22. November 2014

(...)

“Was habe ich nach der Wende lernen müssen?”

1. Dass das Leben in Ostberlin nicht so materiell eingeschränkt war, wie man uns im Westen weismachen wollte. Intellektuell und kulturell ohnehin nicht. (“Es war nicht alles nur schlecht.”)

2. Dass Ostberlin die architektonisch spektakulärsten und geschichtsträchtigsten Bereiche des inneren Stadtgebietes
beinhaltet (Lustgarten, Museumsinsel, Opernpalais, Unter den Linden…), und dass es ein großes Geschenk ist, das nun kennen-lernen zu dürfen.

3. Demut und Neugier gegenüber der Kultur, die vorher so weit weg war und die man jetzt ganz nah hat, zum Glück. Zur Horizonterweiterung. Ich habe es immer genossen, mir von Ostberlinern etwas über ihr Leben vor der Wende erzählen zu lassen. Das hat meinen Horizont absolut erweitert.

4. Ich habe gelernt, dass wir in einem materiellen Überfluss leben, der einen auch überfordern kann. Szene in den Tagen nach Mauerfall im November 89 in einem Supermarkt in Berlin-Steglitz. Eine Ostberlinerin steht mit einem kleinen Kind an der Hand vorm Joghurt-Regal und weiß nicht, wo sie zuerst hinschauen soll. Sie sieht dabei nicht glücklich aus. Hunderttausend Sorten und Geschmacksrichtungen. Da muss man sich richtig durcharbeiten, am Anfang. Sie hat sich dann mit dem Kind umgedreht und gar nichts genommen. Da ist mir klar geworden, mit welcher Selbstverständlichkeit wir mit einem zum Teil unsinnigen Überangebot umgehen.

5. Neue Wörter. Interessante und manchmal passendere. “Fahrerlaubnis” statt “Führerschein”. “Zweiraumwohnung” statt “Zweizimmerwohunung”. Und dass Ostberliner anders und selbstverständlicher exzessiv (um nicht zu sagen lustvoll) berlinern als Westberliner. Besonders auffällig bei intellektuelleren, akademisch gebildeten Ostberlinern. Das hat auf mich immer sehr souverän und lässig gewirkt. Und das Wörtchen ‘urst’. (Sagt der Wiener auch) “Urstschön” (= superschön). Geht leider ein bißchen verloren, wie mir scheint. Lange nicht mehr gehört.

P.S. aber das allerschönste Wort, das ich gelernt habe, ist:

Völkerfreundschaft.


Kommentar vom 22.11.2014, 18:05

zuckerwattewolkenmond - 22. Nov, 20:52

Urst

doller Eintrag! (Ich habe das Wort ebenfalls schon lange nicht mehr gehört, war wohl mehr so eine Modeerscheinung.) Und auch sonst kann ich alles unterschreiben. Schön, daß es ehemalige Westberliner gibt, die das genauso sehen!

g a g a - 22. Nov, 21:03

Dankeschön. Vielleicht hab ich schon immer mehr Empathie empfunden, weil ich auch Familie in Ostberlin habe und schon von klein auf gelernt habe, dass man zusammenhalten und Respekt haben, und sich füreinander interessieren muss. Das war in meiner Kindheit, in den Siebziger Jahren, Päckchen nach Treptow schicken, mit Jacobs Kaffee, Milka-Schokolade und Nylonstrumpfhosen. Als Gegengeschenk haben wir dann schönen, handgeschnitzten Weihnachtsschmuck aus dem Erzgebirge bekommen. Und einmal so eine bunt angemalte russische Puppe. Über die hab ich mich sehr gefreut. Es war damals wie ein fernes Land. Ich habe zum diesjährigen Jubiläum nicht etwa deswegen nichts geschrieben, weil es mir wurscht wäre, sondern weil ich gerade mehr meine Wienreise verarbeite und schon zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls intensiv dabei war und auch 2011 zum Mauerbau-Gedenken innerlich sehr damit beschäftigt. Außerdem sind meine beiden Lebensmittelpunkte in der Ost- und in der Westcity. Ich verbringe fast gleich viel Zeit hier und dort. Und ebenso verbringe ich gleich viel Zeit mit gebürtigen Ost- wie Westberlinern. Ich habe wirklich viel gelernt. Dafür bin ich dankbar.
kaltmamsell - 23. Nov, 11:31

Improvisieren: Die Arbeitskolleginnen, die aus Ostdeutschland kamen, hielten sich nie lange mit der Suche nach der korrekten, vorgesehen Lösung auf (oder streckten gar die Waffen, wenn es die nicht gab), sondern sprühten vor lateral gedachten Ideen. Es gab nichts, was nicht ging.

g a g a - 23. Nov, 16:26

Kann ich bestätigen. Pragmatisch zupackend. Das kenne ich auch von Frauen aus dem Westen, aber eher von älteren, mit mehr Lebenserfahrung. Außerdem seit Generationen ein tief verankertes Selbstverständnis, durch Lohn-/Erwerbsarbeit für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Dieses Berufs-Modell der Generation meiner Mutter in Westdeutschland "Hausfrau und Mutter" war schlicht nicht bekannt, und hat verwunderte Blicke hervorgerufen, wenn man davon erzählt hat. Aber das wusste ich auch schon aus der allgemeinen Berichterstattung, es war also nicht so eine superneue Lernerfahrung. Man könnte noch unendlich viele Unterschiede aufzählen. Ich weiß jetzt zum Beispiel nicht mehr, ob mir der sehr viel ungeniertere Umgang von Frauen mit Nacktheit am Badesee und einer sehr selbstbewussten Sexualität, durch irgendwelche Reportagen angetragen wurde, oder ob ich das durch direkten Austausch mitbekommen habe. Sicher nicht durch einen gemeinsamen Besuch am Badesee in der FKK-Abteilung, da ich in dieser Hinsicht ziemlich schüchtern bin und mich gerne bedeckt halte. Und auch ein Thema: Schwangerschaftsabbruch, im Westen ein großer Aufwand, verbunden mit psychologischen Beratungsgesprächen und Indikationsanträgen. Im Osten dagegen, holten sich die Frauen einfach einen Termin, ohne es begründen zu müssen. Das wurde mir zumindest so vermittelt. Das allerdings in privaten Gesprächen mit Frauen, die das auch selbst erlebt hatten.

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