25. Juli 2022

Unrepräsentativer, polizeiprotokollartiger Tagebucheintrag vom 23. Mai 1981 in gekünstelt ordentlich leserlicher Schulkind-Handschrift, könnte auch die Beschreibung eines Tathergangs aus der damals beliebten ZDF-Kriminalsendung "Aktenzeichen XY ungelöst" sein:

"23.05.'81

Am Freitag, dem 22. Mai Neunzehnhunderteinundachtzig, einem regnerischen Frühlingsabend entschloß sich Gabriele Anna-Johanna* mit oder ohne Antje-Kirsten B.** wegzugehen. Nürnberg sollte ihr Ziel sein. Sie ging allein. Das städtische Kommunikationszentrum war die erste Stätte, in die es die Fünfzehnjährige zog. In jenem bevorzugte sie das Teehaus mit dem exotisch klingenden Namen "Chaihaus e. V."

Kommunikationszentrum
Königstr. 93
8500 Nürnberg
Tel. 0911/223647




Zur selben Zeit hatten sich ca. 300 Jugendliche im Festsaal eingefunden, um am dort stattfindenden 2(?)-tägigen Kabarettfest teilzunehmen. Ihr war der Preis von sieben Mark zu teuer und das Angebot zu wenig reizvoll. So rauchte sie zwei Zigaretten (Godewind/Old Holborne), wurde von Peter (Fotograf, 25, Schönling, xxx (unleserlich)) im Haar gekrault, gegrüßt. Fand sich schleimig berührt. Strich den ausgeschriebenen Marshall-Amp aus*** (U. Neumann), was Verwunderung erregte - ständig auf der Suche nach ihrem Trugbild**** - entschloß sie sich in die Kneipe Misthaufen zu fahren, nicht ohne in dem im Bahnhof eingerichteten Michel-Tabakwaren-Laden ein Päckchen der irischen Zigarettenmarke "Sweet Afton" zu vier Mark erstanden zu haben. Sie schritt zu U-Bahn, Richtung Bärenschanze, stieg ein, ohne die gültige Fahrkarte gestempelt zu haben, sie fuhr, wie es im Volksmund genannt wird, schwarz. Als ihr langsam bewußt wurde, was sie soeben tat, beschlich sie ein leises Gefühl von Selbstzufriedenheit und Vorfreude. Angekommen Endstation Bärenschanze, es regnete noch

[ hier Seitenumbruch, am oberen Seitenrand in großformatigen Druckbuchstaben in Klammern: (oh nein, ich übertreibe nie!) ]

immer, steckte sie sich eine Zigarette an und schlang sich ein indisches, schwarz-weinrot-beige gemustertes Baumwolltuch von Jordan***** um das schulterlange dunkelblond-kupferfarbene Haar, und ging die Fürther Straße, wo sie einige Passanten nach dem Weg zur Seeleinsbühlstraße fragte, entlang. Sie wußte jetzt, wo sie hinmußte und rauchte unterwegs noch bis zu vier Zigaretten. Manchmal, wenn sie sich mit der fast zu Ende gerauchten eine nächste anzündete, fiel etwas Asche auf den dunkelblauen großen Baumwollpullover (Fruit oft he Loom), die man auch "Sweat-Shirts" nannte, aber auch die in derselben Farbe gehaltene Feincordhose (Texwood) in Röhrenform blieb nicht verschont. Darunter trug sie eine weite, an Rücken und Schulterpartie geraffte Bluse (Orsay), die in einem warmen Kupferton gehalten war. Obwohl das Wasser in ihre weiß-roten Leder-Turnschuhe (Puma) einzutreten drohte, war sie zufrieden. Sie fühlte sich so, wie die Bezeichnung ihrer Schuhe war: "Winner"."

Fußnoten:

*amtliche Vornamen
**meine damalige beste Freundin
***vermutliches Verkaufsangebot an einem schwarzen Brett
****"Trugbild": ein in unserer Freundinnenclique verklausulierter Begriff für einen Angeschmachteten, wobei man davon ausging, dass man in seiner Erotisierung superlative Eigenschaften dazuphantasierte, die höchstwahrscheinlich nicht vorhanden waren.
*****"Jordan": Name der seit den Siebzigern angesagtesten Nürnberger Hippie-Boutique mit indischen Kleidern, Tüchern und Accessoires


Abgetippter Eintrag mit Bleistiftzeichnung aus meinem Tagebuch vom 23. Mai 1981. Bin überrascht, wieviel Aufmerksamkeit ich Zigaretten gewidmet habe. Damals scheine ich ernsthafte Ambitionen gehabt zu haben, Raucherin zu werden, und muss es offenbar auch täglich intensiv praktiziert haben. Die Zeichnung zeigt den Haupteingang vom KOMM in der Königstraße 93, gegenüber vom großen runden Turm zwischen Frauentor und vom Königstor, wo auch der Handwerkerhof ist. Ich habe ein paar historische Fotos des damaligen Eingangs zusammenrecherchiert, die meiner Zeichnung entsprechen.





Diesen merkwürdigen Eintrag mit Zeitkolorit verdanken wir meiner Erinnerung, dass ich die Front, die Kopfseite mit dem Eingang des in Nürnberg damals legendären KOMMs gezeichnet habe. Es spielte schon eine große Rolle in meiner Jugend. Dort traf man sich im erwähnten Chai-Haus, der Teestube unterm Dach, wo Räucherstäbchen abgefackelt wurden und gekifft wurde. Ein schummriges Ambiente mit indischen Tüchern an den Wänden und Matratzen auf dem Boden. Dann war der Kommfestsaal noch wichtig, wo größere Konzerte stattfanden. Dort habe ich zum Beispiel Ton Steine Scherben in den Achtzigern erlebt, Rio trug nur einen beigen Trenchcoat auf dem nackten Oberkörper. Wahrscheinlich hatte er eine Jeans oder eine Lederhose an.

Auch eine Kneipe und eine Disco gab es, Filmvorführungen, Zusammenkünfte, Ausstellungen, Diskussionen. Das KOMM war unersetzlich, The Place to Be für alle, die cool und links und alternativ und rebellisch und widerspenstig waren. Da wollte ich dazu gehören.

Der Eintrag vom Mai 1981 entstand gut zwei Monate nach den Massenverhaftungen, ein Ereignis, das es bis in die Tagesschau schaffte. Hausbesetzer-Sympathisanten, die einen Hausbesetzer-Doku im Komm schauten, wurden massenhaft verhaftet. Einfach so. Gibt einen extra Wikipedia-Eintrag dazu:

"Als Massenverhaftung von Nürnberg wird die Verhaftung von 141 Personen am 5. März 1981 im Nürnberger Kulturzentrum KOMM durch die Bayerische Polizei bezeichnet."

Danach war man noch solidarischer mit dem KOMM als sowieso schon. Und was wurde daraus, aus dem KOMM? Später hieß es K4, jetzt heißt es Künstlerhaus, es gibt immer noch viele alternative künstlerische Initiativen, auch Gastronomie. Ist ja alles prima. Die Stadt nimmt seit 20 Jahren Geld in die Hand, um das im Krieg teilweise stark beschädigte, riesige Künstlerhaus von 1910 zu renovieren und instandzusetzen und ist nun beim dritten Bauabschnitt, dem hinteren Teil. In diesem Artikel wird die Geschichte des Hauses erzählt. Bei meiner Recherche habe ich auch eine Postkarte mit der ganz ursprünglichen, intakten Fassade entdeckt. Wo diese runden Schwingen übriggeblieben waren und eine Litfaßsäule stand, waren früher zwei runde Türmchen.



Leider gibt es bei diesen Bemühungen einen visuellen Wermutstropfen. Die ursprüngliche historische Fassade an der Kopfseite wurde nicht wiederhergestellt, sondern in brachialster Weise eine Stahl-und Glaskonstruktion, ein phantasieloser, kalter Würfel davor geklatscht, der in keinem einzigen Aspekt mit der ursprünglichen Fassade korrespondiert. Als ich das am 30. Juni zum erstem mal sah, sank mir das Herz. Das war ein trauriger Moment. Ich stand fassungslos davor. Ich konnte mich nicht überwinden, den gesamten Stahl- und Glasklotz, der mir wie eine seelenlose Ohrfeige vorkommt, zu fotografieren. Ich fokussierte links daran vorbei, wo mich die Erinnerung nostalgisch einzuholen vermochte, da wo Filmhaus dransteht. Diesen Seiten-Eingang haben wir damals auch oft benutzt. Wir kannten jeden Winkel und jedes Schlupfloch.

Ich fragte eine Gruppe jüngerer Männer, die in der Nähe stand, seit wann das dort stünde. Sie antworteten: "schon ewig, wir kennen es gar nicht anders." Tja. Ich war eben sehr lange nicht da. Meine Recherchen haben ergeben, dass die Bauzeit von 2000 - 2002 gewesen sein muss. Also schon zwanzig Jahre her. Da waren die Jungs noch kleine Kinder. Ich war einfach perplex. Da es nun schon eine längere Weile dasteht, gibt es vielleicht irgendwann eine neue Ära, wo man einen Abriss und Rückbau andenken kann.

Auf der Seite "baukunst nürnberg" fand ich folgenden Vermerk dazu:

"Königstraße 93, 1998-2001, Architekturbüro Grabow + Hofmann, Nürnberg. Der Neubau eines Eingangstrakts am Künstlerhaus von 1911 hat die Gemüter der Bevölkerung erregt. Vor das historistische Gebäude wurde ein Beton-Glaskubus gesetzt. Die Sensibilität des Vorhabens ergibt sich aus seiner prominenten Lage am Eingang der Altstadt gegenüber dem Hauptbahnhof und der unmittelbaren Nähe zu Baudenkmälern wie dem Königstorturm. Die Anforderung, daß ein Bauwerk in seine Umgebung passen muss, versuchte man hier durch das kompromisslose Konfrontieren von Gegensätzen zu erfüllen."

Kompromissloses Konfrontieren von Gegensätzen ist eine geradezu obszöne Beschönigung. Hier wurde die ursprüngliche ach so "gegensätzliche" historische Fassade erstickt und ausradiert. Der Glas- und Stahlklotz ist nicht einmal innovativ oder extravagant, ich erkenne keinerlei künstlerische Qualität. X-beliebig, vor jede historische Fassade zu stellen und immer wäre man bestürzt. Auch ein Glaskubus kann grandios sein, für sich, frei positioniert, im Austausch mit dem Licht der Umgebung. Aber das.







Damals saßen immer mehrere Jugendliche auf den Eingangsstufen oder im Schneidersitz davor, auch die ersten Punks. Es hatte etwas Vereinnahmendes. Ein eigener Palast für die wilde, unangepasste Jugend. Wir waren stolz darauf, dass wir das selbstverwaltete KOMM hatten. Wer mitarbeitete, hatte Lust. Dort gab es niemanden, der sich wie ein Aufpasser oder Erziehungsberechtigter verhielt, ein wahrer Traum von Freiheit.



Als ich mich wehmütig umdrehte, sah ich diese beiden Gesellen zu Füßen des Turms sitzen, sie erinnerten mich an damals, weil sie genau der Klientel entsprachen, die damals vor dem Eingang saß. Und nun wählten sie den Fuß des großen dicken Turmes, um den Tag dort gut gelaunt zu vergammeln. Der Eine war zu jung, um das Komm noch zu kennen, der andere erinnerte sich vielleicht. Ich fragte nicht nach, sondern nur, ob ich sie fotografieren dürfte - und wie man sieht, sie waren nicht verlegen zu posieren. Ganz früher hätte man von Tagedieben gesprochen, in den Sechzigern und Siebzigern und auch noch in den Achtzigern von Gammlern. Wie man das heute nennt oder schimpft, weiß ich gar nicht. Ist mir eigentlich auch egal. Ich wollte sie nicht näher kennenlernen, sondern das Echo meiner Jugenderinnerung einfangen. Schöner Moment, dieser letzte meines Streifzugs durch die Königstraße.







g a g a - 26. Jul, 12:13

Elvira V.
Ich war um 1998 da, teile also dein Nichtwissen, was den Neubau angeht.

Ina Weisse
Mal wieder ein großartiger und ergreifender Bericht, den ich regelrecht verschlungen habe.

g a g a - 31. Jul, 11:20

schneck
31. Juli 2022 um 1:21
Habe in den frühen Neunzigern ebenda im KOMM Herman Brood im Konzert miterlebt. Hatte die beiden Kollegen/Kolleginnen dazu eingeladen. Ich weiss gar nicht, ob sie sich überhaupt noch daran erinnern. Jedenfalls, tagsüber bearbeiteten wir gleichzeitig die monumentale Wandmalerei des Hl. Christophorus aus dem 15.Jh.in St. Sebaldus, welche seinerzeit eine Vielzahl von den Putzträger überaus beeinträchtigenden und bedrohenden Hohlstellen aufwies. Diese/solche stets zeitübergreifenden Erlebnisse im Querschluss gefallen mir bis heute.zudem mag ich den Hl. Christophorus.

Gaga Nielsen
31. Juli 2022 um 11:02
Wo genau ist denn die Wandmalerei? Es gibt wohl auch eine Christophorus-Figur, aber das Bild habe ich noch nicht gefunden, hab da gesucht: https://sebalduskirche.de/christophorus – ich finde solche zeitübergreifenden Querschlüsse auch schön, aufregend irgendwie!

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Ina Weisse Wusstest...
17.04.24, 13:33
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17.04.24, 00:21
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Ina Weisse Oh das...
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