl an zufriedenen, heiteren oder wagemutigen Menschen lebt, soll das unbekannterweise ansteckend sein. Auch wenn man nie persönlichen Kontakt pflegt. Das scheint irgendwie die Atmosphäre aufzuladen und sich in Wellen fortzusetzen. Wahrscheinlich wie jegliche mentale Verfassung, deren Färbung gehäuft einen Dominoeffekt bewirkt. Wenn man zum Beispiel einfach nur die Brunnenstraße Richtung Wedding, ganz im Norden, Ecke Voltastraße langgeht, spürt man eine ganz andere Atmosphäre als im südlichen Teil der Brunnenstraße. Ja klar, andere Bevölkerungsstruktur schafft eine anders gefärbte Infrastruktur, auch atmosphärisch. Man taucht ein, verbindet sich, atmet ein, atmet aus, verströmt sich, nimmt auf. Ich wüsste gerade nicht, wo es für mich besser als hier wäre. Ich suche ja auch gar nicht. Man muss auch einmal anerkennen, wenn man in einem Lebensbereich Ruhe gefunden hat, gerade so ein unruhiger Geist wie ich. Ich könnte haarklein erklären, warum welcher Berliner Bezirk nicht der richtige für mich wäre, aber das wäre ganz schön viel Arbeit. Wenn auch vielleicht interessant. Warum zum Beispiel Friedrichshain für mich nicht ein Herzenswunschbezirk wäre, bräuchte ich holterdipolter eine neue Bleibe. Auch nicht Kreuzberg. Auch nicht das südliche Wilmersdorf. Im Westen mochte ich Schöneberg, da habe ich auch viele Jahre gelebt. Und die Ecke von Charlottenburg um den Savignyplatz. Und natürlich die Kudamm-Querstraßen.

Besonders die Fasanenstraße, und ganz besonders Richtung Literaturcafé. Lustigerweise hat Asta Nielsen ihre langjährigste Berliner Wohnung in der Fasanenstraße 69 gehabt. Heute ist da eine Pension, die Pension Funk. Dass ich aber vor dreizehn Jahren hier in Mitte und nicht in der alten West-City heimischer als je zuvor irgendwo sonst geworden bin, hat sich ergeben, weil mir das südliche Wilmersdorf, wo ich vorher lebte, zu ruhig war, zu verstaubt, zu reglos. Es war ruhig, aber ich war unruhig. Heute ist es umgedreht. Ich wohne in einem angenehm unruhigen Bezirk und das macht micht zutiefst ruhig. Das war die Verheißung. Die Elektrizität und die Aufbruchstimmung zog mich an. Ich lernte bald, dass manche Straßen nicht nur Wege sind, um die Einkäufe zu transportieren, sondern kleine Bühnen, für elektrisches Leben. Ja durchaus "Sehen und Gesehen werden". Ich wollte das gerne haben. Sehr gerne. Wir wollen alle gesehen werden. Das Beste in uns soll wahrgenommen werden. Jeder wünscht sich das. In der Nähe vom Südwestkorso, fast schon Steglitz, hatte ich eine Zweizimmerwohnung, die alle Wunschvorstellungen von ruheliebenden Rentnerinnen erfüllt hat. Deswegen lebten auch so viele so gerne und lange dort. Die vielzitierten Wilmersdorfer Witwen. Ich hatte Ende der Neunziger dort das Gefühl, ich könnte ebensogut in irgendeiner mausetoten Kleinstadt sein, dort am Ludwig-Barnay-Platz. Lange her. Zum Glück. So lange wie jetzt hier habe ich in noch keiner meiner Berliner Wohnungen gelebt.

Zuerst hatte ich Mitte der Achtziger ein Intermezzo in einer unausgebauten Fabriketage in der Prinzessinnenstraße 1 - 2 in Kreuzberg. Sechs oder acht Wochen, dann flog ich raus, mit dem Schauspieler, der die Miete, die ich ihm dafür gab, nicht an Becker und Kries (eine sehr bekannte Berliner Hausverwaltung) weitergegeben hatte. Dann wieder übergangsweise ein paar Wochen zurück zu meiner ersten Adresse in Berlin, in die Argentinische Allee in Zehlendorf, zu einer Freundin, einer Kunststudentin, bei der ich auf dem Teppich im Wohnzimmer übernachtete. Zum Glück fand ich in Schöneberg eine Wohnung, in der Leberstraße 54, schräg gegenüber von Marlene Dietrichs Geburtshaus, in dem sie auch ihre Kindheit verbrachte. Zu ihrer Zeit hieß die Straße Sedanstraße. Ich glaube, es gibt dort inzwischen auch eine Gedenktafel. Als ich dort lebte aber noch nicht, da war sie ja auch noch nicht tot. Gedenktafeln werden ja leider meistens erst angeschraubt, wenn der ehrenwerte Mensch es nicht mehr selber sehen kann. Ja und dann eben in jene sehr ruhige Wohnung in Wilmersdorf, die eine Verbesserung war, weil ich mir inniglich einen Platz an der Sonne wünschte, einen Balkon mit tagsüber Sonne, nicht nur am Morgen. Der Balkon war dann so Richtung Südost. In der Wohnung war es schon auch ganz schön. Das Schlafzimmer war riesig, genauso groß wie das Wohnzimmer.

Eine sehr geräumige Küche. Ein Bad mit Fenster und Badewanne. Und Zentralheizung. Endlich keine Ofenheizung mehr! Ich habe drei Kreuze gemacht. Und dann, nach sieben Jahren meine kleine Rebellion, weil ich plötzlich so viele neue, interessante und auch jüngere Menschen um mich hatte, die ihren Lebensmittelpunkt in Mitte hatten, wo sie lebten und selbstbestimmt arbeiteten. Diese Energie zog mich magnetisch an. Aber so schön wie die Straßen heute hier sind, waren sie damals nicht. Ich freue mich über jede gelungene Sanierung der alten Häuser. Das wird hier außerordentlich behutsam gemacht. Sehr feinfühlig. Das einzige, was ich nicht auf Dauer hier beibehalten würde, sind bestimmte Straßenzüge in der Linien- und in der Joachimstraße mit den wirklich nicht sehr gelungenen Lückenbüßern aus der versunkenen Deutschen Demokratischen Republik. Es gibt auch unendlich viele mißratene West-Plattenbauten, dass wir uns nicht falsch verstehen. Vielleicht gibt es ja auch irgendwo attraktivere Varianten von Plattenbau, als hier in der Joachim- und in der Linienstraße, wie auch immer. Die hier können ruhig mal langsam platt gemacht werden. Die Mauern haben eine substanziell unzuträgliche Ausstrahlung. Das liegt auch an den Baustoffen, nicht nur an der Optik. Irgendeine sehr junge Galerie hat sich vor vier Jahren mal für ein paar Wochen in der Torstraße in einer Plattenbauwohnung eingemietet. Ich war dort bei der Eröffnung. Es war wie im Bunker. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich raus. Nicht weil die Leute unangenehm gewesen wären oder das Zeug an den Wänden so schlecht. Ich hatte so ein Gefühl von Atemnot, als ob geballte Schadstoffe aus dem abgeschmirgelten Plattenmauerwerk dringen, direkt in meine Atemwege. Das war ein einschneidendes Erlebnis.



Ich höre mal auf mit meiner Gute-Nacht-Geschichte. Für heute ist alles erzählt. Um etwas Gutes zum Schluss zu schreiben: hier in Mitte ist nichts schlechter geworden. Hier sind noch genug Künstler und Lebenskünstler unterwegs, jede Ecke ist davon durchdrungen. Man muß sich keine Sorgen um die Hamburger Straße und den ganzen schönen Bezirk machen. Ich passe auf.

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Christoph M. und? Gaga...
26.04.24, 01:13
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:-)
26.04.24, 01:02
NeonWilderness
Yay, es muss auf den...
25.04.24, 23:49
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Isabel Bogdan Aber...
24.04.24, 21:55
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Hier entpuppte sich...
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