21. Juli 2016



Ich liebe dieses Bild von Wolfram Adalbert Scheffler. Gesehen, geliebt. Geht so schnell wie mit Menschen. Gesehen, geliebt. Na gut, manchmal auch erst auf den zweiten Blick, wenn man genau hinsieht, hinsehen kann, nichts den Blick verstellt. Interessant, wie kleine Details die Empfindung sofort umkehren können. In der S-Bahn vor einigen Tagen wieder bemerkt. Ein Mann, vielleicht Mitte, Ende Dreißig, durchschnittlich groß, nicht klein, schlank, stand halb angelehnt, las ein Buch, mit geneigtem Kopf. In dem Winkel wirkte er ganz attraktiv, ich sah durch die Neigung mehr vom oberen Teil des Kopfes, die Stirn, die Nase. Da ich selbst stand, ich bin ja ziemlich groß, war mein Blickwinkel etwa auf Augenhöhe mit dem Mann. Sein Blick war gesenkt. Als die S-Bahn hielt, seine Station gekommen war, kam er in Bewegung, packte das Buch in die Tasche und hob den Kopf, ich sah das ganze Gesicht. Die Augen und die Mund- und Kinnpartie. Ich war innerhalb des Bruchteils einer Sekunde sofort desinteressiert. Der Blick drückte keinerlei Scharfsinn aus, eine völlig humorlose Ausstrahlung, der Mund leicht verkniffen, schmal, beinah geizig, nichts war aus dieser Perspektive mehr anziehend. Es fiel mir in diesem Moment wieder so deutlich ins Bewusstsein wie selten, wie Gesichtszüge, Blick und Ausstrahlung in der Summe in kürzester Zeit zu dem Urteil führen, dass einem jemand interessant oder uninteressant erscheint. Keine neue Erkenntnis, ich weiß. Aber dieser Moment war dennoch interessant, weil mein eingeschränkter Blickwinkel zunächst zu einer anderen Einschätzung kam. Kann man metaphorisch weiterspinnen, die Sache mit dem eingeschränkten Blickwinkel. Dass man mitunter vielleicht auch einen sehr attraktiven Eindruck von sämtlichen äußerlichen Parametern hat, Dank eines umfassenden Betrachtungswinkels. Aber man sieht immer noch nicht, was in einem Menschen vorgeht, man kann nur eine Ahnung bekommen, in einem Moment. Wenn jemand möchte, dass Bereiche unsichtbar bleiben, ist das leicht hinzubekommen, leichter, als etwas Äußeres zu verbergen. Ich denke, dass jeder Dinge verbirgt, auch vor den Menschen, die einem näher oder sogar sehr nahe stehen. Auch ich. Es gibt Dinge, die sind zu filigran, um sie zu äußern, man gibt den Dingen damit auch mehr Gewicht, als man in der Welt haben möchte. Nur einer von vielen Gründen, die es dafür geben kann. Oder man möchte etwas schützen. Möchte etwas nicht diskutieren und bewahrt deshalb Stillschweigen. Ich verurteile das nicht. Die Sache mit der absoluten Wahrheit existiert nur als nobles Dogma. Es gibt viele Wahrheiten. Was als offene Struktur, materialisiert, manifestiert sichtbar ist, zu Tage tritt, kann zwar als solche als "real", "wirklich", definiert werden, dennoch kann es darüberhinaus ein Innenleben geben, das dieser äußerlich sichtbaren Struktur widerspricht. Ich gebe ein Beispiel. Ein altes Ehepaar in einem Restaurant, das nicht miteinander spricht, auf das bestellte Essen wartet, den Blick aus dem Fenster richtet, nicht sehr glücklich erscheint. Ein frisch verliebtes Paar am Nebentisch, das innigen Bickkontakt zueinander sucht, turtelt, sich an den Händen fasst, könnte denken, "hoffentlich werden wir nie so, das ist ja furchtbar, warum sind die überhaupt noch zusammen". Es könnte sein, dass das alte Ehepaar sich in Jahrzehnten schon alles in Wiederholung erzählt hat und zurückblickt, einfach nur sinniert und auch im Augenblick ist, nachdenklich vielleicht. Und es eine Bindung auf einer Ebene gibt, die sich nicht in Händchenhalten und unablässigem Reden ausdrückt. Das gibt es. Das ist nur ein Beispiel einer nicht sofort sichtbaren Ebene einer inneren Wahrheit. In dem Fall einer gemeinsamen inneren Wahrheit. Und es gibt individuelle innere Wahrheiten. Und so trägt jeder das Wissen um seine eigenen innersten Lebenswahrheiten in sich, in all ihrer Vielfalt, die nicht jeder andere, nicht jeder Außenstehende wissen muss, kann, soll. Das ist völlig normal und es gibt immer einen guten Grund dafür.

g a g a - 1. Aug, 00:41

fb ~ 21.07.16

Doro Horedt
(so einen text brauchte ich heute, vielen dank dafür!)
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Gaga Nielsen
(ich wohl auch, wollte geschrieben werden. Ich wusste nicht, als ich anfing, wovon er handeln würde. Aber so ist es immer)

Jan Sobottka
Gaga ... schöner Text. Unser aller Beobachterin des Alltags der Gefühle.

Gaga Nielsen
danke Jan. "Alltag der Gefühle"... hast du auch schön formuliert.

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