26. mai 2006

zwiespalt.
s-bahn. straßenmusikant betritt den wagen. einer, den ich schon mal aus dem augenwinkel gesehen, aber noch nicht gehört habe. was schon was heißen will, wenn man häufig ein- und dieselbe strecke fährt. langhaarig, irgendwieblond. er kündigt mit englischem akzent auf deutsch an, dass er jetzt ein lied spielen wird. sympathischer, unaufgeregter gesichtsausdruck. markantes gesicht. verwaschene, leicht abgerissene klamotten. sieht aus wie ende dreißig. er fängt an. die ersten akkorde erinnern zwar angenehm aber doch wenig originell an eagle eye cherrys save tonight. es ist allerdings ein anderes lied. vermutlich von ihm selbst. ich höre einen moment auf zu lesen und warte auf den gesang. er fängt an. unspektakuläre, verwechselbare stimme. leicht quäkend. langweilige tonlage. er singt nicht falsch, leiert seine reime im passenden rhythmus. die rhythmische gitarre ist im vordergrund. er hat ein gutes rhythmusgefühl. ich überlege zum ersten mal seit langem überhaupt wieder, ob ich einem s-bahn-musikanten geld gebe. überlege. überlege. sein gesang ist derart uninteressant, dass ich denke, wenn er geld dafür kriegt, wiegt er sich in der vorstellung, mir hätte die darbietung rundherum gefallen und er sollte in der kombination weitermachen. vielleicht sollte er ja. was weiß ich.

während ich noch überlege, schlurft er mit aufgehaltener hand vorbei und ich gebe ihm nichts. er ist mir sympathisch und klampft ganz nett, aber ich will ihn nicht als musiker entlohnen. es beschäftigt mich noch. bis jetzt. welche macht man ausübt, in dem man jemanden materiell für eine bestimmte darbietung unterstützt - oder eben nicht. vielleicht hätte ich ihm eher geld gegeben, wenn er nur die hand aufgehalten hätte. aus sympathie. weil er versucht, sich am rande einer kon- ventionellen existenz durchzuschlagen. und weil abenteuerlust in seinen augen funkelt. und weil man mut braucht, um sich mit einem selbstgemachten lied vor einer meute zu präsentieren. jetzt denke ich darüber nach, wie ich eigentlich ticke. er hat übrigens weit mehr geld von fahrgästen bekommen, als die meisten anderen, die sich sonst abmühen. es war besser, es war trotz der leicht abgekupferten melodie origineller, als das was sonst geboten wird. aber es war - nichts besonderes. ich bin manchmal schon ganz schön hart.
saoirse - 26. Mai, 19:48

habe ich heute irgendwie den tag der straßenmusik verpasst? alle bloggen nur darüber. na gut. geh ich halt zum lehrter bahnhof, bisschen straßenmusik mit lichteffekten hören, wa?!

g a g a - 26. Mai, 19:50

dank deines links lese ich sehr überrascht diesen beitrag. insgesamt liegt ein jahrelanger leidensweg hinter mir, was musikalisch gemeinte s-bahn-darbietungen angeht. ich tue es nicht gerne, aber gerade in letzter zeit halte ich mir manchmal die ohren zu. da geschehen ganz furchtbare dinge. ich möchte eigentlich gar nicht darüber sprechen.
Bolle Lehmann - 26. Mai, 20:08

Andersrum

Hier hast du einen Euro, aber hör bitte auf zu singen.

Durch das ganze superstargehabe im Fernsehen sind die ansprüche ganz schön hochgeschraubt.

g a g a - 26. Mai, 20:11

wessen ansprüche? doch nicht etwa die des publikums? ich habe eher den eindruck, dass seit diesen seltsamen sendeformaten jede/r zweite der nicht taubstumm geboren ist, meint die welt mit stimm- banddarbietungen beglücken zu müssen. singen ist ja auch was feines. bloß leider nicht in jedem fall außerhalb der eigenen vier wände zu gehör gebracht. ich will ja niemandem verbieten, es zu versuchen oder als 'hobby' zu betreiben. man will ja auch niemanden verletzen.
isabo - 26. Mai, 20:42

Mir geht es manchmal umgekehrt.
Auf dem Heidelberger Bismarckplatz saß eine Zeitlang ein Obdachloser mit einer C-Blockflöte, auf der er grausam falsch deutsche Volkslieder flötete, immer abwechselnd, eine Strophe geflötet, eine Strophe gesungen. Sein Gesang war noch schrecklicher als sein Flötenspiel, beides allerdings sehr leise, verschüchtert. Ich habe ihm immer etwas gegeben, weil es mich so gerührt hat, mit was für einer Verzweiflung da einer versucht, seine Würde zu wahren, indem er wenigstens irgendetwas tut für das Geld, um das er die Leute bittet.

BlueScreen - 26. Mai, 20:54

Danke Frau Isabo.
Genau so denke ich auch. Unterstützt die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht weiter wissen und doch ihr Letztes geben.
g a g a - 26. Mai, 21:11

ich bin an sich sehr leicht anzurühren. das von isabo beschriebene beispiel treibt einem ja schon aus zweiter hand rührung in die augen - mein musikant da oben wirkte aber keineswegs mental bedürftig. sehr selbstbewusst, autonom. das macht für mich schon einen unterschied. vielleicht auch, ob jemand ein 'was-ich-hier-gerade- mache-ist-ja-sowas-von-klasse'-ego vor sich herschiebt. das was ich immer so gern und für viele möglicherweise nervtötend und nicht nachvollziehbar als demut bezeichne, ist bei denen, denen ich nichts gebe, leider nicht vorhanden. manche tingeln durch die s-bahn und wollen auch nicht mehr, als irgendwie durchkommen. der da oben war eine andere kategorie. 'das 'letzte geben' ist an sich schon fast zwangsläufig künstlerischer ausdruck., gepaart mit verzweiflung. leider selten. sehr. 'das letzte (hemd... herzblut...)' ist so weit von mittelmaß entfernt wie überhaupt nur möglich. insofern werfe ich dem schrägen flötenspieler von herzen gerne einen schein in den hut. die letzten dinge. kunst tut gut oder tut weh. berührt eine wunde oder einen anderen sinnlichen punkt. was mich wirklich kalt lässt, ist das mittelmaß der unverwundeten.
isabo - 26. Mai, 21:24

Oh, es sollte durchaus keine Gegenrede sein. Nur ein Beispiel dafür, dass nicht unbedingt die Qualität der Musik den Ausschlag geben muss, ob man etwas gibt oder nicht.
Ich empfinde Musikanten in der Bahn manchmal als ein bisschen aufdringlich, man hat gar nicht die Möglichkeit, sie zu ignorieren und einfach weiterzugehen, und dann kommen sie auch noch direkt zu einem und halten die Hand auf.

Was die Ausstrahlung doch ausmacht. Mitleid mit dem einen, Gereiztheit beim nächsten, Bewunderung, Abscheu, Sympathie und alles, was dazwischen liegt. Big News.
Desideria - 26. Mai, 21:03

Endlich sehe ich (ein), dass "sympathy" tatsächlich 2 Bedeutungen hat...

g a g a - 26. Mai, 21:29

ja. big news:-) dennoch. es gibt eben die dinge dazwischen. wo die eigene schublade plötzlich ein bißchen klemmt. aber da wird es dann wieder interessant. über die eigenen werte nachzudenken. sich mal wieder selber ein bißchen verurteilen. zwischen erkenntnis und verwirrung torkeln. mache ich manchmal ganz gerne. und eigentlich zu selten.
BlueScreen - 26. Mai, 21:43

Ok, diese eigentlich unbedürftige Spezies habe ich ausser Acht gelassen.
Hier gibt es auch Typen, die bestens gekleidet und gesund durch die Fussgängerzone gehen und jeden mit einem freundlichen Lächeln ansprechen mit "Haben Sie einen €uro übrig?".
Das sind für mich Schmarotzer.
Ihr Satz: "er hat ein gutes rhythmusgefühl. ich überlege zum ersten mal seit langem überhaupt wieder, ob ich einem s-bahn-musikanten geld gebe." gab mir zu denken.
g a g a - 26. Mai, 21:57

@ bluescreen: man muß dazu vielleicht wissen, dass es in berlin auf bestimmten strecken zu bestimmten zeiten kaum eine s-bahn ohne solche darbietungen gibt. das stumpft häufige fahrgäste wie mich dann auch schon mal ab. stellen sie sich vor, sie hören über jahre (mindestens) ein- bis zwei mal pro woche dasselbe (hier: missgünstiges adjektiv) lied von demselben - hier lieber kein adjektiv - 'duo'. by the way: das sind tendenziell keine obdachlosen. allerdings: welchem fahrgast wollte man schon bedürftigkeit per se absprechen. man bemüht sich. aber mühe allein genügt nicht. ich glaube, dass regelmäßige berliner s-bahn-fahrer/innen schon verstehen, was ich meine. körperverletzung. nötigung. verletzung meines persönlichen bereichs. selbst durch ohrenzuhalten lassen sich solche schallwellen nicht vollständig ausschalten. wenn das nur einmal im jahr, mit weniger penetranter lautstärke und mit größerem varianten-reichtum im angebot wäre, würde ich das mit sicherheit entspannter empfinden. kann man natürlich sagen: selber schuld. was laufe ich auch ohne kopfhörer und ohrenstöpsel durch die gegend. die ist schon gar nicht so blöd, die jugend. verschroben wie ich bin, habe ich auf längeren wegen von a nach b den altbackenen wunsch, in einem buch zu lesen oder einfach nur in ruhe gelassen zu werden.

vielleicht bin ich so unerbittlich, weil ich die grundsätzliche bereitschaft habe, die musizierenden als künstler ernst nehmen zu wollen und sie deshalb in ihrem eigentlichen ansinnen 'professionell' auf mich wirken lasse, anstatt sie vordergründig als almosenempfänger, bittsteller und arme würstchen zu verklappen. wenn ich den hinweis auf die abgerissene kleidung weggelassen hätte, hätte die beschreibung vielleicht keinen irreführenden beigeschmack bekommen. abgerissen kann auch ein stilistisches merkmal sein. in seinem fall eine frage des stils. kid rock-style
40something - 26. Mai, 21:23

Ich find's schon einen Unterschied, ob jemand als Musiker gut ist (wie etliche fantastische Russen, die mit ihrer Violine in zugigen U-Bahn-Schächten stehen) oder auch nur sich Mühe gibt, oder ob jemand glaubt, ein Instrument in der Hand zu halten und was hinzurotzen berechtige ihn zum Einsammeln von Ojro. Ärgerlicherweise nehmen letztere deutlich zu.

g a g a - 26. Mai, 21:33

die russen scheinen insgesamt einen höheren anspruch an musikalische virtuosität zu haben. es gibt einen, der spielt immer dieselben zwei lieder (was ja die meisten tun - immer dieselben zwei lieder...) und ich bin jedesmal gefangen. ist was russisches. das gibt es auch, selten aber: plötzlich sitzt man nicht mehr in einem schnöden transportmittel sondern in einem film. aus irgendeiner zeit, an die man sich zu erinnern glaubt. und alles ist gut. für einen moment.
BlueScreen - 26. Mai, 22:54

Ok, ich glaube nun, dass Sie wissen, was Sie tun... :)
kerstin13 - 27. Mai, 16:19

ich kenne das sehr gut, dass mich manche begebenheiten lange beschäftigen. weil sie mich anregen, nachzudenken und nachzuspüren. beim ersten lesen dachte ich, ob du es wohl bereust, ihm kein geld gegeben zu haben.
doch das glaube ich nicht, denn für den moment war es stimmig. die differenzierten gedanken kamen erst im nachhinein. wie wunderbar wäre es doch, manchmal eine pfeilschnelle klarheit zu haben, die einen intuitiv "richtig" reagieren liesse.

g a g a - 27. Mai, 19:16

im zwiespalt, halt. durch die unausgesetzte und ungefragte behelligung mit klangdarbietungen habe ich mir schon eine art filter zugelegt, der wie eine scheuklappe wirkt. er kann ja irgendwie auch nix dafür, dass er keine stimme hat, die mir gänsehaut verursacht. aber wer hat die schon. das nächste mal...

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